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Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges tragen die durch Flucht, Vertreibung, Arbeitsrekrutierung und Familienzusammenführung ausgelösten massenhaften Migrationsbewegungen zu einem multikulturellen Leben in Deutschland bei. Die deutsche Nation ist somit aus mehreren heterogenen ethnischen Gruppen zusammengesetzt. Deutschland hat sich aber bis ins 21. Jahrhundert nicht als Einwanderungsland gesehen und daher die Integrationspolitik verspätet in Angriff genommen. Heute ist in den öffentlichen Foren und wissenschaftlichen Debatten die Rede von Integrationsscheitern, -hindernissen, Desintegrationswillen von Migranten oder von einer vollkommenen Anpassung an die deutsche Gesellschaft.

Politiker, darunter Heinz Buschkowsky und Rita Süßmuth oder Migrationsforscher, wie Klaus J. Bade behaupten, dass die ‚Integration’ in Deutschland gescheitert sei und fordern daher neue Konzepte und Lösungsansätze. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade geht davon aus, dass der Multikulturalismus eine Utopie sei und bis jetzt nur in Worten stehen bliebe. Er betont, dass die Politiker die Frage des Multikulturalismus nicht ernst genommen und sie nur in den Wahlprogrammen eingesetzt hätten.344 Auch die von mir geführten Interviews mit Politikern, wie dem Innensenator von Berlin Dr. Erhardt Körting und dem Integrationsbeauftragten Dr.

Günter Piening, sowie Soziologen und Islamwissenschaftlern wie Prof.

Werner Schiffauer und Lamya Kaddor weisen auf diese Hemmnisse und Misserfolge hin.

Mit der vorliegenden Dissertation, die in zwei Untersuchungsschwerpunkte gegliedert ist, habe ich mich mit der ‚Integration’ und den Integrationshürden sowohl soziologisch als auch literaturwissenschaftlich intensiv befasst. ‚Integration’ ist ein wechselseitiger Prozess eines ständigen Austarierens zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Das heißt, die Migranten sollen sich in den Lebenszusammenhang der deutschen Gesellschaft eingliedern. Dabei sollen aber bestimmte Lebenszüge, Traditionen, Kulturmuster und Grundwerte unversehrt bleiben und mit dem

344 Bade, Klaus J.: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland ? Deutschland 1880-1980. Berlin 1983, S. 119

kulturellen Austausch bereichert werden. Hier tritt hauptsächlich gegenseitiges Vertrauen in den Vordergrund, denn gelingende ‚Integration’

setzt nicht nur Integrationsbereitschaft, sondern auch Toleranz und Akzeptanz bei der Mehrheitsgesellschaft voraus. Wer von den Migranten eine Anpassung an die Vorstellungen und Gewohnheiten der eigenen Kultur verlangt und dies als Eingliederung bezeichnet, blockiert die ‚Integration’.

Außerdem lehnen Soziologen wie Strohmeier, Eichener, Krau, Heitmeyer und Schiffauer die ethnische ‚Segregation’ ab. Für sie bedeutet dies ein klares Zeichen für Desintegration und Ausgrenzung und kann nur Ghettoisierungen vermehren und zur Bildung von Parallelgesellschaften führen. Desweiteren vermag eines der wesentlichen Probleme, nämlich das Sprachproblem, nicht gelindert zu werden, da sich die Kontaktmöglichkeiten zwischen Migranten und Einheimischen durch die

‚Segregation’ verringern. Jugendliche mit muslimischem und/oder arabischem Migrationshintergrund weisen daher die geringsten Erfolge im Bildungssystem auf und sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie ersetzen dann ihre fehlenden Leistungen entweder durch Gewalthandeln oder treten fundamentalistischen islamistischen Organisationen bei, so Dr. Gesemann:

„starke religiöse Bindungen gehen bei jungen Muslimen mit einer geringeren sprachlich-sozialen Integration, einer größeren Akzeptanz von Gewalt als Erziehungsmittel sowie traditionellen Geschlechtsrollen- und Männlichkeitskonzepten einher, was das Risiko gewaltförmigen Handelns in Konfliktsituationen erhöht.345 Diese Hindernisse sind schon im Schulleben bei den Kindern von Migrantenfamilien zu beobachten. Zu den Problemen gehören vor allem die fehlende individuelle und familiäre Unterstützung in der Schule. Ein gemeinsamer Punkt, den die Soziologen und Politiker für sehr wichtig halten, ist die Frage der religiös begründeten Kleidungsvorschriften und Vorstellungen, darunter das Tragen des Kopftuchs und die Teilnahme muslimischer Schülerinnen am Sport-,

345 Gesemann, Frank: Bildung und soziale Lage junger Zuwanderer in Berlin. Berliner Forum Gewaltprävention Nr.34, 2008, S. 23.: Berlin.de:

http://www.berlin.de/imperia/md/content/lblkbgg/bfg/nummer34/08_gesemann.pdf?start&t s=1210238176&file=08_gesemann.pdf. Letzter Zugriff am 08.07.2013, um 11:08 Uhr

Schwimm- und Sexualkundeunterricht sowie an Klassenfahrten. Um Lösungen für diese religiös begründeten bzw. emotionalen Probleme zu finden, soll, unter anderem, mehr über neue und erfolgversprechende Ansätze des pädagogischen Umgangs mit dem Thema Islam an deutschen Schulen in Erfahrung gebracht werden. Der islamische Religionsunterricht kann den Jugendlichen den Zugang zu einem aufgeklärten Islamverständnis ermöglichen. Am Schulgeschehen soll auch die Teilhabe von Eltern durch regelmäßig veranstaltete Versammlungen gefördert werden. Ein entsprechendes Beispiel dafür sind die „Stadtteilmütter“ in Neukölln, die andere eingewanderte Frauen mit Kindern bis zu 12 Jahren bei Hausbesuchen über das deutsche Schulsystem informieren. Das Projekt wurde als herausragende Integrationsmaßnahme ausgezeichnet und fand schnell Verbreitung. Einen größeren Wert wird auf Bildung und Ausbildung gelegt, da sie als Schlüsselfaktoren im Prozess der sozialen ‚Integration’ von Migranten gelten und die stärksten Potenziale einer Öffnung von Wertorientierungen in Richtung Moderne bieten.

Dieses Problemfeld liegt aufgrund seiner Dynamik und Komplexität eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen wissenschaftlichen Fachrichtungen wie der Literatur- und Kulturwissenschaft nahe. Durch die deutschsprachige ‚Migrationsliteratur’

bekam die Diskussion um die politische und die soziale Situation der Migranten eine neue Qualität, da die Autoren für ein besseres Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, aber auch für dessen Hindernisse Vorstellungen entwickelten. Die Literatur beschreibt und kommentiert die kritischen Umstände der Migranten im Aufnahmeland und die vorhandenen Schwierigkeiten beim Integrationsprozess. Die Schreibmotivation der Autoren erster Generation bezieht sich auf den Heimatverlust und den Alltag in der Fremde sowie das Bedürfnis, das Erfahrene und das Gedachte mitzuteilen, die Isolation zu durchbrechen und das Schweigen und Verdrängen zu überwinden. Das Leben der Migranten in Deutschland war vom Gefühl der kulturellen Fremdheit, einer teilweise

staatlichen Ausgrenzung, vermehrter Fremdenfeindlichkeit und vielfach mangelnder Sprachkenntnisse geprägt.

Die Autoren der zweiten Generation haben auch einige Themen ihrer Vorgänger behandelt, treten jedoch betont selbstbewusst auf. Sie haben mit dem „Jammern“ über den Verlust des Heimatlandes und dessen Verklärung sowie der Ursprungskultur aufgehört. Dies wird durch immer souveräner und differenzierter wahrnehmende und urteilende Erzählerfiguren abgelöst.

Emine Sevgi Özdamar beispielsweise hat in ihren literarischen Arbeiten Hauptaspekte moderner Migration thematisiert, nämlich die kulturellen, ökonomischen, sozialen, religiösen und historischen Aspekte. Sie kritisiert die Integrationsansätze und -konzepte, die häufig an Problemen vorbeigehen, ohne konstruktive Lösungen zu bieten. In den literarischen Werken von Feridun Zaimoğlu handelt es sich vorwiegend um die schwierige Selbstfindung der in Deutschland aufgewachsenen Kinder türkischer Einwanderer. Seine Interview-Erzählungen gestalten eine Art Bewegung der Migranten gegen die Diskriminierung und die vorhandenen Klischees sowie gegen eine verlangte Anpassung an die Mehrheitsstruktur.

