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3. Bedingungen für Integrationspolitik

6.1 Zur Person und Werk von Feridun Zaimoğlu

6.2.3 Kollektive Kontrasterfahrung als Perspektive

Hochzeitsnacht. […]. Ich war ja nicht die erste. Ich saß immer noch auf dem Bett. Dann habe ich meine Augen geschlossen. Ja, ich habe immer die Augen geschlossen. Haben sie uns denn erlaubt, sie zu öffnen? […]. Ich habe zu früh geheiratet.“ (Kf, 50) Dagegen konnte sie sich nicht wehren und hatte als Gegenreaktion nur das Weinen: „Ich habe viel geweint, sehr viel.

Aber weinen bringt nichts. Deswegen hat Gott Frauen das Weinen gegeben.

Sie haben sonst nichts.“ Mit ihrer Erzählung kritisiert die Protagonistin das System in der Türkei, wo die Frauen dem Mann (Vater und/oder Ehemann) nicht widersprechen können und dürfen. Sie fühlen sich verpflichtet, sich dem Mann zu beugen und dessen Anweisungen schweigsam zu folgen:

„Meine Mutter hat auch viele Tränen vergossen. Aber was konnte sie schon tun? Was können wir schon tun? Andere haben schon alles bestimmt für uns. Wir müssen es akzeptieren.“ Darüber hinaus wird eine Frau, die sich diesen gesellschaftlichen Strukturen widersetzt, stark ausgegrenzt. Sie befindet sich daher in einer Lebensvorstellung, in der sie als Außenseiterin betrachtet wird. Selbst zu ihrer Familie wird sie keinen Kontakt mehr haben:

„Ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie. Sie wollen mich nicht mehr sehen. Sie denken, nur weil ich hier arbeite, bin ich nicht mehr ich. Als hätte ich nie an meiner Mutter Brust gesaugt, als wäre ich nie ein Kind gewesen, als hätte ich nie mit meinen Brüdern gespielt.“ Mit ihrem Protokoll gibt die Protagonistin dem Rezipienten ein klares Bild über die Situation der Frauen in der ländlichen Türkei. Durch ihre Erzählung übt sie scharfe Kritik an der türkischen Familienstruktur aus und versucht, sich davon zu distanzieren.

anhand der Erzählungen der Protagonistinnen eine institutionelle Diskriminierung in der Schule, im Beruf und bei spezifischen Inlandsrechten (Wahl, Versammlungsrecht).330 Die Diskriminierung und die zunehmende Ausländerfeindlichkeit verstärkt bei den Figuren ein gewisses

„Wir-Gefühl“. Sie fühlen sich der deutschen Gesellschaft nicht-zugehörig und betrachten sich selbst als Außenseiterinnen und „Kanaken“, darunter die Künstlerin, Aynur: „Und so komme ich als Kanak-Weib dazu, dagegenzuhalten: In diesem Land schenkt man uns kein Friedensverhältnis, […]. Im Ghetto hat man uns im Sammelquartier, hat man uns, wo wir nun mal sind, und hält mal ein Aleman die Nase da rein, heißt‘s: Hmmm, ich rieche gar so viele Aromen. Da hat man uns im Elend wirklich herrlich was abgewonnen. Und wenn einer wagte, das Verkriechen sein zu lassen und zu gehen in die Alemanweitewelt, heißt’s: Zieh dich doch etwas schneller bitte aus und erkläre dich.“ (Kf, 34) Die Studentin Çagǐl kritisiert ebenso an den Deutschen ihr überhebliches Verhalten gegenüber den Türken und ihre Unfreundlichkeit: „Ich hatte so viel Zeit, die Deutschen zu beobachten. Eine Zeitlang habe ich mich sehr über die Unfreundlichkeit geärgert, mal über die Grobschlächtigkeit, mal über mangelndes Feingefühl, mal über die mangelnde Flexibilität.“ (Kf, 57) Sie geht mit ihrer Kritik weiter und beschreibt, wie der „gute Kanake“, von den Deutschen ausgegrenzt wird:

„Da kommt also der gute Kanake, stellt sich mitten rein, und während er sich fragt, warum die Leute so Spalier stehen, wird er im nächsten Moment auf seinen Platz verwiesen. Schließlich gehört jeder irgendwohin und der Kanake am besten ganz nah an die Abschußrampe. So wird hier ein- und aussortiert, und die Stücke, die zu klein, zu groß oder zu bunt sind, kommen an die Seite.“ (Kf, 58) Von der harten Kritik sind auch die assimilierten Türken nicht ausgeschlossen, die auf ihre eigene kulturelle Identität komplett verzichten und schmeichelhaft auf die Anbiederungen der Deutschen reagieren: „Dann gibt es noch die getürkten Deutschen, die Assimilfatmas, die so gern anders wären, als sie sind. Also, gar nicht anders von der deutschen Seite aus betrachtet. Diese Leute halten es für ein

