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Das berauschte Ich im projektiven Test

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 54-59)

Es herrschte keine Einigkeit darüber, ob Versuche mit Halluzinogenen in ihren individuell verschiedenen Ausprägungen auch als Abbild der Persönlichkeit ge­

lesen werden können. Der Psychia ter Gion Condrau, der am Burghölzli unter

57 Edwin Blickenstorfer, »Zum ätiologischen Problem der Psychosen vom akuten exoge­

nen Reaktionstypus. Lysergsäurediäthylamid, ein psychisch wirksamer toxischer Spuren­

stoff«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 188/3 (1952), 226–236, 230.

58 Ebd., 229f.

59 Stoll, Lysergsäure­Diäthylamid, 318.

60 Blickenstorfer, Zum ätiologischen Problem, 230. Vgl. dazu auch Stoll, Lysergsäure­

Diäthyl amid, 318 (»Jedenfalls besteht im LSD­Rausch mit seinem intensiven Erleben eine gewisse Schockwirkung«).

Manfred Bleuler tätig war, äusserte die These, dass LSD eine »Karikatur« der ei­

genen Persönlichkeit erzeuge. Diese Überspitzung bereits vorherrschender Züge könnte auch als »Persönlichkeitstest« genutzt werden, also einen diagnostischen Nutzen haben. Dies gelte, so Condrau, auch für psychisch Kranke. So erscheine

»die hebephrene Versuchsperson im LSD­Rausch noch deutlicher hebephren, der Katatone noch stärker kataton«61. Stoll hingegen warnte davor, »von Aus­

nahmezuständen auf das allgemeine Verhalten« zu schliessen und brachte das Beispiel eines zuverlässigen Handwerkers, der im Alkoholrausch seine Wohnung demoliert, sich also seinem Wesen entgegengesetzt verhalte. Der Rausch tauge deshalb nicht als Persönlichkeitstest, weil sich das Verhalten teilweise gerade ins Gegenteil verkehre. Dennoch sei, so Stoll, jeder Versuch wesentlich von der Per­

sönlichkeit mitbestimmt, denn »in jedem Versuch spürte man durch die toxi­

schen Symptome hindurch die Individualität der Vp«62. Stoll war der Auffassung, dass der LSD­Rausch Seiten einer Persönlichkeit hervorbringen könne, die be­

reits in einer Person angelegt seien, aber für gewöhnlich verborgen blieben. Aller­

dings werde die Persönlichkeitsveränderung im Versuch durch einen derart aus­

sergewöhnlichen Umstand ausgelöst – der »Einverleibung eines Pharmakons« –, dass Rückschlüsse auf das normale, alltägliche, aktuelle Ich trotz allem unzuläs­

sig, ja gar gefährlich seien.63 Edwin Blickenstorfer sah in den durch LSD erzielten Rauschzuständen gewisse Parallelen zu Krankheitstypen: Sie seien nach einem

»Initialstadium« dann in ihrem Verlauf entweder depressiv, kataton, hebephren oder paranoid. Solche »Färbungen«, argumentierte Blickenstorfer, beruhten eher

»auf persönlicher Veranlagung als auf direkter Wirkung des LSD«. Dennoch sei LSD »im Rahmen der Normalpsychologie« nicht als Persönlichkeitstest geeignet, da es vor allem »krankhafte Züge« ans Licht bringe, bei alltäglicheren Eigenhei­

ten jedoch versage.64

Rorschachversuche wurden in diesem Kontext von Forschern als Hilfsmittel hinzugezogen, um ein Bild der Persönlichkeit der Versuchsteilnehmer zu gewin­

nen. Sie wurden oft nur bei den gesunden Testsubjekten durchgeführt, jedoch nicht bei den Patientinnen und Patienten (»Die Methodik [bei den Kranken]

entsprach derjenigen für die Geistesgesunden; nur auf die Rorschachprotokolle wurde verzichtet«65). Ihre Aufnahme während der Experimente bereitete zwar häufig Schwierigkeiten, aber der Rorschachtest wurde als Grundlage gesehen, um den »Persönlichkeitsanteil«66 in den Experimenten zu erfassen. Wie bereits erwähnt, führten Wertham und Bleuler 1932 Rorschachversuche mit Meskalin

61 Gion Condrau, »Klinische Erfahrungen an Geisteskranken mit Lysergsäure­Diäthyl­

amid«, in: Acta Psychia trica et Neurologica 24 (1949), 9–32, 31.

