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Bilinguale Erziehung im internationalen Kontext

als Inhalts- und als Sprachlernen Helmut J. Vollmer

1. Bilinguale Erziehung im internationalen Kontext

Bilinguale Erziehung und bilingualer Unterricht gelten als eine erfolgreiche Form des Zweitspracherwerbs und sind inzwischen international anerkannt. Sie stellen eine radi-kale Alternative zum traditionellen Fremdsprachenunterricht dar, indem sie sich nicht mehr auf die Vermittlung der Zielsprache als grammatikalisches Regelsystem (focus on forms), sondern auf die Verwendung der Zielsprache für fachlich-inhaltliche Lern-prozesse (focus on content) richten und damit Spracherwerb auf implizite, 'natürliche' Weise befördern. Während der traditionelle, grammatikorientierte Unterricht weltweit immer noch gut über 90% allen gesteuerten Fremdsprachenlernens ausmacht, sind die inhaltsorientierten Gegenmodelle langsam auf dem Vormarsch. Und das, obwohl wir im Grunde genommen immer noch sehr wenig über die eigentlichen Spracherwerbs-prozesse wissen, die bei den bilingualen Lernern stattfinden.

Anders als viele andere bilinguale Erziehungsexperimente auf der Welt zeichnen sich die französischen Immersionsprogramme in Kanada u.a. dadurch aus, dass sie durch eine Vielzahl von langfristig angelegten Untersuchungen begleitet und auf diese Weise in ihren Ergebnissen besser als irgendwo sonst dokumentiert worden sind. Ich will hier weder auf die verschiedenen Varianten des Immersionsansatzes noch auf die Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsergebnisse aus den letzten 30 Jahren eingehen (vgl. dazu u. a. Genesee 1987, Harley et al. 1990, Johnson / Swain 1997, Lambert / Tucker 1972, Rebuffot 1993, Swain / Lapkin 1982 sowie unzählige weitere Veröffentlichungen in Sammelbänden und wissenschaftlichen Fachzeitschriften).

Theoretisch basierte der Immersionsansatz zunächst auf zwei grundlegenden An-nahmen: auf der Identitätshypothese von Dulay / Burt (1974) und auf der Compre-hensible-Input-Hypothese von Krashen (z.B. 1981, 1985). Erstere geht davon aus, dass eine Zweitsprache in derselben (identischen) Weise erworben werden kann wie die Muttersprache; Krashens Hypothese dagegen behauptet, dass verständlicher Input die einzige Variable ist, die Zweitspracherwerb kausal steuert und erklären kann (z.B.

1981: 57). Beide Theoreme reichen jedoch, wie wir sehen werden, nicht aus, um die empirischen Daten der kanadischen Unterrichtsforschung hinreichend interpretieren zu können.

Im Vordergrund des kanadischen Experiments stand von Anfang an weniger die Frage des Sachfachlernens als die des Zweitspracherwerbs und sein Verhältnis zur muttersprachlichen Entwicklung sowie die konkrete Ausprägung der sprachlichen und kommunikativen Kompetenz in der Unterrichts- und Zielsprache (Französisch). Im Hinblick auf unsere Fragestellung sei hier nur so viel berichtet, dass sich in wieder-holten "Messungen" gezeigt hat, dass die anglophonen Schülerinnen und Schüler

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(besonders die der frühen Immersion) in der Tat ein hohes Maß an Flüssigkeit im Sprechen und an Lesefähigkeit im Französischen erwerben, und zwar ohne Beein-trächtigung ihrer intellektuellen Fertigkeiten in der Muttersprache (Englisch). Diese muttersprachlichen Fähigkeiten entwickeln sich schon bald nach Beginn der förm-lichen Unterrichtung der L1 (in der Regel ab Klasse 3 bzw. 5) relativ normal, ver-gleichbar denen von Nicht-Immersionskindern. Gemessen an der Norm von Mutter-sprachensprechern des Französischen allerdings sind die rezeptiven Fertigkeiten bei bilingualen Lernern insgesamt sehr viel besser entwickelt als die produktiven Fertig-keiten. Während die bilingualen Lerner am Ende der Grundschule (in Klasse 6 also) in entsprechenden Tests ähnliche Werte im Hörverstehen und im Lesen des Franzö-sischen aufweisen wie die nativen Sprecher, gibt es im Bereich des Sprechens und Schreibens erhebliche Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Die Defizite der bilin-gualen Lerner treten besonders deutlich auf der Ebene der Grammatik zutage; auch ist die Langfristigkeit ihres Lernerfolgs nicht sichergestellt (Vollmer 1992).

Zur Erklärung dieser Befunde ist u.a. darauf verwiesen worden, wie wenig Kontakt die anglophonen Immersionsschüler mit französischsprachigen Sprechern (selbst in ihrer eigenen Schule ebenso wie außerhalb des Schulkontextes) tatsächlich haben. Als weiteres Problem werden sodann die dominanten pädagogischen Verhaltensweisen von Immersionslehrern und deren gängige Unterrichtspraxis genannt, die sich auf-grund von Beobachtungen tendenziell als hochgradig lehrerzentriert und instruktivis-tisch (transmission-oriented, Cummins 1996) erwiesen haben. Den Lernenden wurden insgesamt wenig Möglichkeiten eingeräumt, ihr Französisch in mündlicher oder schriftlicher Form für kreative oder problemlösende Aufgabenstellungen zu benutzen (vgl. hierzu auch Harley et al. 1990). Immersion in der kanadischen Variante schien zu einem bestimmten Typ von Interlanguage-Profil zu führen, das sich auf einem be-stimmten Niveau einpendelt und dort sozusagen fossiliert, weil die Schülerinnen und Schüler keine Notwendigkeit sehen bzw. keinen Zwang verspüren, ihre festgeschrie-benen Annahmen und falschen Hypothesen noch weiter zu überprüfen und der Ziel-norm anzunähern: Schließlich können sie sich ja einigermaßen verständlich machen und werden in ihrer kommunikativen Ausdrucksfähigkeit (vom jeweiligen Lehrer zu-mindest!) akzeptiert. Wir stoßen hier auf ein sensibles Problem im Verhältnis von grammatischer Norm und kommunikativer Verstehbarkeit bzw. Akzeptabilität, das uns noch eingehend beschäftigen wird.

Die Datenbasis für diese Erkenntnisse stammt in der Regel aus den 1980er Jahren.

Seit dieser Zeit, seit etwa 20 Jahren also, hat deshalb eine breite Diskussion über die Didaktik und Methodik des bilingualen Lernens stattgefunden. "It appears, then, that in immersion classes where language and content learning are equally important goals, the question of how to achieve a close relationship between the teaching of structure and the teaching of meaning is a topic that deserves serious consideration" (Harley et al. 1990: 75). Dabei setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass das Sprachen-lernen sich nicht selbst überlassen bleiben kann, sondern, dass es im Rahmen der bilin-gualen Programme selbst gezielter Sprachförderung bedarf, und zwar über jene 20-30 Minuten hinaus, die bei früher und vollständiger Immersion in den ersten Jahren als Gerhard Bach and Susanne Niemeier - 9783653011111

begleitender Fremdsprachenunterricht ohnehin angeboten werden. Vom Kindergarten über die Primarstufe bis in die Oberstufe der Sekundarschule hinein sollte also, so die Vorschläge der Immersionsforscher, verstärkt auf den Aufbau und die Erweiterung von Sprachentwicklung und von diskursiver Sprachkompetenz einschließlich der dafür notwendigen Strukturenbeherrschung geachtet werden. Die Umsetzung dieser Vor-schläge ist seit langem im Gange (vgl. z.B. Harley 1993, Swain / Lapkin 1995, Swain 1998), doch liegen noch keine neuerlichen breit angelegten Untersuchungen mit ent-sprechend repräsentativen Ergebnissen vor, die eine Verallgemeinerung der neuen Er-fahrungen erlauben würden.

Diese Debatte im Verhältnis von Inhalts- und Sprachlernen ist bei uns bislang kaum breiter rezipiert und mit hiesigen Diskussionen verknüpft worden. Sie bedeutet eine entschiedene Neubestimmung und Herausforderung für die inzwischen fast eingefah-renen Wege bilingualen Lernens. Denn es handelt sich hier um nichts weniger als um die Entwicklung eines dritten Typs von Spracherwerb: nämlich weder um eine Rück-kehr zu einem grammatikorientierten noch um einen ausschließlich inhaltsorientierten Ansatz, sondern um eine verbindende Variante, die im Wesentlichen zwar an der Ver-mittlung von Fachinhalten mit Hilfe der Zielsprache als Arbeitssprache festhält, die jedoch Elemente einer funktionalen Beschäftigung auch mit sprachlichen Formen (focus on form / negotiation of form) in sich aufgreift, soweit dies nötig und zur Unter-stützung der Lernenden in ihrem Bemühen um inhaltliche Genauigkeit im Verstehen und in der Präzisierung ihrer Aussagen richtig erscheint. Diese 'aufgeklärte' Variante ist in Nordamerika in den letzten Jahren unter dem Stichwort focus on form diskutiert worden (vgl. etwa Doughty / Williams 1998). Dabei kennt man inzwischen eine Band-breite von Erfolg versprechenden Verfahren der punktuellen Fokussierung der Lerner-aufmerksamkeit auf Sprache und sprachliche Form als Mittler inhaltlicher Äuße-rungen, ohne dass der fachlich-kommunikative Gesamtzusammenhang aus den Augen verloren wird (vgl. jüngst Zydatiß 2004, 2005; Vollmer 2004, 2005).

