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3. Bedingungen für Integrationspolitik

5.2 Das interkulturelle Potenzial bei Emine Sevgi Özdamar

5.2.1 Zur Person und Werk von Emine Sevgi Özdamar

Emine Sevgi Özdamar ist eine der bekanntesten Vertreterinnen der deutsch-türkischen Literatur. Sie wurde 1946 in Malatya in Ostanatolien geboren. Sie ist, in Istanbul und Bursa aufgewachsen. 1965, als sie 19 Jahre alt war, kam sie als ‚Gastarbeiterin‘ nach Berlin und arbeitete in einer West-Berliner Fabrik. Nach zwei Jahren reiste sie wieder in die Türkei zurück.

Mit dem in Deutschland angesparten Geld finanzierte sie von 1967 bis 1970 in Istanbul die Schauspielschule und hatte erste professionelle Theaterrollen in der Türkei. Wegen der wachsenden Unruhen in ihrem Heimatland kehrte sie wieder nach Berlin zurück. 1976 ging sie an die Volksbühne in Ostberlin, wo sie im Regiebereich bei Benno Besson und Mathias Langhoff gearbeitet hat und Theatertexte wie „Karriere einer Putzfrau - Erinnerungen an Deutschland“ schrieb. 1979 zog sie nach Paris und Avignon. Dort arbeitete sie an Benno Bessons Inszenierung „Der Kaukasische Kreidekreis“

von Bertolt Brecht mit. Sie wurde Doktorandin an der Pariser Universität 8 Vincennes – Saint Denis. Von 1979 bis 1984 war sie als Schauspielerin am Bochumer Schauspielhaus bei Claus Peymann engagiert, in dessen Auftrag sie auch ihr erstes Theaterstück „Karagöz in Alamania (Schwarzauge in Deutschland)“ schrieb, das 1986 am Frankfurter Schauspielhaus unter ihrer eigenen Regie aufgeführt wurde. Seit 1986 ist sie freie Schriftstellerin, lebt und arbeitet heute in Berlin. Dort schrieb sie neben Romanen, Erzählungen und Essays auch für das Theater. Während ihrer Karriere in Deutschland hat sie drei Theaterstücke „Karagöz in Alamania“

1982, „Keloglan in Alamania“ 1991 und „Perikizi vom Schlosstheater Moers“ 2010 verfasst und inszeniert. Sie hat auch u. a. in Hark Bohms Film

„Yasemin“ 1988 sowie in Doris Dörries „Happy birthday, Türke“ 1992 mitgewirkt. 1990 veröffentlichte sie den Erzählband „Mutterzunge“. Mit dem Roman „Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus“ von 1992 wurde Emine Sevgi Özdamar in literarischen Kreisen bekannt. Dank eines Abschnittes ihres Romans im Jahr 1991 bekam sie den renommierten „Ingeborg Bachmann-Preis“. Zwei Jahre später erhielt sie noch den Aachener „Walter-Hasenclever-Preis“. Der Roman wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt. 1993 konnte man ihn auch in türkischer Sprache lesen. Noch populärer wurde sie mit dem Erscheinen ihres zweiten Romans, „Die Brücke vom Goldenen Horn“ 1998, der ein Jahr später mit dem „Adelbert von Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde. 2003 ist dann der dritte Teil zu dieser autobiographischen Romantrilogie unter dem Titel „Seltsame Sterne starren zu Erde: Wedding-Pankow 1976/77“ erschienen. Im Jahr 2004 wurde sie mit dem „Kleist-Preis“ geehrt.

5.2.2 Emine Sevgi Özdamar: „Das Leben ist eine Karawanserei“ und

„Die Brücke vom goldenen Horn“

Der Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ enthält wirklichkeitsnahes Material über türkische Geschichte und Politik und kann als kulturelles Zeugnis gelesen werden. Er erscheint dem Leser wie eine Reise. Es wird über die eigenen Reiseerfahrungen der Ich-Erzählerin berichtet, die in der Realität zeitlich weit zurück liegen und durch Erinnerungen wieder aufgenommen werden. Andere Erfahrungen kommen in irrealen Passagen, in Märchen oder Träumen vor. In dem autobiographischen Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ handelt es sich um die Geschichte eines in Malatya geborenen türkischen Mädchens.

