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4   Identitätsbildung aus entwicklungspsychologischer Sicht

4.2   Kognitive Entwicklung des Jugendlichen

Die Zusammenfassung nach Mussen (1991, S. 64) sagt über die Besonderheiten der kognitiven Entwicklung des Jugendlichen im Jugendalter nach Piaget folgendes aus:

„Der Jugendliche kann deduktiv denken, kann Hypothesen über mögliche Problemlösungen aufstellen, kann viele veränderliche Faktoren gleichzeitig im Gedächtnis behalten. Er ist fähig, wissenschaftliche Überlegungen anzustellen, Schlüsse in formaler Logik auszuführen, und er kann sich auf die Form einer Beweisführung beschränken, dabei den konkreten Inhalt ausschließen. Daher wählte Piaget die Bezeichnung formale Denkoperationen“ (Gudjons 2008, S.132).

„Stratmeyer resümmiert, gemäß der kognitiven Entwicklungstheorie Piagets könne von adoleszenten Auszubildenden in der Pflege nicht grundsätzlich die Stufe formaler Operationen, d.h. Abstraktionsvermögen, erwartet werden (Stratmeyer 1994:14). Er führt unter Bezugnahme auf Kohlberg und Gilligan weiter aus, dass in diesem Alter keine reifen Moralurteile erwartet werden könnten. »Die Berücksichtigung universeller ethischer Normen- und Wertesysteme und die angemessene Integration von Eigen- und Fremdinteressen in dieses System erfordern eine moralische Reife, die nicht einmal grundsätzlich im späteren Erwachsenenalter vorausgesetzt werden kann.« (ebd.) Stratmeyer zieht ein pessimistisches Fazit: Bei ihm habe sich die Hypothese erhärtet, dass von den adoleszenten Auszubildenden eigentlich nahezu Unmögliches verlangt werde. Die an sie gestellten Erwartungen könnten sie keineswegs erfüllen; diese stellten eine eklatante Überforderung dar (ebd.; vgl. ders. 1996)“ (Lay 2012b, o.

S.).

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Ein sehr frühes Eintrittsalter stellt also für den Verlauf der Ausbildung ein Hindernis dar. Die Überforderung bei jüngeren Auszubildenden kann ein Hinweis für verfrühte Abbrüche sein.

Im Grunde genommen hat jeder junge Mensch, der über gute physische und psychische Voraussetzungen verfügt, die Chance, den Zustand der formalen Denkoperationen zu erreichen (vgl. Baacke 2003, S. 119).

Baacke meint dazu weiter: „Jugendliche, die als Kinder häufig getadelt wurden, so dass sie kein stabiles Selbstkonzept entwickeln konnten; deren reiz- und alternativarme Umwelt ihnen besondere Anregungen vorenthielt; die durch überforderte Eltern, strikte Kontrollen oder partielle Misserfolge unsicher gemacht worden sind – sind alle nicht konstitutiv „dumm“, sondern „behindert“.

Wir wissen inzwischen auch, in welch engem Zusammenhang Intelligenz und Motivation stehen, derart, dass diese jene ganz entscheidend fördert“ (ebd., 2003, S. 119). Nach einer Beschreibung des deutschen Bildungsrates 1975 [...] ist die

„Intelligenzleistung immer mehr auf voneinander unabhängige psychische Komponenten zurückzuführen“ (ebd., 2003, S. 122).

Die Theorie Piagets besagt, dass Jugendliche, speziell zwischen 16 und 19 Jahren, die „Fähigkeit, aus dem Konkreten allgemeine Prinzipien abzuleiten“ erlangen (vgl. ebd., 2003, S. 122). Mögliche Einflussfaktoren werden dabei gänzlich ausgelassen.

Baacke betont dabei die Differenzierung der kognitiven Fähigkeiten im Jugendalter und pocht auf die Interessensförderung der Jugend, welche dann die erwünschten Leistungen zu Tage bringen. Dabei erhält die sogenannte „sekundäre Sozialisation“ (Interessensförderung durch Schule und Familie) eine tragende Rolle (vgl. ebd., 2003, S. 123f.).

Die Generalisierung der jungen Menschen steht bei den Schulen immer noch im Mittelpunkt. Interessen und Neigungen werden oft nicht erkannt und dadurch wird der Individualität zu wenig Beachtung und Förderung zugedacht.

Es ist zu berücksichtigen, dass die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben sehr viel Energie kosten, sie haben Einfluss auf die Motivation und darum in weiterer Folge auch Einfluss auf die Entwicklung der Intelligenz. Somit können auch

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intelligente Jugendliche unter ihr kognitives Leistungsniveau fallen (vgl. Gudjons 2008, S.132).