Im Prinzip wissen wir jedoch bis auf den heutigen Tag wenig darüber, was in den Klassenzimmern der Immersionszweige konkret passiert, und zwar weder aufseiten der bilingual Lernenden noch aufseiten der bilingual Unterrichtenden, weder in ihren spezifischen Aneignungsformen und -strategien noch in jenen Lehrentscheidungen und -strategien und deren gemeinsamen Interaktionen. (Das gilt erst recht für unsere Ver-hältnisse in Deutschland.) Dennoch ist anzunehmen, dass sich im Rahmen der bilin-gualen Ansätze in Kanada die didaktisch-methodischen Prinzipien inzwischen aufgelo-ckert haben, dass mehr als vorher mit Sprachlehransätzen experimentiert und dass stär-ker als früher in Richtung auf kooperatives Lernen und projektorientiertes Arbeiten hingedacht wird. Es findet, mit anderen Worten, zur Zeit eine Annäherung an neuere Erkenntnisse und Entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik statt, die besser als bisher in den bilingualen Unterricht integriert werden (z.B. Kowal / Swain 1997). Dies wird von verschiedenen Seiten nachdrücklich gefordert und scheint auch unter den Aspekten einer gezielten Lerner-, Kognitions- und Handlungsorientierung dringend geboten zu sein (eine ähnliche Diskussion läuft parallel in Deutschland ab (vgl. etwa Wolff 1997, Vollmer 1998): Unter dem Aspekt eines beschleunigten, umfassenden Gerhard Bach and Susanne Niemeier - 9783653011111

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und erfolgreichen Zweitspracherwerbs scheint gerade das bilinguale Lernen bzw. der bilinguale Unterricht von seiner Anlage sowie von seinen Entfaltungsmöglichkeiten her besonders dazu geeignet, die oben genannten Prinzipien aufzugreifen bzw. zu realisieren und das Lernen nach den neuesten Erkenntnissen einer kognitiv basierten Wissens- und Lernpsychologie sowie einer kritischen, interaktiven Pädagogik zu ge-stalten.1

In Kanada ist inzwischen niemand mehr darüber besorgt, ob denn durch den Immer-sionsansatz auch genügend Fachwissen vermittelt wird und ob die bilingualen Lerner vergleichbare Kenntnisse in den verschiedenen fremdsprachlich unterrichteten Sachfä-chern erwerben. Diese Frage scheint in mehreren Untersuchungen ein für alle Mal ge-klärt worden zu sein, die allesamt den Nachweis erbrachten, dass die bilingualen Ler-ner zumindest am Ende von 3 bis 4 Jahren Immersionsunterricht keine nennenswerten Wissensdefizite gegenüber ihren monolingual unterrichteten Mitschülern aufwiesen.

Auch konnte die zweitsprachlich vermittelte Sachfachliteralität auf längere Sicht offenbar ausreichend auf die L1 (rück-)übertragen werden, sodass sich hier in späteren Jahren ebenfalls keine Nachteile zeigten. Zusammenfassend lassen sich die kanadi-schen Erfahrungen eines schulisch vermittelten additiven Bilingualismus in sprach-licher, intellektueller schulleistungsbezogener Hinsicht wie folgt festhalten: Die Ent-wicklung sprachlich-kognitiver Fertigkeiten und Fähigkeiten in beiden beteiligten Sprachen sowie einer doppelten Literalität (unter Einschluss einer zumindest basalen schriftsprachlichen Mitteilungsfähigkeit) zieht keine negativen Auswirkungen für die Lernenden in ihrer normalen sprachlichen, geistigen und emotionalen Entwicklung nach sich. Im Gegenteil weisen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse – allerdings in nicht-stringenter Weise – auf einen leichten Zugewinn bei den bilingualen Lernern im Sinne einer stärkeren Ausprägung von metasprachlichen, allgemein-kognitiven sowie schulleistungsbezogenen Fähigkeiten einschließlich der Beherrschung wissen-schaftspropädeutischer Verfahrensweisen hin. Ähnliche subjektive Eindrücke werden von bilingualen Lernern in Deutschland berichtet, die sich vor allem dadurch auszu-zeichnen scheinen, dass sie die Zielsprache mit großem Selbstvertrauen in fast jed-weden Anforderungssituationen flexibel gebrauchen können und über ein deutlich ent-wickeltes Repertoire an fachlichen Analyse- und Denkfähigkeiten verfügen – ohne notwendigerweise immer auf sprachliche Richtigkeit oder stilistische Angemessenheit zu achten2. Allerdings sind ausreichend repräsentative Untersuchungen zum Nachweis der spezifischen Stärken bilingualer Lerner in fachlicher und sprachlicher Hinsicht eher rar und daher empirische Arbeiten wie die von Zydatiß (2007) besonders bachtenswert.

2. Bilingualer Unterricht in Deutschland: Unterschiedliche Sichtweisen