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Gesellschaftskritik aus der Position der „Kanaken“ am Beispiel des Arbeitslosen, des Dichters und des Islamisten

3. Bedingungen für Integrationspolitik

6.1 Zur Person und Werk von Feridun Zaimoğlu

6.1.3 Gesellschaftskritik aus der Position der „Kanaken“ am Beispiel des Arbeitslosen, des Dichters und des Islamisten

Die Protagonisten des „Kanak Sprak“-Werks üben radikale Gesellschaftskritik aus der Position gesellschaftlicher Verlierer aus. Der 25jährige Arbeitslose, Fikret, kritisiert beispielsweise das Verhalten der Deutschen, das durch Konventionen und unkritisch verinnerlichte Regeln bestimmt ist. „Der alemanne denkt, er hat zu viel von was, aber der hat zu wenig von was, und das is 'n grund, wo der mann das nicht fressen will, weil er sich freuen tut auf 'n schwindel wie komplikation, aber daß 's schissig schlicht vor ihm seiner nase baumelt, der kompakte fakt, so leicht zu pflücken und zu kosten, damit kannst du ja dem harten alemannenkacker nicht kommen, der kotzt eher ne angedaute tomate dir vor die füße, als daß er man erbarmen bergeifen täte. Ich seh die hier im land also nur würgen, und spaß haben, daß sie man würgen, und vom zuschauen kriegt alle welt s'würgen, und so hast du, bruder, ne pestige seuche, die in allen körpern regiert, weil man ihr die korne auf 'n kopp gelegt hat, und den flegelkönig windelnaß anwinselt, als wär der wirklich 'n blaublut und könnte über'n anbefohlenen leib herrschen.“ (KS, 81) Als Gegenreaktion auf die Verhaltensweisen der Deutschen bezeichnet sich der 29jährige Dichter, Memet, selbst als „Kanake“ und „Bastarde“. „Wir sind bastarde, freund, das

324 Ernst, Thomas: Jenseits von MTV und Musikantenstadl. Popkulturelle Positionierungen in Wladimir Kaminers „Russendisko“ und Feridun Zaimoğlus „Kanak Sprak“, S. 155. In:

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. IX/06., a. a. O., S. 148-158

325 Günter, Manuela: „Wir sind bastarde, freund…“ Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak und die performative Struktur von Identität, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 83. 1999, S. 27. In: Thomas, Ernst, a. a. O., S. 155

heißt, daß wir gedanken und empfindungen haben, für die wir nichts können, sowas wie ausgeknobelte kreaturen ohne sinn und rechtem verstand, die gerne eine gebrauchsanweisung hätten, oder einen heiligen katechismus, um dieses dumpfe brüten, das uns beherscht, abzuschütteln.

Ein bastard ist ein bündel aus irrationalismen, er hat eine abseitige mystik, die ihn zutiefst beunruhigt, er sieht zeichen und wunder, wo keine sind, wie er sich stets auf fremdem terrain bewegt. Man sagt dem bastard, er fühle sich unwohl, weil zwei seelen bzw. zwei kulturen in ihm wohnen. Das ist eine lüge. Man will dem bastard einreden, er müsse sich nur für eine einzige seele entscheiden, als ginge es um einen technischen handgriff, damit die räder sich verzahnen, als sei seine psyche ein lahmgelegter betrieb.“ (KS, 110) Mit seiner Positionsbestimmung und dem klaren Abstand wehrt er sich gegen die These, dass der „Kanake“ zwischen zwei Kulturen stehe und sich für eine entscheiden müsse. Der Autor will uns zeigen, dass auch der Deutsche oder der Nicht-Kanake eine potenziell gespaltene und zerrissene Persönlichkeit hat und dass deshalb nicht die „Homogenisierung des Abweichenden“ als Lösung der Entfremdung begriffen werden kann.326 Im Kontext der „Kanak-Sprak“ besteht eine gewisse Verbindung zu der deutschen Popliteratur der 90er Jahre, aus der ebenso eine klare Wendung gegen konventionelle Normen und den „Opportunismus einer in die Jahre gekommenen Erwachsenengeneration“ zu ersehen ist. Dabei tritt neben den Einwand gegen das autoritäre Bewusstsein eine Antipathie gegen die Generation der 68er, denen ein „übertriebenes moralisches Bewusstsein und eine Neigung zu einer Art Dauerreflexion nachgesagt“ wird.327 Die Figuren protestieren also hier gegen das spießige konventionelle deutsche Bewusstsein und gegen die Normen der deutschen Gesellschaft. Eine noch schärfere Gesellschaftskritik an Deutschland sowie auch am Westen allgemein formuliert die Yüçel-Figur. In seiner radikal-islamistischen Hassrede zieht er gegen die ungläubigen Deutschen verbal zu Felde. Das Leben im Land der Ungläubigen wird von ihm sehr negativ dargestellt. Er beschreibt es als ein Land, in dem nur Sitten- und Zügellosigkeit sowie

326 Hofmann, Michael, a. a. O., S. 235

327 Ebenda, S. 234

Gier, Sozialneid und soziale Kälte herrsche. „Der anfechtungen sind viele hier in der ungläubigen land. Die jugend wird geführt in lästerung durch baalhörige unterteufel, die gier und lust erwecken, gier nach hab und noch mehr hab, und lust auf nacktes frauenfleisch, das entblößt und aller hüllen beraubt keinen gedanken oder freien willen haben darf, wie ein haus mit einer rundherumfassende und einem blütenweißen anstrich, geht man aber hinein, ist das haus entkernt, und es wohnt keine menschenseele, dafür ist es vom erbauer nicht erdacht worden, aber nur für den einzigen zweck, daß man blicke wirft und bestaunt. […]. Und in diesem kalten nest wachsen die kinder auf, und verlieren ihr unvertrauen, weil sie ganz klar durchschauen, daß die eltern philister und pharisäer sind, heuchler ersten grades.“ (KS, 138-139) Der Islamist, Yüçel, der in alttestamentarischer Manier von

„Sünde“ und „Lästerung“ spricht und seine Ausdrücke mit Gottesanrufung

„Im namen des allerbarmers, des gnadenvollen“ beginnt und mit einer Gebetsformel, wie „Gott erhöre mich“ beendet, verwendet zugleich obszöne Wörter, in Anspielung auf die Bibel, wie die „hure babylon“ und „ihre fratze“. Damit trägt Yüçels Rede deutliche Züge der Hassrede des fanatischen Islamisten, insbesondere, indem er sagt „mein panzer ist das wort gottes.“ (KS, 140)

In „Kanak Sprak“ werden auch andere Protagonisten dargestellt, darunter Fikret, der seine Gesellschaftskritik weniger fanatisch formuliert und dabei immer wieder den islamischen Begriff „Erbarmen“ ins Spiel bringt. Somit ist auch der Islam eines der literarischen Themen in Zaimoğlus Werk, der bei der Identitätssuche und der ‚Integration‘ eine wesentliche Rolle spielt.

Hier stütze ich mich auf den Ansatz des deutsch und türkisch schreibenden Lyrikers, Romanciers und Essayisten, Zafer Şenocak: „Die muslimische Gemeinschaft braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen, die bei einer umfassenden Entdeckung des eigenen heterogenen kulturellen Erbes ansetzen muss und nicht halt machen darf, wenn es um Tabus geht, die andere Menschen oder Glaubensvorstellungen diskriminieren. Eine solche offene Auseinandersetzung gedeiht nur in einer Gesellschaft, die akzeptiert, dass sie nicht mehr monokulturell und

monoreligiös strukturiert ist und im kulturellen Pluralismus nicht nur eine Chance, sondern auch eine Stütze für Demokratie und Freiheit sieht.“328 Für ein gegenwärtiges Erscheinungsbild des Islam bzw. ein modernes Verständnis des Islam sind hauptsächlich die Stimmen intellektueller Muslime oder Menschen muslimischer Herkunft, die in Europa leben, von großer Bedeutung. Zu diesen Intellektuellen gehören unter anderem Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoğlu und Zafer Şenocak.

6.2 Feridun Zaimoğlu: „Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft“

Feridun Zaimoğlu veröffentlicht in seinem Werk „Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft“ in Form von Protokollen die Standpunkte der sechsundzwanzig interviewten Deutsch-Türkinnen. Diese Nachdichtungen geben die differenzierten Eigen- und Fremdwahrnehmungen der Protagonistinnen wieder, die aber zugleich von der Denkweise, Intention und Sprachfertigkeit des Autors beeinflusst sind.

Der Autor stellt Protagonistinnen der zweiten und dritten Generation vor.

Am Anfang jedes Protokolls erhält der Leser eine kurze Einführung zu der Figur in Bezug auf Alter, Beruf und die Umstände des Interviews. Erst im Verlauf des Interviews erfährt der Rezipient etwas über deren Positionsbestimmungen. Zu der Randgruppe gehören nicht nur die Rapperin, die Anarchistin, die Barfrau, die Prostituierte, die Arbeitslose und die Putzfrau, sondern auch die Verkäuferin, die Dolmetscherin, die Schriftstellerin, die Schauspielerin und die Friseurin. Dazu zählen auch Schülerinnen und Studentinnen. Sie gehören alle gemeinsam einer Randgruppe an, weil sie enormen Systemzwängen ausgesetzt sind, die sich aus den konkreten Bedingungen ihres Migrantenstatus ergeben. Die Fremderfahrung führt entweder zu einer verstärkten Orientierung an verschiedenen Kategorien, nämlich an der eigenen Religion (die Islamistin),

328 Şenocak, Zafer: Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam in Umbruch.

München 2006, S. 100-101, in: Gellner, Christoph: „Das Verhältnis zwischen Heiligem und Profanem muss immer wieder mit Spannung aufgeladen werden.“ Islam in Texten von Zafer Şenocak, S. 158. In: Hofmann, Michael/ Von Stosch, Klaus (Hrsg.): Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Paderborn 2012, S. 153-174

oder zu einer Abwendung von den eigenen Werten und Normen (die Schülerin). Die Protagonistinnen werden von der Intention des Autors geleitet, gegen die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und die Lethargie in der Gesellschaft anzukämpfen und gleichzeitig die Wurzeln für erheblich elitär und rassistisch geprägte Gefühle eines Individuums zu entlarven. Die Protagonistinnen wollen ihre eigene Wut über die Situation in Deutschland zum Ausdruck bringen, die das Hauptthema dieser Erzählung darstellt. So holt der Autor aus ihnen alles heraus und bringt es mit einer neuen unerwarteten Sprache auf den Punkt. Er gibt ihnen eine neue, vulgäre Stimme, mit der die verborgene Wut und die spezifischen Denkweisen nach außen dringen. Im Folgenden werden die Mechanismen der Positionsbestimmung als Randgruppe untersucht, indem die Zusammenhänge zwischen dem „Ich-Entwurf“ (Auto- und Heterostereotypisierung) und den dynamischen Grundkonzepten ihrer Randgruppenbildung (Opfer-Täter, Zugehörigkeit – Nicht-Zugehörigkeit) thematisiert werden. Für die Thematik der ‚Interkulturalität‘ in der Kultur- und Literaturwissenschaft stellt dieses Werk wegen seiner Vielfalt an zwischenmenschlichen Ich-Entwürfen einen interessanten Forschungsgegenstand dar, an dem Ursachen und Mechanismen von Selbst- und Fremdwahrnehmungen untersucht werden können. Aufgrund der Fülle von Protagonistinnen kann in der Analyse nur auf einige näher eingegangen werden.

6.2.1 Desintegration am Beispiel der Rapperin und der Arbeitslosen