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Der geübte Blick des Psychia ters (Problematisierung III)

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 158-161)

Kapitel 4: Situiertes Wissen: Von ›Geigy rot‹ zum depressiven Selbst

4.5 Der geübte Blick des Psychia ters (Problematisierung III)

Der Kern der Erzählung über die Entdeckung des Imipramins besteht aus dem Duo Stoff und Arzt. Die Patienten werden hier zu einer Art Medium des Stof­

fes, über welches die gesuchte Wirkung manifest wird. Das Entscheidende ist hier nicht so sehr eine klare Versuchsanordnung, sondern vielmehr der Blick des Psychia ters. Bereits in den 1960er Jahren sollten sich Standards für klinische Tests durchsetzen, welche mit Verfahren wie dem Placebo, Bewertungsskalen und doppelblinden oder randomisiert kontrollierten Versuchsdesigns arbeite­

ten.58 Damit wurde der Blick des Psychia ters als potenziell befangen angesehen und ausgeschlossen, ebenso wie die Patienten als Individuen. Insbesondere in den USA wurde dieses Versuchsdesign mancherorts bereits in den 1950er Jah­

ren angewendet, es setzte sich jedoch erst später als Standard durch.59 Kuhn stellt dazu einen Gegenpol dar. Die gesuchte Wirkung zeigte sich erst seinem Psychia­

terblick, der von seiner präzisen Kenntnis der einzelnen Patientinnen und ih­

rer Krankengeschichte, seiner klinischen Erfahrung sowie seiner Ausbildung und seinem theoretischen Wissen über Psychopathologie geschärft worden war.

Das Imipramin entstand als Medikament, so könnte man mit Ehrenberg for­

mulieren, nur dank eines ›guten klinischen Blicks‹: Kuhn musste »ein besonde­

res Krankheitsbild erkennen, bei dem die Substanz wirkt […], ein Krankheits­

bild, [das] nur teilweise mit der herkömmlichen klinischen Vorstellung von de­

pressiven Zuständen übereinstimmt«.60 Dies war vermutlich mit ein Grund für eine handschriftliche Notiz, die ein Geigy­Mitarbeiter auf einem Prüfbericht an­

brachte: Roland Kuhn sei »eben doch ein Künstler«.61

Lorraine Daston und Peter Galison haben bezüglich verschiedener Ausprä­

gungen von Objektivität ein Expertentum des »trained eye«62 beschrieben – die­

ses basiert auf Erfahrung und Vertrautheit bei der Interpretation von Daten und Beobachtungen und steht im Gegensatz zur älteren Objektivität des allwissenden Genies und auch zur gänzlich mechanischen Objektivität, in welcher der Experte hinter Automation und Selbstverleugnung verschwindet. Bei den Münsterlinger Imipramin­Testreihen kam dieser geübte Blick63 zum Einsatz, denn die anti­

58 Dies wurde bereits seit Mitte der 1950er Jahre diskutiert, setzte sich in der Schweiz aber vergleichsweise spät durch. Vgl. dazu ausführlich Kap.5; siehe auch Kline, Psycho­

pharma cology Frontiers, 452–458.

59 Marks, The Progress of Experiment.

60 Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 111.

61 Novartis­Firmenarchiv, Bestand Geigy, PH 7.04 Division Pharma, Zirkulationsdos­

sier zum Freigabeantrag vom 27.9.1957, Kopie eines Briefes von R. Kuhn an Prof. Dr. med.

Grüter, Ciba Geigy, vom 25.10.1971, handschriftliche Notiz auf der Kopie.

62 »›Trained‹ or ›seeing‹ eye« im Original. Daston/Galison, Objectivity, 322.

