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Kognitive Strukturierung des bilingualen Lernens

als Inhalts- und als Sprachlernen Helmut J. Vollmer

3. Von allgemeinsprachlicher Kommunikationsfähigkeit zu fachsprachlicher Diskurskompetenz

3.2 Kognitive Strukturierung des bilingualen Lernens

Damit die Zweitsprache diese zentrale Rolle für alle begrifflich-konzeptuellen Klä-rungen sowie inhaltlich-kognitiven Prozeduren und Operationen im Rahmen des bilin-gualen Unterrichts ohne Überforderung spielen kann, bedarf es, wie bereits angedeu-tet, zweier wichtiger didaktischer Maßnahmen, nämlich erstens einer Reduktion auf zentrale Erkenntnisziele und -inhalte sowie auf zentrale fachliche Aneignungs- und Verarbeitungsweisen sowie zweitens einer gewissen Kleinschrittigkeit in der Bestim-mung und im Aufbau von Lern- und Arbeitsweisen zur Lösung bestimmter Aufgaben im Umgang mit Informationsquellen der verschiedensten Art. An dieser Stelle sollen die wichtigsten Gesichtspunkte überblicksartig zusammengestellt werden, die unter kognitiv-prozeduraler Perspektive für eine didaktisch- methodische Strukturierung des bilingualen Lernens und Lehrens von Bedeutung sind.

1. Kernstück einer jeden Didaktik und Methodik bilingualen Lehrens und Lernens ist der Entwurf einer spezifischen Lerntheorie, die beschreibt und erklärt, in welcher Weise sachliches und fremdsprachliches Lernen im bilingualen Unterricht kognitiv zu-sammenhängen und wie diese Dimensionen theoretisch zu fassen sind.

2. Ganz allgemein geht es bei der Annäherung von Sprach- und Inhaltslernen darum, dass das Verstehen und Aneignen von Sachverhalten nicht nur an die Kenntnis zen-traler Konzepte, sondern hochgradig auch an die Entschlüsselung der sprachlichen Form gebunden ist. Umgekehrt ist die Auseinandersetzung mit Sachverhalten und die produktive Bezugnahme auf sie ein interaktiver Prozess, der die zunehmende Beherr-schung des lexikogrammatischen Systems erfordert bzw. voraussetzt.

3. Im Falle des bilingualen Unterrichts geht es auf der Basis von vorausgesetzten all-gemeinsprachlichen und alltagskommunikativen Fertigkeiten und Kenntnissen um deren Erweiterung hin zu solchen sprachlichen Handlungsweisen, die fachspezifisches Erkennen und Thematisieren möglich machen (von BICS zu CALP).

4. Methodisch muss in besonderer Weise ausbuchstabiert werden, wie die Begriffsbil-dung (also die spezifische Fachterminologie sowie die fachsprachlichen Ausdrücke) innerhalb eines bilingual-unterrichteten Sachfaches im Einzelnen erfolgen soll: eher deduktiv oder eher induktiv? Eher vom Lerner und seinem Alltagsverständnis her kommend oder sogleich an der spezifischen Begrifflichkeit orientiert, auf die sich ein Fach, eine Fachdisziplin geeinigt hat?

5. In Erweiterung dieses Problems muss die fachspezifische Borniertheit von Begriff-lichkeiten (ihre besondere Zugriffsweise auf Realität) ebenso wie deren kulturspezi-fische Aufladung thematisiert werden. Dies erfordert ein fachkritisches Vorgehen wie auch eine kontrastive Aufarbeitung fachspezifischer Konzepte (L1 / L2).

6. Die Sprachkompetenz, die im bilingualen Unterricht nötig ist und angestrebt wird, lässt sich als Sprache des verbalen Denkens charakterisieren. Sie dient als das Medium, mit dessen Hilfe eine kognitive Erschließung von Sachverhalten in relativ kontextarmen Situationen erfolgen kann und soll.