330 Siehe Kapitel 3: Hindernisse für Integrationspolitik

Kompliment, wenn sie mal nicht für einen Kanaken gehalten werden, denn sie schämen sich ihrer Herkunft und ihres Andersseins. Sie lassen sich stutzen für einen deutschen Handschlag und ein deutsches Lächeln, einen Schulterklopfer und ein ‚du gehörst zu uns‘ aus deutschem Munde. […]. Sie sind die schwächsten in der Gruppe. Sie wissen sich nur durch Anpassung zu helfen.“ (Kf, 59) Von anderen Protagonistinnen wird sogar die

‚Integration‘ infrage gestellt, da die Forderung der Politiker, dass sich die Migranten integrieren sollen, von ihnen eher als Übernahme einer andren kulturellen Identität verstanden wird. Mit einer vulgären Sprache drückt sich die Betreuerin eines Heimes für junge Frauen, Nilüfer, darüber aus: „Sei da oder pack mal an die neue Materie, erst bist du flüchtig vor widriger Scheißpolitik und reichst ein deinen Schein, deinen Antrag auf Aufnahme ins immense Deutschland, wie’s mir damals schien, aber bald fiel bei mir der Groschen und den Einheimischen die Kolossalmaske. Wie’s mir ging und was ich anstelle, hat deine Leser ein Scheiß zu interessieren. Meine Kritik kommt von mir, und sie sollen wissen, sie, die Deutschen, daß Friedensschluß nicht möglich ist mit ihren fettigen Türkfeindideen, ich werfe ihnen den Teller Pennersuppe ins Gesicht.“ (Kf, 98) Die Protagonistin stellt in der folgenden Aussage Deutschland als eine statisch homogene Gesellschaft dar, in der der Türke nur durch „Gleichschaltung“ oder Anpassung teilnehmen kann: „Integration ist nichts anders als Gleichschaltung und heftigstes Manöver, um uns Bimboweiber zu Lesbenliebchen oder Kaufmiezen für Hängebauchproleten zu drillen.“ (Kf, 100) Das von der Protagonistin erwähnte Drillen bezieht sich auf das Gefühl, in Deutschland wie Eigentum behandelt zu werden. Dies wird auch von der Anarchistin Gül angesprochen und satirisch kritisiert. Im Gegensatz zu Nilüfer versucht sie aber, ihre eigene Identität in Deutschland zu entwickeln, indem sie sich weder dem Verhalten der „braven Türkenmutti“

noch dem des „braven“ Deutschen anpasst: „So hat jeder Scheißbürger n Psychoteil am Laufen, die laufen mit ner Riesentube Klebstoff in ihren Palästen rum und pappen jedes Ding fest und nennen es Eigentum.

Eigentum, das finde ich mal wirklich, is mit Leichen armer Leute

ausgestopft, […]. Also, ich bin nicht ne brave Türkenmutti hinterm Herd, […]. Ich kenn meine Henker, weißt, klar ist n bißchen großspurig, was ich da sag, aber es gibt so viele, die meinen, was gut für dich ist und was deine Identität ist, und du hörst dir den Mist an und wunderst dich, daß nix von dieser Meinung zu dir paßt, aber echt.“ (Kf, 30-31) Zur Desintegration bzw.

der vermehrten ‚Segregation’ führten nicht nur das System und dessen Grenzziehungsmechanismen, sondern auch die eigene wahrgenommene kulturelle Differenzerfahrung. Dagegen plädiert die Gemüseverkäuferin und legt großen Wert auf das interkulturelle Leben. Sie geht davon aus, dass die Türken ihre Existenz zwischen den Kulturen aufbauen müssen: „Heute brauche ich keine Heimat. Ich habe mich davon befreit. Was machen die Leute, die eine Heimat haben? Geht es ihnen besser? Ich sehe, daß das im Leben eines Menschen nur die Bedeutung hat, die man ihm gibt. Ich gebe einfach nichts mehr darum, Schluß aus! Ich verschwende meine Kraft nicht damit, um etwas zu trauern, was ich nie hätte haben können. […]. Man kann es nehmen, wie man will: Wir werden nie ein Teil der deutschen oder der türkischen Gesellschaft sein. Wir können höchstens der Teil unserer eigenen Gesellschaft sein.“ (Kf, 41-42)