63 Ich übersetze ›trained eye‹ hier frei nicht als ›geschultes Auge‹, sondern als ›geübter

depressive Wirkung wurde nicht mittels statistischer Auswertung festgemacht, sondern war an den Beobachter Kuhn und dessen psychiatrisch geschulten Blick geknüpft. Nur dieser war in der Lage, aus den vielschichtigen Veränderungen seiner Patienten die Stoffwirkung herauszulesen und zu interpretieren. Kuhn meinte, dass ein solcher »phänomenologischer Blick«, der sich nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf das innere Erleben der Patienten richte, »schwierig ist und mühsam während Jahren gelernt werden muss«.64 1986 schrieb Kuhn denn auch in einer französischen Publikation, dass es nicht bloss um die Entde­

ckung der Wirkung eines Moleküls gehe, sondern vor allem darum, »das Krank­

heitsbild zu erfinden, für das eine Substanz ein spezifisches Medikament sein kann«.65 In dieser Praxis der Erfindung, mehr denn der Entdeckung, wird der psychoaktive Stoff zum Instrument, um psychische Prozesse zu definieren. Die Stoffwirkung und die Symptome sind in diesem Verständnis gleichermassen Zei­

chen der Krankheit. Das Krankheitsbild, auf das Kuhn sich konzentrierte, war eng gefasst und von der Psychopathologie her gedacht. Imipramin wirke vor al­

lem bei der vitalen Depression. Diese ist gemäss Kuhn von Erschöpfung, Lethar­

gie, Abkapselung, Bedrückung und Gehemmtheit bestimmt, begleitet von einer Verlangsamung des Denkens, Handelns und Entscheidens.66 Kuhn versteht sie als biologisch begründet, mit äusseren oder inneren Auslösern (endogen oder reaktiv). Sie war schwierig zu diagnostizieren, da sie nicht immer am Verhalten sichtbar wurde, sondern vor allem am Fühlen und Erleben der Patienten selbst.

Zudem bestand die Gefahr, dass sie von offensichtlicheren Problemen wie z.B.

Schlaflosigkeit oder Phobien überdeckt wurde. Davon grenzte Kuhn die neu­

rotische Depression ab, auf welche Imipramin nur eine indirekte Wirkung ha­

be.67 Mittels einer genauen Diagnostik sollten deshalb diejenigen Patientinnen und Patienten ausgewählt werden, deren Störung möglicherweise durch andere Blick‹, da in unserem Kontext eher die praktische Erfahrung als die Ausbildung im Vor­

dergrund steht.

64 Roland Kuhn, »Veränderungen der Symptomatik und des Verlaufs der Psychosen durch Medikamente«, in: Pro ceed ings of the Third World Congress of Psycho pharma cology held in Montreal, Canada, June 4–6, 1961, Montreal 1961, 448–453, 449.

65 »[…] inventer l’entité morbide pour laquelle une substance peut être un médicament spécifique.« Kuhn, Clinique et expérimentation, 164 [Übers. M.T.].

66 Typisch sei ausserdem eine Neigung zum phasischen Verlauf mit Tagesschwankun­

gen. Für die Kranken selbst seien andere Begleitsymptome dominant, so dass sie die Krank­

heit häufig gar nicht oder nur teilweise schilderten. Vgl. dazu Roland Kuhn, »Stilfragen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Behandlung in Psychiatrie und allgemeiner Medizin – dargestellt am Beispiel der Antidepressiva«, in: Ders. (Hg.), Psychiatrie mit Zu-kunft. Beiträge zu Geschichte, Gegenwart, Zukunft der wissenschaftlichen und praktischen Seelenheilkunde, Basel 2004, 115–133, 120 f.; Kuhn, Veränderungen der Symptomatik, 449;

Roland Kuhn, »The Imipramine Story«, in: Frank Ayd/Barry Blackwell (Hgg.), Discoveries in Biological Psychiatry, Philadelphia 1970, 205–217, 206.

67 Auch »depressive Neurose«. Bei ihr standen körperliche Mechanismen im Gegensatz zur vitalen Depression im Hintergrund. Man fasste darunter eher Verstimmungen auf­

grund innerer Konflikte (heute Dysthymie). Kuhn, Veränderungen der Symptomatik, 452.

Leiden verdeckt wurde. Kuhn glaubte aus diesem Grund auch, eine »spezifische Behandlung« für genau bestimmbare depressive Zustände gefunden zu haben.68

Wenn man den geübten Blick von Kuhn weiter analysiert, so muss diesem zumindest noch ein ›Ohr‹ hinzugefügt werden. Es fällt auf, dass seine klinische Praxis zu weiten Teilen im Zuhören bestand und somit eher auf das Ohr denn auf das Auge rekurrierte. Mehr als die Patienten selbst wurden ihre Angehörigen und das Pflegepersonal gehört, wie die Krankenakten nahelegen.69 Kuhns Zu­

gang stand in der sprachbasierten Tradition der Psychiatrie.70 Das heisst, Sym­

ptome und Wirkungen wurden nicht wie später vor allem in Zahlen oder Mes­

sungen manifest und konnten auch nicht am Gesunden »und erst recht nicht am Tier« beobachtet werden, sondern man war auf die Stimme der Patientinnen angewiesen. Über »abnormes Erleben«, so Kuhn, könne man nur »mittels der Sprache vom Kranken selbst Auskunft erhalten«.71 Klinische Techniken beste­

hen aus spezifischen Arten zu schauen und zu hören, deren Einübung und Wie­

derholung bestimmte Formen des Wissens fördern: Dabei ist wichtig, ob eher das Auge oder das Ohr im Zentrum der Psychiatrie steht, also eher ein sprach­

basiertes oder ein auf Beobachtung bauendes Wissen entsteht. Andrew Fearnley hat argumentiert, dass sich in der amerikanischen Psychiatrie das Gewicht in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts vom Ohr aufs Auge verschoben hat. Mit dem Aufkommen von regelbasierten Verfahren begannen Kliniker weniger zu­

zuhören und mehr zu sehen.72 Bei Experimenten mit psychoaktiven Stoffen ist in den 1960er Jahren eine ähnliche Entwicklung festzustellen: weg von den Pa­

tienten und ihren Aussagen als verlässliche Zeugen für die Stoffwirkungen hin zu einer statistischen Auswertung. Die vorangehenden Kapitel haben gezeigt, dass die Zeugenschaft etwas anders funktionierte, wenn es um die Selbstversuche der Psychia ter und Pharmakologinnen ging und wenn gesunde Versuchspersonen ihre Erfahrungen protokollierten. Kuhn ist in dieser Entwicklung vom Ohr hin zum Auge noch vor der statistischen Wende anzusiedeln. Er war gegen standar­

disierte Testverfahren und Bewertungsskalen.73 Er hörte noch zu – sein geübter Blick war jedoch der einzige, welcher die Aussagen der Patienten interpretieren und in ihnen die Stoffwirkungen erkennen konnte.

68 Kuhn, Clinique et expérimentation, 164.

69 Zumindest in diese Verschriftlichung der Krankenakten fanden die Aussagen der Patientinnen nur beschränkt Eingang.

70 Kuhn stand in grosser Nähe zu Ludwig Binswangers Daseinsanalyse. Vgl. dazu Ro­

land Kuhn, »Daseinsanalyse und Psychiatrie«, in: Gustav Bally et al. (Hgg.), Grundlagen und Methoden der klinischen Psychiatrie 2, Berlin 1963, 853–902 sowie Jean­Claude Marceau,

»Penser les troubles de l’existence avec Roland Kuhn«, in: L’Information Psychiatrique 5/84 (2008), 427–433.

71 Kuhn, Veränderungen der Symptomatik, 448.

72 Andrew M. Fearnley, Diagnosing Disorder. Perceiving Race and Performing Difference, 1950–1980, unpubliziertes MPIWG­Diskussionspaper, 3.

73 Kuhn, Veränderungen der Symptomatik, 448–453.

4.6 Die Zeugenschaft der Patienten und des Pflegepersonals

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