Der Anfang und das Ende des Romans zeigen die Protagonistin als Reisende. Ihre Reise beginnt sie als Ungeborene im Bauch ihrer schwangeren Mutter mit der Eisenbahn, um im Elternhaus der Mutter

geboren zu werden, und endet sie mit der Zugfahrt nach Deutschland. Die Familie der Ich-Erzählerin besteht aus acht Mitgliedern, den Eltern, den vier Kindern, der Großmutter väterlicherseits und dem Großvater mütterlicherseits. Erweitert wird dieser Familienkern durch mehrere Frauen, die zwar keine Verwandten sind, aber großen Einfluss auf die Familienmitglieder haben. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Gestalt der Großmutter, die die Bewahrerin einer breiten türkischen Volkskultur ist.

Sie erzählt zahlreiche Märchen und Geschichten, in denen sich der islamische Glaube mit Aberglauben und Volksdenken vermischt. Mit dieser Figur versucht die Autorin, ihre LeserInnen an die kulturellen Strukturen ihrer realen Lebenswelt in der Türkei heranzuführen. Sie vermittelt ihnen viel Wissen über konkrete Tatsachen. Mit einer kritischen Haltung und in einem teilweise ironischen Ton stellt die Autorin detaillierte Informationen über historische Fakten dar. „Die Erzählhaltung, die teils ironisch, teils kindisch-naiv und teils übertrieben zu sein scheint, ist im Grunde wahrheitsgetreu und soll helfen, dem Leser Zugang zu der fremden Lebenswirklichkeit Özdamars zu schaffen.“273 Das Buch präsentiert ein eindringliches Realitätsbild. Armut, Strenge und Gewalt prägen das Kindheitsleben der Protagonistin. Aus finanziellen Gründen muss die Familie mit ständigen Ortswechseln innerhalb der Türkei zurechtkommen.

Genau zehn Umzüge zwischen Istanbul, Bursa und Ankara sind im Roman angegeben. Nachdem der Vater sein berufliches Scheitern nicht mehr verkraften kann und sich dem Alkohol hingibt, übernimmt die Mutter die ganze Verantwortung für die Familie. Sie verfällt aber, unter Druck, in eine psychische Krise und kann das Bett nicht mehr verlassen. Die Tochter soll daher zum Familienunterhalt beitragen und arbeitet während der Schulzeit im Stadttheater von Bursa. Am Ende entschließt sie sich, als Gastarbeiterin nach Deutschland auszuwandern.

Im Roman „Karawanserei“ thematisiert die Autorin das Aufwachsen eines jungen Mädchens an verschiedenen Orten in der Türkei. Prozesse der

273 Kuruyazici, Nilüfer: Emine Sevgi Özdamar „Das Leben ist eine Karawanserei“ im Prozeß der interkulturellen Kommunikation. In: Howard, Mary (Hrsg.): Interkulturelle Konfigurationen – Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München 1997, S. 182

‚Akkulturation‘ sowie der Identitätsfindung bzw. Bewusstseinsbildung werden dabei sichtbar gemacht. Die Rezeptionsgeschichte zu Özdamars Roman weist interessante Aspekte im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen auf.

Özdamars Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ ist die Fortsetzung des ersten Romans „Das Leben ist eine Karawanserei“. Er wird auch aus der Perspektive der Ich-Erzählerin erzählt und handelt von ihren eigenen Erfahrungen. Im ersten Teil des Buches beschreibt sie ihre Erlebnisse als türkische Migrantin in Deutschland. Sie geht zunächst nach Berlin, wo sie sich Geld für ein Schauspielstudium in Istanbul ansparen will. Die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieses Ziels setzten bei ihr einen Entwicklungsprozess in Gang. So wird sie sich bei einer kurzfristigen Rückkehr nach Istanbul der Wichtigkeit der Sprache und der Emanzipation eigener Werte und Normen bewusst. Sie erlernt dann, bei ihrer Rückkehr nach Deutschland, die deutsche Sprache und begibt sich danach auf mehrere Reisen, bei denen sie zahlreiche Männerbekanntschaften macht.

