Kindesmißhandlungen:
immense Dunkelziffer!
Jedes Jahr werden bei uns etwa 1500 Fälle von Kindesmißhandlungen ge
richtlich bearbeitet; der Deutsche Kinderschutzbund rechnet mit jähr
lich 1,5 Millionen Fällen. - Daraus wird deutlich: Die Dunkelziffer ist immens, und: Niemand weiß Ge
naues.
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einen davon nannte Prof.
Dr. Klaus Püschel, Leiter des Insti
tuts für Rechtsmedizin an der Ham
burger Universitätsklinik, bei einer Fortbildungsveranstaltung: »Beim Thema Kindesmißhandlungen fehlt häufig das ärztliche Engagement;
gerade die Ärzte räumen Berufs
gruppen wie Psychologen oder Sozi
alarbeitern oft mehr Rang ein.« Es sei bemerkenswert, daß in manchen Fällen offensichtlich keine zutref
fende Diagnose möglich sei - »ich vermute, daß eine Untersuchung des entkleideten Kindes oft nicht stattfm- det!« -; wichtig für die Diagnose seien Skelettsystem und entspre
chende Röntgenbefunde.
Püschel bezeichnete Kindesmiß
handlungen als eine »chronische Krankheit«, und gerade weil sie fast nie nur einmal vorkämen, müßten sich besonders die Ärzte darum kümmern. Der Rechtsmediziner empfahl in diesem Zusammenhang dringend, das Schütteltrauma ver
stärkt zu beachten (subdurales Hä
matom), »weil und obwohl äußerlich nichts zu sehen ist«. Wenn Ärzte be
tonen, sie müßten die Schweige
pflicht beachten, sonst komme die betreffende Familie womöglich nicht mehr und das Leiden des Kindes ent
ziehe sich jeder Kontrolle, dann sei dies sicher ein Aspekt, aber: »Ein Arzt ist in einem solchen Fall nicht verpflichtet, zu schweigen - der Schutz des Kindes hat stets Vor
rang!« Übrigens: In einem Konzept der Bundesärztekammer werden die
Landesärztekammern aufgefordert, sich in Fort- und Weiterbildung ver
stärkt dem Thema Kindesmißhand
lungen zu widmen
Wut und Aggression sind nach An
sicht von Dr. Susanne Börner vom Hamburger Kinderkrankenhaus Al
tona nicht geeignet, langfristig mit dem Thema Kindesmißhandlung umzugehen. Andererseits - es gibt nicht einmal eine Definition dessen, was man darunter versteht: »Statt dessen retten wir uns in Zustands
beschreibungen, sprechen von Ent
wicklungshemmungen oder -Verzö
gerungen des Kindes.« Mißhandlun
gen und Vernachlässigung eines Kin
des seien äußerst selten einmalige Kurzschlußhandlungen. Um sie zu verstehen, müsse man sich in »Mi
kroanalysen« bemühen, die Gewalt in der Familie zu verstehen. Die Be
dingungen dafür können sowohl in der Person des Kindes liegen als auch in der der Eltern; Ursache sei oft auch das jeweilige Umfeld. Wichtig seien für den Arzt ein frühes Ge
spräch mit anderen potentiellen Hel
fern - »Einzelkämpfertum ist hier nicht angesagt« - sowie eine behut
same Kooperation mit den Eltern:
»Ist sie nicht möglich, dann geht die Sicherheit des Kindes über alles - Strafanzeige und Herausnahme des Kindes aus der Familie dürfen dann keine Tabus mehr sein.«
Referent:
Werner Loosen Reismühle 16 a 22037 Hamburg
Follikelstimulierung mit hochgereinigtem FSH
In den letzten Jahren gewann man viele neue Erkenntnisse über den ovulatorischen Zyklus, der durch ein kompliziertes neuroendokrines Sy
stem (Gehirn, Adenohypophyse, Ova
rien und komplexe Feedbacksy
steme) gesteuert wird und bei dem die Gonadotropine FSH und LH für die Steroidbiosynthese nötig sind.
ZSA 735
und zwar zu jeweils einem definier
ten Zeitpunkt und in einer jeweils bestimmten Menge. FSH-Konzentra- tionen unter dem Schwellenwert während der gonadotropinen Ent
wicklungsphase, so erläuterte Prof.
Bruno Lunenfeld aus Israel auf dem 2. Irseer Sterilitätstherapie-Work- shop (Fa. Serono), halten die Follikel davon ab, das Stadium der Domi
nanz zu erreichen: ein Östrogenes Milieu läßt den Follikel reifen, ein androgenes Milieu (durch zuviel Lu
teinisierendes Hormon) ihn abster
ben.