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7. Jede sprachliche Funktion, die aufgebaut und vermittelt wird, hat somit eine Ent-sprechung in kognitiver Hinsicht; kognitive Verfahren im Umgang mit Input-Material sowie in der Aktivierung von vorhandenem Vorwissen lassen sich gleichzeitig auch als sprachliche Funktionen auffassen.

8. Aus der Abhängigkeit der Kognition und des Denkens von symbolischen Be-zeichnungen und sprachlich geprägten Operationen folgt, dass die fachlich relevanten Arbeitsweisen zugleich sprachliche Handlungen sind, durch die diese Arbeitsschritte vollzogen werden. Es besteht also eine Simultanität zwischen dem Arbeitsschritt, der fachlich angemessen erscheint, und der Beherrschung und Verfügung über eine dem-entsprechende sprachliche Handlung.

9. Solche fachlich bestimmten Umgangsweisen mit Materialien und Erkenntnissen einer bestimmten Art beziehen sich auf spezifische Voraussetzungen, Begriffe, Benen-nungen, Verständigungsvorgänge und Kommunikationsprozesse, die allesamt in der Fachtradition verankert sind und damit scheinbar nicht mehr der Explikation bedürfen.

Im bilingualen Unterricht jedoch wird ihre Explikation auf dem Wege über die Fremd-sprache mehr oder minder erzwungen (Bonnet 1999). Es geht hier um weit mehr als nur um die Vermittlung von Fachvokabular oder Fachterminologie; es geht eher um die Versprachlichung fachlicher Denk- und Erkenntnisweisen, also auch um die Grundlegung wissenschaftspropädeutischer Arbeits- und Handlungsweisen, wie sie sich etwa in den Kategorien defining, describing, explaining, concluding und eval-uating widerspiegeln.

10. Es bedarf dringend einer weiteren Ausformulierung dieser groben Kategorisie-rungen, die bislang für fachrelevante Arbeitsweisen gefunden worden sind. Diese sind zunächst fachübergreifend formuliert, sodass sich ein Gesamtzusammenhang zwischen allen bilingualen Fächern in einem einheitlichen Bildungsgang ergibt. Gleichzeitig müssen sie aber realistischerweise pro Fach und pro Thema und nicht zuletzt pro Gegenstand und konkreter Handlung weiter differenziert werden.

11. Als Beispiel sei hier die kognitiv-sprachliche Handlung des Vergleichens ange-führt. Das Vergleichen von unterschiedlichen Gegenständen, Bedingungen, Perspek-tiven usw. kann kognitiv unterschiedlich komplex und anspruchsvoll ausgeprägt sein;

im Grunde genommen gibt es viele Spezifizierungen der allgemeinen kognitiven Kate-gorie Vergleich; die Anwendung des Vergleichsvorgangs auf unterschiedliche Be-reiche und Sachverhalte führt letztlich auch zu unterschiedlichen kognitiv-konzeptu-ellen Qualitäten, die eigentlich präziserweise unter dem Gesamtdach des Vergleichs untergliedert werden müssten.

12. Das Beispiel zeigt, dass wir zum einen kognitiv-prozedurale Kleinschrittigkeit be-nötigen, um zu mehr methodischen Hilfestellungen für die Lerner zu kommen, zum anderen aber, dass eine Kopplung zwischen allgemeinen kognitiven Verfahren und ihren begrifflich-notionalen Ausprägungen und Konkretisierungen nötig ist. Man kann also die Kategorie des Vergleichs nicht leicht einem einzigen bestimmten Anforde-rungsbereich zuordnen, wie dies etwa die Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) für die Bezugsfächer der Sekundarstufe II im Lande Niedersachsen zu tun versuchen.

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Dort rangiert die Kategorie to compare im Anforderungsbereich zwei, während sie ebenso im Bereich eins (für einfaches, beschreibendes Vergleichen) oder drei (für komplexere Vergleichsvorgänge) angesiedelt sein könnte.