Im zweiten Teil des Buches beschreibt sie die Ereignisse, die sie in der Heimat als eine inzwischen reife Frau erlebt. Bei ihren Eltern in Istanbul sowie überall in der Türkei erfährt sie ihre neu erworbene Individualität dadurch, dass sie sich nicht in altangestammte Rollen hineinzwängen lassen will. Sie nimmt eine Abtreibung vor – der Grund, warum sie wieder in die Türkei geht – und schließt sich einer kommunistischen Arbeiterorganisation an. Sie beendet ebenso aus Emanzipationsgründen Partnerschaften und schlägt eine bereits eingewilligte Heirat aus. Zielstrebig beginnt sie in dieser Zeit auch an ihrer Schauspielkarriere zu arbeiten. Die Schauspielerei wird zum zweiten Leitmotiv, in deren Rollenspielen sie ihre Identität wieder finden und weiterentwickeln kann. Die Ich-Erzählerin unternimmt eine Reise nach Anatolien, um in einer Reportage über die Not und das Elend der hungernden, leidenden Kurden zu berichten. Sie erzählt implizit über ein Tabuthema in der Türkei, nämlich den Völkermord an den Armeniern. Sie schildert sehr detailliert auf der Reise zu den kurdischen Dörfern ihre Erfahrungen mit den Repressionsmaßnahmen von Geheimdienst, Polizei

und Armee: „In der Stadt gingen wir für unsere Reportage auf die Suche nach Bauern, die drei Tage lang zu Fuß aus den verhungernden Dörfern hierher gelaufen waren, um Mehl zu kaufen. Einen fanden wir, er war dünn wie eine Nadel, seine Augen lagen tief in seinem Gesicht. […]. Als wir mit ihm sprachen, sahen wir hinter einem Gebüsch wieder unsere sechs Zivilpolizisten.“274

Die Autorin schafft es hier mit nur wenigen Sätzen, die Situation der Kurden zu schildern. Die Kurden, die bis heute noch um ihren Minderheitsstatus kämpfen, sollen vom Staat mittels einer exklusiven und korrupten Politik erpressbar gemacht werden. Sie werden sogar von den verschiedenen Protagonisten als befremdend und feindlich gekennzeichnet:

„Der Lastwagenführer sagte: […] Seid vorsichtig, hier sind viele Kurden.“(BH, 273) Sowohl die Kurden als auch die Kommunisten sind in dieser Zeit, in der die Handlung des Romans spielt (70er Jahre), unerwünscht und werden daher entweder gedemütigt oder verfolgt. Schon vor der Abreise aus Istanbul gibt die Ich-Erzählerin ein Bild von der Radikalisierung rechter und linker Gruppen im Land und der zunehmenden Brutalität des Staates gegenüber Kommunisten. Diese Auseinandersetzungen haben sich bei ihrer Rückkehr weiter verschärft. Die Ich-Erzählerin sieht sich auf Grund der staatlichen Repression gegen Kommunisten in ihrer individuellen Entwicklung eingeschränkt und entschließt sich daher zur Rückkehr nach Deutschland. An der Handlung des Romans von Özdamar sind einige Momente eines Reise- und Entwicklungsromans erkennbar, wie die ständigen Reisen, ihre Fremdheitserfahrung sowohl in Deutschland als auch in der Türkei, und ihre persönliche Identitätsentwicklung. Der Roman weist somit historische Ereignisse sowie autobiographische Züge und Elemente eines Reiseberichts auf, die in manchen Textstellen in die fiktive Handlung eingebaut werden.

Reise, Bewegung und Unterwegssein kennzeichnen den Roman. Denn es geht hauptsächlich um die Geschichte des unruhigen Lebens der Ich-Erzählerin in und zwischen zwei Ländern, Deutschland und der Türkei,

274 Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom goldenen Horn. (1. Auflage Köln 1998) Köln 2005, S. 280. Künftig im Text unter der Sigle BH und mit Seitenzahl

deren gesellschaftliche Realitäten besonders verschieden sind. Es handelt sich also um die Begegnung mit zwei unterschiedlichen Welten, mit der vertrauten und der fremden Welt.

In den folgenden Kapiteln wird darauf eingegangen, wie diese beiden Romane bezüglich ihrer Thematisierung von kultureller Identität bzw.

kultureller Differenz untersucht und gelesen werden können.

5.2.3 Verfremdung als Formprinzip interkulturellen Schreibens