Werden solche Entwicklungshemmnisse in einem Curriculum berücksichtigt? In den Schulen geht es meistens im Programm weiter und es wird oft nicht weiter nachgefragt. Es mangelt an Pufferzonen, in denen auf Schwächen und spezielle Förderungen eingegangen werden kann. Dabei kreist alles um die Frage, was der Jugendliche alles nicht kann.

Eine Kommilitonin der Autorin untersucht aktuell in ihrer Masterarbeit die Ausstiegsrate von SchülerInnen während der Ausbildung zur/zum Gesundheits- und Krankenschwester/pfleger. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Abbrüche im 1. Ausbildungsjahr stattfinden und zwar in den ersten drei Monaten. In dieser Zeit finden an dieser zu untersuchenden Schule für Gesundheits- und Krankenpflege drei wichtige, sehr lernintensive Teilprüfungen statt, die den SchülerInnen sehr viel abverlangen. Diese Untersuchung ist nicht generalisierbar, da sie auf diese bestimmte Schule, auf eine gewisse Zeit und Schüleranzahl beschränkt, stattfindet. Sie lässt vielmehr aufhorchen und bestimmte Ahnungen zu. Das Abbruchsalter war nicht Gegenstand dieser Arbeit, wenn jedoch von dem sehr frühen Ausbildungsalter von 16 Jahren ausgegangen wird, könnte dies, entwicklungsbedingt, mit ein Grund für die verfrühten Ausfälle sein.

Nach einer Statistik des Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), die fortlaufend seit 1977 stattfindet, sind sämtliche Berufe öffentlich zugänglich mit Ausbildungszahlen in Bezug auf Vertragslösungen, Ausbildungszahlen und bestandene Prüfungen aufgelistet. Es zeigt sich dabei, dass sich die Häufigkeit der Ausbildungsauflösung auf die ersten drei Monate konzentriert (vgl. Bremer 2011).

Auf Anfrage bei Hr. Dr. Bremer über die neuen Medien, antwortete dieser in Bezug auf Ausbildungszahlen und Abbrüche in der Pflege:

„Sogar im jährlich dem Bundestag vorzulegenden Berufsbildungsbericht von 444 Seiten mit Daten findet sich keine Erwähnung der Ausbildungswirklichkeit in den Pflegeberufen. Sie sind nach wie vor von den Konfessionen bzw. den großen Wohlfahrtsunternehmen wie Arbeiterwohlfahrt dominiert und als Schulberufe nicht nach BBiG oder HwO organisiert“ (Bremer 2013).

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Genau diese fehlenden Zahlen sind der Knackpunkt in der Pflege. Interessant wäre in diesem Falle eine großangelegte Studie über die eingangs erwähnte Ausbildungswirklichkeit, um Handlungswege für eine stabile Basis zu finden und kognitive Leistungseinbußen, sollten diese sich zeigen, in der Ausbildung zu berücksichtigen.

Es muss in erster Linie zu einem Umdenken kommen im Sinne von: Was kann ich von Jugendlichen dieser Altersgruppe verlangen?

Ein sinnvoller Anspruch an die Jugendlichen wird verstanden „[...] – als eine Herausforderung, der sie sich stellen müssen, um ihre Intelligenzentwicklung abzuschließen. Für den Übergang von der Sekundarstufe I in die Berufsbildung können wir keine spezifischen, im Sinne von beruflich relevanten Kompetenzen voraussetzen – diese sollen ja erst erworben werden“ (Bremer 2011).

Außerdem ist während der Pubertät ein Einbruch der schulischen Leistungen vorgesehen, schwankt aber was das Alter betrifft. Es ändert sich die Einstellung zur Schule und das erste Zeichen ist meistens das Absinken der Noten. Es kommt vermehrt zum kritischen Hinterfragen des Lernstoffes mit der Frage: „Wozu brauch ich das denn bitte?“ (vgl. Göppel 2005, S. 191).

Wird das Augenmerk auf das zuvor Gehörte gelegt, können schwere und in der Menge zu viele Prüfungen zu Beginn der Ausbildung gerade in dieser Phase den SchülerInnen ein Bein stellen und unnötige Ausstiege forcieren. Fallen solche Defizite bei einer Klassengröße von 40 SchülerInnen auf, hat ein/e LehrerIn die Zeit, auf solche Probleme einzugehen oder heißt es vielmehr nicht einfach, dass dem/der SchülerIn die passende Reife („Ausbildungsreife“), warum auch immer, fehlt? Was bewirken ausgeklügelte Kompetenzermittlungen mittels Assessment oder andere Vorstellungsgespräche, wenn während der Ausbildung Probleme auftreten? Diese person- und umgebungsabhängigen Variablen stellen von mehreren Seiten eine große Herausforderung dar und sind ad hoc nicht zu beantworten, da sie zu komplex und individuell verschieden sind.

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