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6. FALLBEISPIEL: DIE MAOHI IN FRANZÖSISCH-POLYNESIEN

6.2 Die voreuropäische Kultur in Französisch-Polynesien

6.2.2 Historisch-Kulturelle Entwicklung der Maohi

6.2.2.1 Gesellschaftsstruktur

Die Gesellschaftsstruktur in Französisch-Polynesien war auf den ersten Blick eine hierarchische

„Aristokratie mit monarchischen Zügen" (KOCH 1959, S. 60). Diese Hierarchie setzte sich allerdings nicht bis zu einem Gesamtherrscher über dasjenige Gebiet fort, was heute mit

Französisch-Polynesien gemeint ist, sondern endete auf Distriktebene. Eine Regierungsform, die einem zentralregierten Nationalstaat vergleichbar wäre, ist aus dem voreuropäischen Französisch-Polynesien also nicht bekannt, sondern gleichberechtigte, politisch autonome Distrikte, die über jeweils eigene Priester, Handwerker, Tempelstätten verfügten (vgl. HEERMANN 1987, S. 59).

Innerhalb der Distrikte bildeten sich Siedlungsstrukturen heraus, die seit Beginn der Besiedlung bis zum Kontakt mit den Europäern im Wesentlichen die gleichen geblieben sind. GREEN (1967, S. 216-21766) rekonstruiert für die voreuropäische Zeit ein Bild von Streusiedlungen, die sich in Abhängigkeit des naturräumlichen Potentials vorwiegend in den Küstenebenen, aber auch zum Teil weiter im Landesinneren befinden und sich qualitativ nicht wesentlich voneinander unterscheiden.

Neben der generellen Zweiteilung der Menschen in raa (Berechtigung an religiösen Handlungen teilzunehmen) und noa (gewöhnliche Menschen; vgl. NEWBURY 1988, S. 59), bestand folgende Struktur der autochthonen Gesellschaft:

- ari’i nui: Fürsten des Adels, meist Distriktfürste, Mitglieder der ältesten Familien; die Stellung in der Gesellschaft wird auf das älteste Kind vererbt

- ari’i ri’i: engste Verwandte des ari’i nui, Mitglieder des Hochadels, meist Herrscher über kleinere Distrikte

anderem darauf zurückzuführen ist, dass durch Vegetation und Landwirtschaft die stratigraphischen Verhältnisse in den obersten Schichten gestört sind (vgl. EMORY 1988, S. 33 ff.).

66GREEN et. al: Archaeology on the island of Moorea, French Polynesia. Anthropological Paper No. 51, pt. 2,

American Museum of Natural History, New York, 1967 (zitiert nach EMORY 1988, S. 38.)

- ra’atira: Grundbesitzer, Verwalter kleinerer Distrikte, Handwerker, Haus- und Boots-bauer, Priester und Gelehrte

- ta’ata67(was nichts anderes als Mensch heißt) : Pächter, größter Teil der Bevölke-rungsgruppe, zum Teil als „Hörige" bezeichnet

- tautau: Dienerschaft (zum Teil als Sklaven bezeichnet), erledigten häusliche Arbeiten der Adelsschicht, oft Kriegsgefangene

In diese Schichtung der polynesischen Gesellschaft wurde das einzelne Individuum zwar hineingeboren, doch war dieses System nicht völlig starr, so konnten insbesondere Angehörige der ra’atira, aber auch der ta’ata und sogar der tautau durch besondere Fähigkeiten großes Ansehen und Einfluss bei den ari’i gewinnen. Die Heirat zwischen den einzelnen

Gesellschaftsgruppen war allerdings verboten.

Entsprechend seiner Zugehörigkeit zu einer der fünf Gesellschaftsgruppen waren auch die Rechte und Pflichten (z. B. auch die Möglichkeiten zur Landnutzung des gemeinsamen Stammeslandes (vgl. Kap. 6.2.2.5), festgelegt. Auch auf der Ebene ari’i - untergeordnete Gesellschaftsgruppe bestanden Rechte und Pflichten, was die gegenseitige Verbundenheit ausdrückt. Die Tatsache, dass die ari’i von sämtlichen anderen Gesellschaftsgruppen ihres Herrschaftsbereiches68 miternährt wurden, da diese verpflichtet waren, dem ari’i sowohl Nahrungsmittel, Textilien, Baumaterial etc. als auch Krieger bereitzustellen, lässt zunächst eine recht einseitige

Abhängigkeit vermuten, doch bestand die Gegenleistung der ari’i nicht nur in Zuwendungen aus dem eigenen Vorrat in entsprechenden Notzeiten, sondern auch in „Dienstleistungen" im

rechtlichen und religiösen Bereich (vgl. HEERMANN 1987, S. 64).

Die oben dargestellte Gesellschaftsstruktur war im Zeitablauf nicht in dieser Form starr fixiert.

Zunächst kann man für die Anfänge der polynesischen Kultur in Französisch-Polynesien eine

67Genauso häufig findet sich in der Literatur (z. B. OLIVER 1974, S. 749 ff.) für diese Gesellschaftsschicht, oder auch für die ra’atira die Bezeichnung manahune, was als weiterer Beweis dafür angesehen werden kann, das diese eine frühere von den ari’i kulturell überformte polynesische Bevölkerungsgruppe war (s. u.). Eine Erklärung für diese Vermischung von Bezeichnungen bietet ebenfalls OLIVER (S. 768 f.), der dies auf eine Verwechslung der Bezeichnungen für die gesellschaftliche Stellung mit der Bezeichnung für eine berufliche Tätigkeit zurückführt. Was letztendlich was war ist heute nicht mehr genau nachvollziehbar.

68Dieser Herrschaftsbereich bestand zumeist aus mehreren Distrikten, die sich ihrerseits weiter in Unterdistrikte, lokale Siedlungseinheiten - meist aus einer einzigen Großfamilie, ansonsten aus mehreren Kleinfamilien (hierbei waren sowohl Polygamie als auch Einehe bekannt) bestehend - differenzieren lassen.

simplifizierte, nicht in diesem Maße differenzierte gesellschaftliche Schichtung annehmen, zum anderen waren auch Befugnisse, Macht und gesellschaftliches Ansehen der jeweiligen

Angehörigen einer gesellschaftlichen Gruppe einem stetigen, leichten Wandel unterworfen, was u. a. zu inselspezifischen Unterschieden führte. Dementsprechend finden sich in der Literatur auch leichte Abwandlungen dieser Darstellung, die sich aber im Wesentlichen, nämlich der Beschreibung einer gesellschaftlichen Schichtung, nicht voneinander unterscheiden (vgl.

NEWBURY 1988, S. 59).

Die Dynamik und inselspezifische Unterschiedlichkeit der Herrschaftsstruktur verdeutlicht das folgende Zitat von HENRY (1928; zitiert nach NEWBURY 1988, S. 61):

,,From time immemorial each little kingdom of the Leeward Islands has generally been ruled by one ari’i nui and several subordinate chiefs, but Tahiti and Moorea were called ‘Plebeian Tahiti’ in former times because they were realms of democratic people ruled by warrior chiefs. Later on came branches of the highest royal family of Opoa in Raiatea, who by marriage became rulers of the people in their respective districts, until gradually all the land became subjugated to the dynasty of Pomare, the people of each class retaining possession of their

hereditary lands."

Polygamie (s. o.) war insbesondere unter den ari’i und den ra’atira verbreitet, „Scheidungen"

relativ unkompliziert. Über ihre Kinder hatten die Eltern zudem ein beträchtliches

Verfügungsrecht (durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch), da sie im Säuglingsalter getötet, verschenkt, ausgetauscht und adoptiert werden konnten, wobei im Alter von acht bis zwölf Jahren die Entscheidung, bei welcher Familie sie wohnen möchten, oftmals allerdings ganz den Kindern übertragen wurde. Hinter dem Brauch der Kindestötung (hierbei lag die

Entscheidung vorwiegend bei der Mutter) stand zum einen das geringe Prestige, welches dem Kinderreichtum zukam, zum anderen wurde die Tragfähigkeit des Siedlungsgebietes nie durch einen entsprechenden Bevölkerungsdruck überschritten (ökologische Funktion). Negative Auswirkungen hatte allerdings die Tatsache, dass in der Hauptsache die weiblichen Säuglinge getötet wurden, da es dadurch zwangsweise zu einem zahlenmäßigen Missverhältnis zwischen Männern und Frauen kam (vgl. KOCH 1959, S. 75 f.).

Des Weiteren hatten Frauen im Allgemeinen nicht die gleiche Stellung in der Gesellschaft wie Männer, da es ihnen z. B. verboten war, mit den Männern zusammen zu essen oder das heiligste Innere der Marae (vgl. Kap. 6.2.2.2) zu betreten. Andere Darstellungen hingegen bezeugen sogar das Vorhandensein weiblicher Häuptlinge (vgl. LEVY 1988, S. 23).

Ein wichtiger Aspekt der voreuropäischen Gesellschaft der Maohi war das Senioritätsprinzip, dass heißt die Ältesten standen in der familiären und gesellschaftlichen Hierarchie ganz oben, ihnen wurde großer Respekt entgegengebracht (vgl. WERNHART 1993, S. 19).

SAHLINS (1958) nimmt für die Gambier- und Marquesasinseln eine etwas vereinfachte soziale Schichtung in nur zwei bis drei Gesellschaftsstufen an.

Im Vergleich zu Melanesien, dessen Gesellschaftsstruktur insbesondere auf Clans, d. h.

„autonome Verwandtschafts- und Nachbarschaftsgruppen (kinship-residential groups)“ (s.

KREISEL 1991, S. 44) gründete, war die hierarchische oder auch vertikale Sozialstruktur in ihren Grundzügen in Gesamt-Polynesien vergleichbar:

„Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Oberschicht (arii in Neuseeland und Tahiti oder ali’i in Hawaii) und Tributpflichtige (iatoai in Neuseeland) oder Gemeinfreie (maka’ainana in Hawaii) gab, daneben eine Art Hörigen- oder Sklavenschicht (manahune, menehune, kauwa). Darüber hinaus hatte sich eine eigene

Priesterkaste herausgeblidet; die kahuna (Hawaii) oder tohunga.“ (s. KREISEL 1991, S. 45 f.).