62 Stoll, Lysergsäure­Diäthylamid, 319.

63 Ebd., 319f.

64 Blickenstorfer, Zum ätiologischen Problem, 230.

65 Stoll, Lysergsäure­Diäthylamid, 305.

66 Ebd., 319.

durch. Im Gegensatz zu späteren Experimenten sahen sie eine stabile Persönlich­

keitsform bestätigt: »The form of a personality remains the same under the most different circumstances.«67 Der Rorschachtest war bei ihnen, in der Hand des

»kompetenten Interpreten«, eine »Formulierung« der formalen Persönlichkeit, die auch in Ausnahmezuständen mehrheitlich stabil blieb.68

In den späten 1940er Jahren führte Stoll in seiner ausgedehnten Versuchs­

reihe mit LSD auch mit elf Probanden – meist Ärzte und Laborantinnen – den Rorschachtest durch, einmal auf dem Höhepunkt der Stoffwirkung und dann mindestens drei Monate später als Kontrolltest, was jedoch scheiterte, da sich die meisten Probanden auch nach Monaten noch zu lebhaft an das »tiefgrei­

fende Erlebnis« des LSD­Rausches erinnerten und sich zuwenig vom Rausch lö­

sen konnten.69 Stoll schränkte seine Ergebnisse stark ein; zu klein sei die Zahl an Versuchen und zu individuell verschieden die Resultate, um statistisch haltbare Aussagen zu machen. Er begrenzte seine Fragestellung auf Unterschiede in den Protokollen, »rein vom an sich nicht näher bestimmten ›Ort‹ der Persönlichkeit ohne LSD aus, verglichen mit dem Ort der Persönlichkeit unter LSD­Wirkung«.70 Seine Versuchsanordnung zielte einerseits auf die Stoffwirkung von LSD, die sich im Rorschachprotokoll abzeichnen, »darstellen«, sollte. Andererseits zielte sie auf die zweite unbekannte Grösse, die Persönlichkeit, welche ja durch den Rausch wiederum verändert wurde. Im Gegensatz zu Bleuler und Wertham stellte Stoll viele Unterschiede fest im Vergleich des Normalzustandes und des LSD­Rau­

sches, u.a. Perseveration, also eine Neigung zum Verharren, Haftenbleiben, Far­

benrausch, Steigerung der Affektivität, Neigung zu Details und auch zur Ab­

straktion. Stoll folgerte jedoch daraus, dass das »Rorschach­LSD­Syndrom«

unspezifisch sei und bloss dem allgemeinen Bild eines Rausches entspreche.71 Dies entspreche in psychopathologischer Sprache einem »akuten exogenen Reak­

tionstypus«. Zwar liessen sich die LSD­Rorschachbefunde diagnostisch nutzen, im Sinne von Möglichkeiten, die in einer Persönlichkeit schlummerten.72 Durch Abstraktion und Beobachtung, die auf das Allgemeine fokussierten, könne man allmählich auf eine gültige Charakterisierung des LSD­Rausches kommen, trotz der individuellen Variabilität in den Ergebnissen. Diese individuellen Ausprä­

gungen waren demgemäss wiederum auf die Persönlichkeit der Probanden zu­

rückzuführen, während der Rausch an sich laut Stoll zwar schwierig zu beschrei­

ben sei, aber einen stabilen Kern habe.73

67 Wertham/Bleuler, Inconstancy of the Formal Structure of the Personality, 69.

68 Ebd.

69 Werner A. Stoll, »Rorschach­Versuche unter Lysergsäure­Diäthylamid­Wirkung«, in:

Rorschachiana, Internationale Zeitschrift für Rorschachforschung und andere projektive Me-thoden 1/3 (1952), 249–270, 263.

