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1. EINLEITUNG

1.5 Begriffe und Definitionen

1.5.4 Kultur

Die Bezeichnung Kultur stammt von „cultura“ (lat.: Anbau, Pflege, Ausbildung, Verehrung):

„The word culture, in turn, goes back to classical or perhaps pre-classical Latin with the meaning of cultivation or nurture, as it still persists in terms like agriculture, horticulture, cult, cultus, and in recent formations like bee culture, oyster culture, pearl culture, bacillus cultures.“ (s. KROEBER/KLUCKHOHN 1952, S. 283)

Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurde „Kultur“ mit Begriffen wie „Entwicklung“ und

„Fortschritt“ in Verbindung gebracht. (vgl. SEITHEL 2000, S. 44 f.) Heute wird der Begriff insbesondere in Abgrenzung zu biologischen Vorgaben als derjenige Teil des menschlichen Lebens begriffen, der vom Menschen frei gestaltet werden kann. Eine andere Auffassung von Kultur zielt auf intellektuelle Reflexion des gesellschaftlichen Geschehens (Kunst, Theater, Literatur), aber auch „Szene-Kultur“.

Sämtliche Konzeptbeschreibungen von Kultur müssen den Gesichtspunkt der kulturellen Hermeneutik im Blick behalten (s.o.). Die Problematik, sich dem Konzept der Kultur zu nähern äußert sich nicht zuletzt in über 150 verschiedenen Definitionen von Kultur (vgl.

KROEBER/KLUCKHOHN 1952). Nach wie vor setzen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen (u. a. Ethnologie, Soziologie und Psychologie) mit der Diskussion um diesen Begriff

auseinander. KROEBER und KLUCKHOHN 1952 gaben einen der besten Überblicke von den Anfängen des Begriffs Kultur bis in die 50er Jahre. Sie arbeiteten intensiv zur

Entstehungsgeschichte des Begriffs und brachten ihn selbst immer wieder mit „Mustern“ und

„Strukturen“ in Verbindung, was auf eine deterministische Interpretation hinweist.

Kultur wird oft auch über seine Oppositionen näher eingegrenzt: Kultur – Natur, Kultur – Zivilisation, Kultur – Gesellschaft (vgl. BRUMLIK 1990, S. 185).

POSNER (1986, S. 240 ff.) liefert ebenfalls einen Abriss der Entstehungsgeschichte des Begriffs:

Schon CICERO bezeichnete die Philosophie als die „Kultivierung des Geistes“ (in Anlehnung an den Ackerbau): „Cultura animi philosophia est“. Dieses Bild griff HERDER Ende des 18.

Jahrhunderts wieder auf in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“; es wurde in dieser Form ein grundlegendes Konzept für sämtliche Teilwissenschaften, die sich mit

„Kultur“ beschäftigten. Analog zur Aufsplittung der Anthropologie in spezielle Teilbereiche variierte in der Folge auch der Kulturbegriff.11

MÜHLBERG (1983, S. 215) untersucht die Geschichte des Begriffs „Kultur“ in der Tradition der marxistisch-leninistischen Weltanschauung:

...„bezeichnet der Kulturbegriff das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaftsfortschritt und Entwicklung der Individuen vom Abschluss der Anthropogenese bis in die Gegenwart. In ihm ist zusammengefasst, dass die Weltgeschichte sich in verschiedene Stufen des Wechselverhältnisses von Gesellschaft und Individuen gliedert.“

GROH (1997, S. 21 ff.) gibt einen detaillierten Überblick über die andauernde Auseinandersetzung mit dem Begriff:

ASSMANN (1992) z. B. liefert einen informationstheoretischen Ansatz, das „kulturelle Gedächtnis“. Kollektives Wissen würde verloren gehen, wenn es nicht in Form von

„extrakorporal gespeicherten Informationen“ erhalten bliebe. Hiermit ist nichts anderes gemeint als Bauwerke, Literatur (auch mündlich tradierte), Dokumentationen, Artefakte etc... Über diese Symbole lassen sich Kulturen definieren. Die Semiotik12 betrachtet die kulturelle Interaktion insbesondere als einen Austausch von Zeichen. Kultur ist demnach im wesentlichen ein Akt der Kommunikation (vgl. ECO 1972, BARTHES 1985 und POSNER 1989).

11 POSNER (1989, S. 251) benennt detailliert die einzelnen Vertreter der symbolic, semantic, semiotic und cultural anthropology

POSNER (1991, S. 39) definiert Kultur im Sinne der Semiotik:

„Kulturen sind Zeichensysteme; sie erfordern von den Lebewesen die Fähigkeit zum Vollzug von Zeichenprozessen spezieller Art und bringen ihnen den Vorteil, dass sie bei der Bewältigung ihrer

Lebensprobleme zusätzlich zu der durch den genetischen Kode vererbten Information auf die Lebenserfahrung ihrer unmittelbaren Vorfahren und Zeitgenossen zurückgreifen können.“

Auch Konzepte aus der Mathematik wurden übernommen, um sich dem Kulturbegriff zu nähern:

BAUDRILLARD (1986) wandte die fraktale Geometrie auf gesellschaftliche Prozesse an. Einige theoretische Ansätze der Psychologie (FREUD 1913 und ELIAS 1969) würdigten „wilde“,

„primitive“ Kulturen herab und betrachteten sie als tiebgesteuert und minderwertig oder krank (neurotisch), sahen sie als Gegensatz zur Zivilisation.

GROH selbst hält „Kultur“ für nicht wirklich fassbar:

„Der Kulturbegriff entzieht sich der Definierbarkeit im herkömmlichen wissenschaftlichen Sinne. Will man dennoch über Kultur reden oder schreiben, so muss eine gewisse Unschärfe in Kauf genommen werden.“ (s.

GROH 1997, S. 94)

Er begründet dies mit dem Phänomen, das in Kap. 1.3.1 als „kulturelle Hermeneutik“

beschrieben wurde:

„Die Behandlung von Kultur im wissenschaftlichen Rahmen ist – verständlicherweise – geprägt von der Sichtweise derer, die diese Behandlung vornehmen. Diese Fokussierung ist insofern ‚eurozentrisch’, als die etablierte Wissenschaft eindeutig europäischen Ursprungs ist.“ (s. GROH 1997, S. 95)

Auf die Schwierigkeit, sich mit dem Kulturbegriff auseinander zu setzen, weist auch GEERTZ (1997, S. 53 f.) hin:

„Wie die meisten einflussreichen Ideen in den Humanwissenschaften wurde diese Vorstellung [von Kultur]

praktisch in demselben Augenblick attackiert, indem sie artikuliert wurde; je klarer die Artikulierung, desto intensiver die Attacke. Schon allein auf die Vorstellung von einem kulturellen Schema hagelte es Fragen, und sie hageln immer noch. Es gab Fragen im Hinblick auf die Kohärenz von Lebensweisen und das Ausmaß, in dem sie zusammenhängende Ganzheiten bildeten. [...] Es gab Fragen nach Kontinuität und Wandel, nach Objektivität und Beweis, Determinismus und Relativismus, Einzigartigkeit und Verallgemeinerung,

Beschreibung und Erklärung, Konsens und Konflikt, Andersheit und Vergleichbarkeit – und im Hinblick auf die schiere Möglichkeit, dass jemand, ob von innen oder von außen, etwas so Gewaltiges wie eine ganze

Lebensweise erfasst und die Worte ihrer Beschreibung findet.“

Auch POSNER (1991, S. 37) kommt zu einem ähnlichen Urteil:

12 Semiotik bedeutet: „Allgemeine Theorie bzw. Lehre von den sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen, innerhalb deren natürliche Sprachen nur ein Zeichensystem unter anderen (wissenschaftlichen, religiösen u. a.) darstellen.“ (s. BUSSMANN 1983, S. 460).

„Auch den Wissenschaftlern, die Kultur zu begreifen versuchen, zerrinnt diese leicht zwischen den Fingern.

Was sie in der Hand behalten, sind theoretische Konstrukte, die jeweils nur Teilaspekten von Kultur gerecht werden können. [...] Sie führen zu ganz unterschiedlichen Gegenstandskonstruktionen, Methoden und Theoriebildungen, die weitgehend unverbunden nebeneinander betrieben werden.“

POSNER (ebenda, S. 37 f.) teilt einzelne Teilbereiche der Kultur einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu: die Gesellschaft den Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie; die Zivilisation den Geisteswissenschaften, insbesondere Ethnologie, Kunst- und

Literaturwissenschaft und die Mentalität der Linguistik.

Der Versuch, das Konzept Kultur zu erfassen, ist dennoch ungebrochen. Eine sehr kondensierte Definition beschreibt Kultur als

„alles Materielle und Nichtmaterielle, was im menschlichen Dasein nicht von Natur aus vorgegeben ist, sondern von Menschen durch ,Innovationen’ zielgerichtet hinzugefügt wurde. Die Definition von Kultur ist

dementsprechend: ,Gesamtheit der Ergebnisse von Innovationen’“. (s. RUDOLPH 1988, S. 43)

LINTON (1974, S. 33) setzte sich ausführlich mit dem Begriff Kultur als zentralem Konzept in Psychologie, Soziologie und Anthropologie ausführlich auseinander und kam zu folgender Definition:

„Eine Kultur ist das Gesamtgebilde aus erlerntem Verhalten und Verhaltensresultaten, dessen einzelne Elemente von den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft geteilt und weitergegeben werden.“

Außerdem stellt LINTON (1974, S. 12) den Zusammenhang her zwischen Kultur, Gesellschaft und Individuum:

„Obwohl ein einzelnes Individuum für den Fortbestand und die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft, zu der es gehört, oder der Kultur, an der es teilhat, selten von großer Bedeutung ist, bildet doch das Individuum mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten die Grundlage aller sozialen und kulturellen Erscheinungen. Gesellschaften sind organisierte Gruppen von Individuen, und Kulturen sind letzten Endes nichts anderes als die organisierten, sich wiederholenden Reaktionen der Mitglieder einer Gesellschaft. Aus diesem Grunde ist das Individuum der logische Ausgangspunkt für jede Untersuchung des Gesamtgebildes.“

Kultur ist also ein kollektiv verbindliches – wenn auch nicht starres - Normensystem, das individuenübergreifend gesellschaftliche Werte- und Handlungsmuster prägt, eben die

„Gesamtheit ideeller und materieller Lebensäußerungen“ (s. BRAUN/RÖSEL 1992, S. 250).

Mensch, Gesellschaft und Welt werden darüber definiert. Kultur übermittelt somit Wissen, aber auch Handlungsmuster, die durch ihren normativen Charakter Stabilität und Orientierung (auch

im psychologischen Sinne) für Gruppe und Individuum13 liefern. Identität und Authentizität werden garantiert durch den Fortbestand tradierter kultureller Elemente, die zwar – je nach Art der Kultur in unterschiedlichem Maße – Beeinflussungen von außerhalb verarbeiten können, deren massive Überformung aber zu gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit oder Desintegration führen kann:

„Die Kultur als Ganzes liefert den Mitgliedern aller Gesellschaften einen unerläßlichen Leitfaden für alle Lebenslagen. [...] Die Tatsache, dass die meisten Mitglieder der Gesellschaft auf eine gegebene Situation in einer gegebenen Art und Weise reagieren, ermöglicht es jedem, das Verhalten der anderen mit einem hohem Grad von Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit, vorauszusagen. Diese Vorhersagbarkeit ist Voraussetzung für jede Art organisierten sozialen Lebens. [...] In jeder Gesellschaft ist das Leben gemäß den örtlichen Kulturmustern organisiert und lässt wenige Möglichkeiten offen, von ihnen abzuweichen. [...] Das Vorhandensein kultureller Muster ist nicht nur für das Funktionieren jeder Gesellschaft notwendig, sondern gleichermaßen auch für ihr Weiterbestehen.“ (s. LINTON 1974, S. 23 f.)

Gabriel Tetiarahi betrachtet Kultur als die Möglichkeit „anders zu sein“, sich zu unterscheiden und andere Werte und eine andere Lebensweise zu realisieren14.