13. Dennoch könnte der Gedanke einer Hierarchisierung von kognitiven Anforde-rungen und involvierten Leistungen bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben(typen) aus dem EPA-Konzept für den bilingualen Unterricht adaptiert werden. Der erste An-forderungsbereich umfasst dort beschreibende und rekonstruierende Leistungen, der zweite analysierende und vergleichende Leistungsanforderungen, der dritte schließlich evaluierende und kommentierende Leistungen. Dabei werden diese Bereiche als hierarchisch miteinander verknüpft betrachtet, d.h. wenn eine Leistung aus dem dritten Anforderungsbereich erwartet und abgefragt wird, dann schließt das notwendigerweise Leistungen aus den beiden unteren Bereich mit ein. Welche Anforderungen warum zu einer bestimmten Komplexitätsstufe gerechnet werden, bleibt allerdings völlig offen.

So arbiträr diese Kategorisierungen und Hierarchieebenen insgesamt auch sein mögen, so weisen sie doch in die richtige Richtung für eine fächerübergreifende curriculare Neuorientierung auf kognitiv-sprachfunktionaler Grundlage, so wie es auch das Kon-zept Languages across the Curriculum akzentuiert. In ihm wird die sprachliche Ver-mitteltheit aller kognitiven Vorgänge und folglich die curriculare Notwendigkeit einer Sprachförderung innerhalb aller Fächer betont.

14. Im Gegensatz zu der hier anvisierten Perspektive einer Ausdifferenzierung von sprachlich-kognitiven Handlungen gibt es in der curricularen Diskussion auch die gegenläufige Tendenz, das Inventar von Sprachhandlungen und kognitiven Prozessen auf ein Minimum zu beschränken und deren Abwandlung und Variation dem einzel-nen Lehrer zu überlassen. Vertreter dieses Ansatzes legitimieren dies mit dem Hinweis auf jene Kerninhalte und Kernprozesse, die es durch ständige Anwendung und Wiederholung aufzubauen und sicher zu beherrschen gilt (z.B. Thürmann / Otten 1992). Die Differenzierungen, die meinerseits weiter oben angemahnt wurden, führen aus Sicht dieser Autoren eher zu einem nicht mehr handhabbaren System von Einzel-schritten und Einzelverfahren, das in einer Alltagstheorie von Lernern und Lehrern keine Überschaubarkeit und insofern keine Geläufigkeit mehr garantiere. Hier treffen pädagogische Erwägungen und wissenschaftliche Argumente aufeinander.

15. Unter wissenschaftlich-analytischen Gesichtspunkten ließe sich sogar eine weitere Differenzierung sprachlich-kognitiver Handlungen je nach Informationsart oder Input-Typ denken. Hier ist vor allem der differenzielle Umgang mit Informationssorten oder -trägern unterschiedlichster Art (von Statistiken, Graphen, Bildern, Cartoons bis hin zu Texten) von Belang. Im Hinblick auf diese differenzierten Informationsträger ein-schließlich der verschiedenen Medien sind die o.g. Grobkategorien von Sprachhand-lungen einfach zu weitmaschig und bedürfen der Untergliederung (vgl. Heine, erscheint).

16. Allein schon in der Beschränkung auf schriftliche Texte als dominante Informa-tionssorte lässt sich eine Differenzierung je nach Zielsetzung und Bearbeitungsart eines bestimmten Materials vornehmen. Eine Ausformulierung genauer, zu erlernender

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und zu beherrschender Teilschritte (etwa bei der Texterschließung oder der Text-produktion, aber auch bei der Rekonstruktion von Textteilen oder der Verknüpfung mit anderen Bedeutungen) wäre also aus meiner Sicht bereits ein großer Gewinn (vgl.

Helbig 1999, 2000).

17. Der Sammelbegriff der methodischen Kompetenz bzw. der fachrelevanten Arbeits-weisen (study skills), wie er bisher aufgeschlüsselt wurde, scheint mir im Übrigen sowohl die Ebene von einzelnen Lern- und Arbeitstechniken als auch die von zusammenhängenderen Operationen bzw. Handlungssequenzen sowie die von hand-lungsleitenden Strategien; also mehrere trennbare kognitive Ebenen in aufsteigender Komplexität zu umfassen.