70 Ebd., 251.

71 Ebd., 269.

72 Ebd., 268.

73 Ebd., 265–269.

Gaetano Benedetti, damals Doktorand der Psychopathologie unter Manfred Bleuler und später Psychoanalytiker am Burghölzli, führte zu Beginn der 1950er Jahre eine LSD­Fallstudie mit einem Patienten mit der Diagnose Alkohol­Hal­

luzinose durch. Im Gegensatz zu Stoll führte er jeweils vor und nach der LSD­

Intoxi kation einen Rorschachtest durch, aber nicht während des Rausches. Das Rorschachprotokoll hatte hier innerhalb der Versuchsanordnung eine andere Stellung: Es diente dazu, den therapeutischen Effekt des LSD auf den Patienten zu belegen. Das zweite, nachträgliche Protokoll wies, so Benedetti, eine erstaun­

liche Veränderung auf: »Ein ›neuer‹ Mensch tritt uns hier entgegen«74. Der Pa­

tient habe ein tiefgreifendes kathartisches Erlebnis gehabt unter LSD, er glaubte, durch den Versuch an einen Wendepunkt seines Lebens gelangt zu sein: »Die Würfel sind gefallen und ein neues Leben hat begonnen«75. Benedetti zog da­

raus folgenden Schluss: LSD habe als kathartisches Mittel beim Probanden eine existentielle Persönlichkeitsweitung und ­festigung ausgelöst, belegt durch das Rorschachprotokoll. Er erklärte diese Persönlichkeitsveränderung psychody­

namisch. Der Patient habe in seinem Rausch seine ganze Lebensgeschichte in vollem Umfang und in »dreifacher Wiederholung« nochmals durchgemacht76 – eine Analogie zwischen Lebensgeschichte und LSD­Rausch also, die durch Zu­

spitzung derselben Themen heilend wirke.

Jean Delay, französischer Psychia ter und Mitentdecker der therapeutischen Wirkung von Chlorpromazin, führte an sich selbst zwei Rorschachtests durch, einen vor und einen während des LSD­Rausches. Er kam zu dem Schluss, dass alle Persönlichkeitszüge, die man im Normalprotokoll finde, auch im LSD­Pro­

tokoll anzutreffen seien, allerdings gesteigert, verstärkt, so als ob sich durch das LSD ein zugespitztes Bild der Persönlichkeit aufzeigen liesse.77 Weitere Autoren kommen bei einem Test mit fünfzehn Depressiven und fünf Gesunden zu dem Schluss, dass der Rorschachtest nicht sehr produktiv sei. Er zeige bei allen eine Zunahme der Selbstkontrolle, wohl um die Rauschwirkung auszugleichen.78 Die Anwendung der Rorschachplatten in Experimenten mit halluzinogenen Stoffen, vor allem LSD, besetzte zwar unterschiedliche Orte innerhalb der Experimen­

talanordnungen. Sie erschien jedoch vor allem deshalb sinnvoll und aussagekräf­

tig, weil die Probanden nicht einheitlich reagierten und es grosse individuelle

74 Gaetano Benedetti, »Beispiel einer strukturanalytischen und pharmakodynamischen Untersuchung an einem Fall von Alkoholhalluzinose, Charakterneurose und psychoreak­

tiver Halluzinose«, in: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie 1 (1951), 177–192, 188.

75 Ebd., 183.

76 Ebd., 188f.

77 Jean Delay et al., »Les modifications de la personnalité produites par la Diéthylamide de l’Acide Lysergique (LSD 25). Etude par le Test de Rorschach«, in: Annales Médico-Psycho-logi ques 112/2 (1954), 1–13, 10.

78 Charles Savage, »Lysergic Acid Diethylamide (LSD 25). A Clinical Psychological Study«, in: American Journal of Psychiatry 108/12 (1952), 896–900.

Variationen gab. Der Schluss, dass dies mit der (stabilen oder verborgenen) Per­

sönlichkeit zu tun habe, lag nahe, und der Rorschachtest war eine geeignete Me­

thode, um solch Subjektives abzubilden und quantitativ auszuwerten. Projektive psychologische Tests sind häufig darauf angelegt, die Phantasie so sehr zu sti­

mulieren, dass die Probanden die Testsituation vergessen und unwillkürlich et­

was von ihrem Innenleben preisgeben. Laut Henry A. