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Klassifizieren und diagnostizieren:

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 191-196)

Kapitel 4: Situiertes Wissen: Von ›Geigy rot‹ zum depressiven Selbst

5.2 Klassifizieren und diagnostizieren:

Ein Basler Treffen zu »Depressionsfragen«

1962 kamen auf Einladung von Paul Kielholz Vertreter der meisten psychiatri­

schen Kliniken der Schweiz in Basel zusammen, um »Depressionsfragen« zu dis­

kutieren.34 Die drängendste dieser Fragen war, wie man eine einheitliche Me­

thode zur Erfassung der Depression erarbeiten konnte. Dies erschien nötig, weil die »Erfolgsstatistiken« der verschiedenen psychoaktiven Stoffe grosse Abwei­

chungen aufwiesen.35 Im Bereich der Antidepressiva war dies besonders akut, da neue Stoffe hinzukamen und sich die Frage stellte, was eigentlich ausschlagge­

bend dafür war, »ob ein neues Pharmakon als ›Antidepressivum‹ anzusprechen ist oder nicht«.36 Da einige Formen der Depression nicht nur gut auf Antidepres­

32 Die Dosierungen für Chlorpromazin beispielsweise schwankten zwischen 100 und 2000 mg, je nach Klinik, Arzt und Patient. Balz, Zwischen Wirkung und Erfahrung, 326, FN 29.

33 Hamilton 1972, 100, zit. in Lakoff, The Right Patients, 61.

34 Jules Angst/Raymond Battegay/Walter Pöldinger, »Zur Methodik der statistischen Bearbeitung des Therapieverlaufs depressiver Krankheitsbilder«, in: Methodik der Informa-tion in der Medizin 3 (1964), 54–56, 54.

35 Walter Pöldinger/Jules Angst/Raymond Battegay et al, »Methodik und Ergebnisse einer Zusammenarbeit zwischen fünf Schweizer Kliniken«, in: Henry Brill (Hg.), Neuro-Psycho- Pharmacology. Pro ceed ings of the Fifth International Congress of the Collegium Inter-nationale Neuro-Psycho-Pharmacologicum, Washington D.C., 28.–31.März 1966, Amster­

dam/New York 1967, 34–37, 34.

36 Ebd.

siva ansprachen, sondern auch auf allgemein beruhigende oder gar neurolep­

tische Medikamente37, drohten die Kategorien verwässert zu werden. Innerhalb der Stoffgruppe der Antidepressiva unterschieden sich die Stoffe zudem nicht nur in der Intensität ihrer Wirkung, sondern auch darin, dass einige stärker

»angst­ und agitationsdämpfend« und andere eher »hemmungslösend­antriebs­

steigernd« wirkten38 – also an den beiden entgegengesetzten Polen von ›depres­

sants‹ und ›stimulants‹ lagen.

Wie konnten nun so unterschiedlich wirkende Stoffe als einer Krankheitska­

tegorie zugehörig untersucht werden? Musste man die Stoffgruppen feiner dif­

ferenzieren, oder eher die Krankheitsentität ›Depression‹ genauer fassen oder unter Umständen gar in viel kleinere Einheiten aufteilen? Der Zusammenhang zwischen Stoffwirkung und Krankheitsbild drohte verloren zu gehen, und die Gleichung, dass die Depression dasjenige war, worauf ein Antidepressivum wirkte und umgekehrt, schien nicht mehr aufzugehen. Aus diesem Grund wurde eine feinere Abstufung zwischen unterschiedlichen Stoffwirkungen der Antide­

pressiva vorgeschlagen. Dieses Wirkspektrum lag zwischen den Polen ›anre­

gend‹, ›stimmungsaufhellend‹ und ›angstlösend‹ (vgl. Abb. 17, Seite 180).

Statt die gesamte psychiatrische Krankheitslehre in Zweifel zu ziehen, loka­

lisierten die Teilnehmer beim Basler Treffen 1962 die Störanfälligkeit im Akt der Diagnose, der zu heterogen schien. Die Psychia ter mussten sich, zumindest in der Schweiz und für die Depression, auf eine gemeinsame Sprache einigen.

Dazu wurde nun ein bemerkenswerter Schritt unternommen: Man entwickelte eine doppelte Buchführung. Neben der nosologischen Diagnose sollten neu auch Symptome und Syndrome, sprich Symptomgruppierungen, erfasst wer­

den. Während nosologische Diagnosen auf den psychiatrischen Krankheitsleh­

ren beruhten und mit Klassifikationen wie der ›reaktiven Depression‹ oder der

›phasisch schizophren­depressiven Mischpsychose‹ operierten, baute die Ebene der Syndrome auf kleinere Symptom­Einheiten auf, die besser erfassbar waren.

Dazu zählte ein »gehemmt, apathisch­depressives Syndrom« oder ein »agitiert, ängstlich, aggressiv­depressives Syndrom«.39 Die Syndrome waren viel weniger umstritten, da sie keine Hypothesen über Ursachen enthielten und auch weniger stark an Fragen des genauen Krankheitsverlaufs geknüpft waren. Die schwierig zu klärende Frage, ob eine Depression eher von aussen ausgelöst wurde, wie z.B.

durch Entwurzelung, Erschöpfung oder einen Verlust, oder ob ihre Ursachen gänzlich im Innern lagen, wurde damit entschärft. Symptome konnten einfa­

cher diagnostiziert werden, da sie deskriptiv waren: War ein Patient eher ge­

hemmt oder agitiert? War eine Patientin vergesslich oder paranoid? War sie hy­

pochondrisch? Diese Zustände und ihre Veränderung erforderten je nachdem

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Pöldinger et al., Zusammenarbeit zwischen fünf Schweizer Kliniken, 35.

Abb. 17: Das Spektrum der antidepressiven Wirkungen. Cornu, Pfungsergebnisse mit Antidepressiva, 820.

eher ein beruhigendes, ein angstlösendes oder ein anregendes Antidepressivum und sie konnten mit einem Fragebogen erfasst werden, der mit »vorhanden/nicht vorhanden« operierte oder mit einer Skala von »keine« über »leicht«, »mittel aus­

geprägt« bis »schwer«.40

Beim Basler Treffen wurde zwar zunächst noch versucht, sich auf ein rein nosologisches Diagnoseschema zu einigen, das alle schweizerischen Psychia ter homogen anwenden sollten. Schon bald ergab sich aus der Diskussion jedoch die Notwendigkeit, wie Jules Angst berichtete, depressive Zustände »mehrfach«

diag nostisch zuzuordnen.41 Dies wurde auch aufgrund der Erfahrungen mit An­

tidepressiva notwendig, wie Angst festhielt: »Dieses Vorgehen entspricht auch der Erkenntnis, dass die Antidepressiva unterschiedliche Zielsymptome der de­

pressiven Zustände beeinflussen.«42 Es wurden also zwei sich überlagernde Klas­

sifizierungsregister eingeführt, wobei das zweite (auf Symptomebene) ein Kor­

rektiv zum ersten (Krankheitsbilder) bildete. Wie Kielholz beschrieb, erlaubte diese »Doppelregistrierung« auch eine umgekehrte Auswertung, als Rückkop­

pelungsschleife auf die Diagnosekategorien: Somit könne auch die »Verschieden­

heit der nosologischen und terminologischen Auffassungen« registriert, über­

prüft und korrigiert werden.43 Walter Pöldinger, ein weiterer Teilnehmer, meinte dazu, dass diese zweite Ebene der Syndrome auch dazu diene, »hypothetische Erwägungen über die Aetiologie und Pathogenese […] auszuschliessen« und zu Begriffen zu kommen, die »für eine Grosszahl von Schulen als verbindlich gel­

ten konnten«.44 Hier wird im Ansatz eine Verschiebung fassbar, die Ehrenberg als Befreiung der Zeichen von der Frage nach den Ursachen beschrieben hat:

Da sich die Psychia ter nicht über die Ursachen und daher auch nicht über die den Syn­

dromen zugrunde liegenden Krankheiten einige können, muss man die Semiologie vom ätiologischen Problem befreien, also von der Frage, auf welche tieferliegende Krankheit eine Reihe von Symptomen hinweist. Das technische Mittel dazu besteht darin, stan­

dardisierte Diagnosekriterien zu entwickeln, die die Syndrome eindeutig beschreiben.45 Auf dem vierten Weltkongress für Psychiatrie, der 1966 in Madrid stattfand, äusserte sich Jean Delay ähnlich: »Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Ärzte am ehesten eine Einigung auf der Ebene der Symptome erreichen, vorausgesetzt, dass man sich auf die einfache Feststellung beschränkt, dass sie vorhanden oder

40 Walter Pöldinger, »Über Notwendigkeit und Möglichkeiten standardisierter Befun­

derhebungen in der Psychiatrie. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMP)«, in: Heinrich Kranz/Kurt Heinrich (Hgg.), Psychiatrie im Übergang.

4. Bad Kreuznacher Symposium am 5. und 6.April 1968, Stuttgart 1969, 120–132, 124.

41 Angst et al., Zur Methodik der statistischen Bearbeitung, 54.

42 Ebd., 54f.

43 Kielholz, »Einführung«, in: Juan J. Lopez Ibor (Hg.), Pro ceed ings of the Fourth World Congress of Psychiatry, Madrid 5–11 Sept. 1966, Amsterdam/New York 1968, 817.

44 Pöldinger, Über Notwendigkeit und Möglichkeiten, 121.

45 Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 139.

abwesend sind und pathogene Interpretationen weglässt.«46 In einem Feld, das Mühe hatte, sich auf eine gemeinsame diagnostische Sprache zu einigen, waren die Symptome und Syndrome der kleinste gemeinsame Nenner.

Die Schweizer Psychia ter, die 1962 in Basel zusammenkamen, gingen nicht so weit, die Nosologie gänzlich durch ein syndromales System zu ersetzen, son­

dern entschieden sich für eine doppelte Registrierung. Sie wählten den Weg der Kombination mit dem Ziel, die feinen Unterschiede zwischen den Stoffwirkun­

gen ebenso zu fassen wie diejenigen zwischen den verschiedenen Ausprägun­

gen psychischer Störungen und den dazugehörigen Diagnosen. Somit könnten Krankheitsentitäten am Ende mittels ihrer syndromalen Ausprägungen und der Stoffwirkungen präzisiert und korrigiert werden. Gegen Ende der 1960er Jahre, als das neue System ausgearbeitet und eingeführt war, waren die ursprünglichen Entwürfe47 nochmals stärker in Richtung Einzelsymptome verändert worden,48 da auf dieser wiederum kleineren Ebene die Veränderungen im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss psychoaktiver Stoffe noch feinmaschiger gemessen wer­

den konnten. So äusserte sich Paul Schmidlin von der Firma Geigy auf dem vier­

ten Weltkongress für Psychiatrie in Madrid 1966 erfreut über diese Entwicklung:

Symptome und Syndrome seien viel besser geeignet, Wissen und Nichtwissen zu beschreiben als die herkömmliche Nosologie und es sei deshalb begrüssenswert, dass sich nun »symptom­complexes« gegenüber nosologischen Unterscheidun­

gen durchsetzten.49 Den Auslöser für das Zusammenbrechen der grossen Krank­

heitskategorien sah er in den psychoaktiven Stoffen: »The introduction of mo­

dern drugs has provided an extremely great amount of help in breaking down the old­fashioned stereotyped and standstill way of thinking in psychiatry«.50 Fragen der Ätiologie (Krankheitsursachen) seien nunmehr blosse Hindernisse in der kontinuierlichen Anpassung an den Stand des Wissens, da man nun die Wirkungen eines Stoffes auf psychopathologische Erscheinungsformen und auf allgemeine psychische Zustände messen könne und die Frage nach den Ursachen somit irrelevant werde.51

46 Jean Delay, »Introduction«, in: Juan J. Lopez Ibor (Hg.), Pro ceed ings of the Fourth World Congress of Psychiatry, Madrid 5–11 Sept. 1966, Amsterdam/New York 1968, 283–

287, 284f. [»L’expérience a montré que le plan sur lequel l’accord des cliniciens est le plus facile à réaliser est celui des symptômes élémentaires, à condition de se limiter à la simple constatation de leur présence ou de leur absence sans interprétation pathogénique.« Übers.

M.T.].

47 Der erste Entwurf wurde 1964 von Jules Angst, Raymond Battegay und Walter Pöl­

dinger veröffentlicht: Angst et al., Zur Methodik der statistischen Bearbeitung.

48 Pöldinger, Über Notwendigkeit und Möglichkeit, 125.

49 Paul Schmidlin, »Discussion«, in: Juan J. Lopez Ibor (Hg.), Pro ceed ings of the Fourth World Congress of Psychiatry, Madrid 5–11 Sept. 1966, Amsterdam/New York 1968, 850.

50 Ebd.

51 Ebd.

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 191-196)