18. Auf der Strategieebene selbst lassen sich beispielsweise Strategien des Lernens, des Erschließens, des Hinzufügens, des Kommunizierens usw. recht unterschiedlichen Planungsarten und damit kognitiven Anforderungen zuordnen, die im bilingualen Unterricht wiederum in unterschiedlichen Versprachlichungsformen und ggf. in unter-schiedlichen Sprachen (L1/L2) zu realisieren sind. Andererseits sind alle Strategien, egal worauf sie sich beziehen, in ihrer Umsetzung auf prozedurale Kompetenzen an-gewiesen; beide besitzen eine sprachliche und eine kognitiv-handlungsmäßige Seite.

19. Schließlich bleibt das metakognitive Nachdenken über die Kognitionen selbst und dessen, was sie leisten, wie sie ineinander greifen, wo ihre jeweiligen Stärken oder Grenzen liegen. Hierzu bedarf es eigener Versprachlichungsangebote bzw. eigener kognitiver Kategorien, die es erlauben, sich über die angeleiteten Lernvorgänge bzw.

über den Selbstlernprozess und die dabei angeforderten oder selbständig durchlaufe-nen Schrittfolgen und Handlungen klar zu werden und sich darüber zu verständigen.

20. Die vorerst letzte Differenzierung wäre auf der Ebene der kommunikativ-interakti-ven Prozesse (im Klassenverband, in der Gruppe, in der Partnerarbeit, im inneren Selbstgespräch) und den jeweils darin liegenden kognitiven Anforderungen vorzuneh-men. Denn schließlich werden individuelle Lerner in der Regel gebeten, sich über ihre Arbeitsergebnisse zu verständigen, sodass kommunikative Austauschprozesse unter-schiedlicher Reichweite und Abstraktion entstehen, in dem nicht nur die gewonnenen Einsichten und Inhalte, sondern auch die (kognitiv-methodischen) Lernwege, Vor-gehensweisen und Arbeitsverfahren mit den entsprechenden funktionalen Benen-nungen eine Rolle spielen. Also muss es sprachliche Stützangebote geben, um eine solche Kommunikation über den sachfachlichen Erkenntnis-, Lern- und Reflexions-prozess selbst zu thematisieren.

Die genannten Punkte machen deutlich, dass es im bilingualen Unterricht nicht allein darum geht, sprachlich-terminologische Sicherheit und Sprachrichtigkeit im Hinblick auf die Inhalte des Lernens aufzubauen, sondern dass die Hauptherausforderung darin besteht, kognitiv-konzeptuelle Anforderungen im Umgang mit Sachwissen an Sprach-funktionen generalisierender Art zu koppeln und deren Realisierung fremdsprachlich aufzubauen und sicherzustellen. Ein solches Bestreben kann dann im besten Fall nicht nur zur Vermittlung eines zweiten Kodesystems führen, in dem sich der Lerner zuneh-mend flexibel und sach- wie situationsgerecht ausdrücken kann, sondern zur Überprü-Gerhard Bach and Susanne Niemeier - 9783653011111

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fung, Erweiterung und Konsolidierung des kognitiven Systems als Ganzes -und zwar auf dem Umweg über die Zweit- oder Fremdsprache vermutlich besser als über die Reflexion von muttersprachlichen Handlungen und Kognitionen, die in der Regel als bekannt vorausgesetzt und dennoch wenig verfügbar sind. In der Verwendung einer Zweitsprache für dieselben Erkenntnisvorgänge sind die intellektuellen Anforderungen zunächst höher, weil die fremde Sprache ein oberflächliches Aneignen, Erkennen oder Drauflosreden über Inhalte erschwert. Deshalb ist die Abfolge von kleineren Schritten in der Erschließung eines Sachverhalts im Kontext des bilingualen Unterrichts so nötig und so erfolgreich, weil auf diese Weise die Mehrzahl der Lerner am Ende das er-forderliche kategoriale Wissen besser konstruiert, vernetzt, integriert und behält.