Zaimoğlu zeigt auf, wie der türkische Migrant in Deutschland aufgenommen wird und wie er sich zurechtfindet. Durch seine fingierten

‚Protokolle' sind Integrationsprobleme zu enthüllen.

Darüber hinaus behandeln die AutorInnen Konflikte, die beim Zusammentreffen zweier Kulturen entstehen können. AutorInnen wie Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak, Zehra Çerak versuchen mit ihren literarischen Produktionen die Kultur des „Orients“ dem „Okzident“

zugänglich zu machen und Grenzen zu überbrücken. Daher wird diese Literatur sowohl von Zafer Şenocak als auch Zehra Çerak als

„Brückenliteratur“346 bezeichnet.

Die zweite Generation lebt im „Dazwischen“ und sucht daher nach ihrer gemischten Identität. Dies kann dazu führen, dass sich der Autor in einem Prozess zwischen dem Willen zur ‚Integration’ oder ‚Assimilation’ und zur

346 Gellner, Christoph: „Das Verhältnis zwischen Heiligem und Profanem muss immer wieder mit Spannung aufgeladen werden.“ Islam in Texten von Zafer Şenocak, S. 153 – 173. In: Hofmann, Michael/Von Stosch, Klaus (Hrsg.): Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Paderborn 2012, S.158 - 159

‚Segregation’ bewegt. Durch die Vermischung von verschiedenen Verhaltensweisen entstehen eigene hybride Existenzen. Sie entsprechen weder der Vorstellung einer deutschen kulturellen Identität noch einer eigenen. Somit kommen soziale Räume der Begegnung und Hybridisierung von Kulturen zustande, die den Kontext für die Herausbildung hybrider kultureller Identitäten bilden. Diese Aspekte der Interaktion in einer von kultureller Vielfalt geprägten Gesellschaft versucht die ‚Literatur ohne festen Wohnsitz’ zu erfassen. Die deutsch-türkische Literatur ist für die Gegenwart aufgrund ihres hohen interkulturellen Potenzials von großer Bedeutung. Dies wird in der Schreibweise der AutorInnen und ihrem eigenen Stil deutlich. Emine Sevgi Özdamar zeigt in ihren literarischen Werken ein ausgeprägtes Bewusstsein für sozio-politische und kulturelle Grenzen. In ihren Figuren entwirft sie facettenreiche Identitäten, die sich ständig unter verschiedenen heterogenen Kultureinflüssen verändern. Die Autorin stellt in den beiden Romanen „Die Karawanserei“ und „Die Brücke vom goldenen Horn“ die Mechanismen der Differenzerfahrung dar. Mit dem gemischten deutsch-türkischen Sprachstil hat die Verfasserin die Absicht, diese Differenzen sichtbar zu machen. Sie befasst sich mit psychosozialen Aspekten der Migration. Diese kommen auch in Feridun Zaimoğlus Erzählband „Kanak-Sprak“ vor, indem er seine ProtagonistInnen ihre Lebenssituation beschreiben lässt. Insofern erscheint „Kanak Sprak“ als eine Erkundung gleichermaßen kreativer und militanter Spielräume.

Erbarmungslose Kritik übt der Autor sowohl an den Einheimischen als auch den Deutschen mit türkischem Hintergrund. Das zeigt deutlich, wie reif und selbstsicher die ‚dritte Generation’ ist, die sich weder in Betroffenheit ergeht noch die eigene Herkunftskultur idealisiert. Es ist eine ‚Generation’, die einen Platz in der deutschen Gesellschaft beanspruchen und nicht mehr als

‚Migrant’ bezeichnet werden will. Es existiert auch daher kein einheitliches Bild von dem, was man sich unter „Literatur der dritten Generation von Autoren nichtdeutscher Herkunft“ vorstellen könnte. Spätestens seitdem ist die Kategorie der ‚Generation’ überflüssig.

8. Literaturverzeichnis