Prinzipiell kann man sagen, daß hohe LH-Werte während der frühen Follikelphase einen negativen Ein
fluß auf die Eizellqualität, die Ferti
lisations- und die Schwangerschafts
rate haben und bei Eintritt einer Schwangerschaft die Abortrate er
höhen. Für die Bewahrung einer Anzahl von Follikeln ist ein FSH- Anstieg auf einen vorgegebenen Schwellenwert 4-5 Tage vor dem Eintritt der Menstruation, d. h. in der vorhergehenden Lutealphase, nötig.
Übersteigt der FSH-Serumwert die
sen Schwellenwert deutlich, werden mehr Follikel für den folgenden Zy
klus zur Verfügung stehen. Diese Er
kenntnisse gaben den Anstoß zur Entwicklung von neuen Behand
lungsformen, die vor einer erhöhten LH-Konzentration schützen, indem sie die endogene LH-Sekretion redu
zieren und bei der Stimulation vor
wiegend FSH enthalten, da FSH das entscheidend wichtige Gonadotropin für die Aktivierung, die Selektion und das Wachstum des Follikels ist. Das 1993 eingeführte, hochgereinigte follikelstimulierende Gonadotropin- Präparat Fertinorm® HP besteht zu über 95% aus FSH und ist wesentlich sauberer als die herkömmlichen FSH-Präparate mit rund 5% FSH. Es kann - auch von der Patientin selbst - subkutan injiziert werden.
Dr. P. Sydow von der Berliner Cha
rite setzte hochgereinigtes FSH zur Stimulation der Follikelentwicklung im IVF-Programm ein. 62
normoan-736 21EA
Kongreßberichte |drogenämische Patientinnen beka
men jeweils einen Zyklus lang FSH- HP, In allen Fällen wurde mit der Stimulation erst nach hypophysärer Down-Regulation mit einem GnRH- Analogon im long-Protokoll begon
nen. Die Patientinnen erhielten täg
lich 1501. E, Fertinorm® HP s. c. oder i. m. Eine individuelle Dosisanpas
sung erfolgte entsprechend der ova
riellen Reaktion frühestens ab dem 8. Stimulationstag durch eine Steige
rung um 75 I. E.
Insgesamt konnten 11 klinische Schwangerschaften erzielt werden, in einem Fall kamen Drillinge zur Welt. Aborte fanden nicht statt. 3 Patientinnen wurden wegen eines Überstimulierungssyndroms kurzfri
stig hospitalisiert, andere Komplika
tionen oder Nebenwirkungen traten nicht auf. Die Ergebnisse zeigen, daß FSH-HP auch nach hypophysärer Downregulation erfolgreich zur Fol
likelstimulation im IVF-Programm eingesetzt werden kann. Die subku
tane Selbstinjektion, so Sydow, habe noch einen gravierenden Vorteil: Sie führe zu einem gerade in diesem Be
reich so wichtigen Streßabbau.
Referentin:
Helga Vollmer, M. A.
Eggenfeldener Str. 99 81929 München
Psychosomatische Therapie und Abrechnung
Schon beim Begriff »Psychobioso- ziale Sicht« läßt sich leicht feststellen:
Über »bio« weiß der Arzt ziemlich gut Bescheid. Was aber tut er bei Seelen- Schmerzen? Vielleicht beginnt er mit einem somatischen Check-up und merkt: Da ist ja nichts. »Und wie verhält sich der Arzt, wenn der Pa
tient trotzdem wiederkommt -, sagt er sich dann bloß: um so besser?
Genau das soll nicht sein, vielmehr soll sich der Arzt kümmern, auch und gerade um die sozialen und psy
chischen Aspekte eines Patienten.«
Dies forderte Dr. Erich Schröder,
Vorsitzender des Hamburger Ar
beitskreises Psychosomatik und Psy
chotherapie (HAPP), bei einer Fort
bildungsveranstaltung.
Das Unbehagen des herkömmlichen Arztes, sich mit solchen Fragen über
haupt zu beschäftigen, führt Schröder darauf zurück, daß er die erschwerte Arbeit scheut, wenn er die Gefühle des Patienten an sich selbst heranläßt:
»Das Zuviel an Leid >schafft< den Dok
tor, wenn er es nicht lernt, damit um
zugehen.« Nicht ohne Grund flüchte
ten sich so viele Kollegen in Alkohol und andere Süchte, liegt die Todes
rate bei den Ärzten zwischen 45 und 65 Jahren besonders hoch. »Weit über die Hälfte des Praxisalltags be
trifft die sogenannte Psycho-Ecke - wie schade, daß wir darüber so wenig gelernt haben!« sagte Schröder und zitierte: »Das Weltbild ist genauso wichtig wie das Blutbild.«
Organ-, Körper- und Beziehungs
sprache - damit kommt der Patient in die Arztpraxis. Wenn der Arzt sich darauf einläßt, wird er merken, daß jeder Mensch in der Kindheit ein Trauma gehabt hat. »Oft wird es ak
tualisiert, wenn wir eine aktuelle Kränkung erfahren, etwa infolge von Objekt- oder Arbeitsverlust; und was der Patient früher erlebt hat, das in
szeniert er nun vor uns.«
Aus den jüngsten Vorschriften für Qualitätsvoraussetzungen der psy
chosomatischen Grundversorgung erwähnte Schröder Theorieseminare von mindestens 20 Stunden Dauer, die Reflexion über die Arzt-Patienten- Beziehung (30 Stunden) sowie die Vermittlung und Einübung bestimm
ter Interventionstechniken (30 Stun
den): »Und wer das absolviert hat, darf psychosomatisch tätig werden und entsprechend abrechnen«, sagte der langjährige Praktiker Schröder und meinte, damit wisse man viel zu wenig; Abhilfe könne womöglich das von der HAPP entwickelte Curriculum schaffen. In diesem Zusammenhang kritisierte Schröder vehement, daß derzeit geplant werde, die Abrech
nungsziffer 825 abzuschaffen (Psych
iatrisches Gespräch). Damit werde vielen psychosomatisch tätigen Ärz
ten die Existenzgrundlage genom
men. »Und wenn die KBV sagt, es werde eine Ersatznummer kommen, dann muß doch festgehalten werden:
Der Sicherstellungsauftrag ist nicht gewährleistet, wenn das Psychiatri
sche Gespräch aus der Gebührenord
nung verschwindet!« Psychosomati
sche Medizin müsse auch weiterhin als Praxisbesonderheit gelten, »mit der es möglich ist, ein ganz spezielles Klientel zu bedienen«.
Referent:
Werner Loosen ReismUhle 16 a 22087 Hamburg
Ein »Nicht-IVIedikament« als Drogenentzugshilfe
Die Zahl der Heroinneueinsteiger und Heroinabhängigen hat sich in den letzten Jahren in Deutschland mehr als versechsfacht. Nach Dr.
med. M. Nowak, Lustadt, haben wir es mit einer zweiten Heroinwelle zu tun, die 1986 ihren Anfang nahm und 1988 in die Kliniken schwappte.
Da besonders bei Heroinfixern mit einer hohen Rückfallquote zu rech
nen ist, kommt der Entzugsbehand
lung eine enorme Bedeutung zu. Ne
ben den wichtigen psychosozialen Maßnahmen wird vor allem (Levo-) Methadon im Rahmen von Metha
don-Erhaltungsprogrammen einge
setzt. Da hier lediglich ein Suchtstoff gegen einen anderen ausgetauscht wird, ist diese Methode nicht unum
stritten. »Eine elegantere Möglich
keit besteht darin«, so formulierte es Prof. Dr. med. D. Ladewig, Basel, auf dem Internationalen Nemexin (Naltrexon-HCl-)Symposium in der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel (17.2.1994), »mit einem Opiat-Langzeitantagonisten zu ar
beiten.« Seiner Meinung nach muß in der Drogenarbeit noch gezielter der Aspekt des Verlernens geübt
Kongreßberichte
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werden, denn Sucht sei lernbar und könne auch verlernt werden, wobei Medikamente eine wertvolle Hilfe
stellung leisten können. Naltrexon ist in Verbindung mit psychotherapeu
tisch/psychologisch geführten Reha
bilitationsprogrammen als zusätz
liche medikamentöse Unterstützung zugelassen. Die Wirkung von Nal
trexon beruht auf der kompetitiven Besetzung von Subtypen der Opioid- Rezeptoren. Damit sind Opiat-Agoni
sten wie Morphin oder Heroin nicht mehr in der Lage, an die Rezeptoren zu binden und ihre intrinsische Ak
tivität zu entfalten. Opioide, die be
reits an die Rezeptoren gebunden
»Sucht ist lernbar und kann auch ver
lernt werden«
(Prof. Dr. D. Lade
wig, Basel)
sind, werden aufgrund der höheren Affinität von Naltrexon von ihren Bindungsstellen kompetitiv ver
drängt (Ausnahme: Buprenorphin).
Nach den Worten von Prof. Dr. med.
0. Presslich, Wien, handelt es sich bei Naltrexon um ein »ausgespro
chenes Nicht-Medikament«: Wenn man es nimmt, geschieht nichts, und wenn man Heroin spritzt, geschieht auch nichts!
Dr. M. Nowak, Lustadt, verdeutlichte anhand einer Studie mit 60 Heroin
abhängigen, daß Rückfälle (»sie tre
ten immer auf!«) mit Naltrexon bes
ser überbrückt werden können, da kein Suchtmechanismus ausgelöst wird. Hinzu kommt der Faktor der Unwirksamkeit (»Das wirkt ja tat
sächlich nicht, jetzt habe ich 300 DM für nichts und wieder nichts ausge
geben!«). Da bei Opiatabhängigen schwerste Entzugserscheinungen auftreten können, muß vor dem Ein
satz des Medikamentes sichergestellt sein, daß der Abhängige mindestens sieben Tage »clean« ist. Bei Metha
don sind mindestens 10 Tage erfor
derlich. Eine Urinkontrolle oder/und ein i. v.-Test auf Opioidreste im Kör
per ist absolut indiziert, man darf sich nicht auf die Aussagen der Pa
tienten verlassen. Weitere Voraus
setzungen sind nach Ladewig die Kenntnis der Risikobereiche des Dro
genabhängigen, seine genaue Ana
mnese und: Der Abhängige muß wirklich mitarbeiten wollen.
Ein Problem stellt sicherlich der To
leranzverlust unter Naltrexon dar.
Wenn die Wirkung nach etwa 72 Stunden abgeklungen ist, besteht eine große Empfindlichkeit gegen
über Heroin. Diese Tatsache muß in
tensiv mit dem Patienten besprochen werden. Das Dosierungsschema läßt sich individuell variieren, wobei die Tabletten unter Aufsicht auf einmal genommen werden sollten: z. B.
montags bis freitags je 50 mg Nal
trexon HCl pro Tag (eine Tablette) und samstags zwei Tabletten, oder montags und mittwochs je zwei Ta
bletten und freitags drei Tabletten.
Empfohlen wird eine Mindestthera
piedauer von drei Monaten.
Referent;
Ingo Deris Rathausstraße 20 55128 Mainz
Schizophrenie:
Angehörigenarbeit und psychosoziale Intervention
Bei psychiatrischen Erkrankungen und speziell bei der Behandlung von schizophrenen Patienten ist die Rolle der Angehörigen noch weitaus wich
tiger und vielschichtiger als bei kör
perlich Erkrankten. 60 Prozent aller chronisch psychisch Kranken leben in der Familie, was fast immer heißt, daß sich die Mutter um den Betrof
fenen kümmert.
Bei einer Pressekonferenz anläßlich der 5. Wissenschaftlichen Tagung der Psychiatrischen Klinik der TU München wurde die typische Kon
stellation folgendermaßen beschrie
ben: Die 60jährige Mutter mit einem 30jährigen kranken Sohn ist behaf
tet mit Schuldgefühlen, völlig verun
sichert, isoliert und mit der Betreu
ung total überfordert. Oft bereitet die prinzipielle Unberechenbarkeit der Erkrankung den Angehörigen große Angst. Gerade auf dem Land sind solche Angehörigen katastrophal al
leingelassen, da es beispielsweise keine Kurzzeitpflegebetten gibt, keine Personen, die den Kranken stundenweise betreuen, keine Grup
pen, in denen die Betreuenden sich aussprechen, Rat suchen und disku
tieren können. Hinzu kommt, daß die Angehörigen 25 Prozent der Be
handlungskosten zuzahlen müssen.
ln dem vom Bundesforschungsmini
sterium geförderten »Münchner Psy- chosen-lnformationsprojekt« an 3 Münchner Kliniken (Psychiatr. Kli
nik d. TU München, Psychiatr. Klinik der LMU und BKH Haar) wurde un
tersucht, ob sich durch eine ver
mehrte Information und Einbezie
hung der Angehörigen die Rezidivra
ten schizophrener Patienten senken lassen. Dazu wurden 250 Patienten und deren Angehörige getrennt in jeweils 8 einstündigen Gruppensit
zungen ausführlich über die Erkran
kung und ihre Behandlungs- und Verhütungsmöglichkeiten informiert und praktische Hilfen bei der Bewäl
tigung der Erkrankung angeboten.
Es stellte sich heraus, so erklärten die Projektleiter Dr. W. Kissling und Dr. J. Bäuml, daß die schizophrenen Patienten, die mit ihren Angehörigen das Aufklärungsprogramm durch
laufen hatten, nur noch halb so häu
fig wegen eines Rückfalls wieder ins psychiatrische Krankenhaus aufge
nommen werden mußten wie die nur
»normal« aufgeklärte Kontrollgrup- pe. Außerdem stellte sich heraus, daß eine Einzeltherapie mit dem Er
krankten längst nicht so effizient ist, wie wenn die Angehörigen als gleich
berechtigte Partner in die Therapie mit einbezogen werden.
Referentin:
Helga Vollmer, M.A.
Eggenfeldener Str. 99 81929 München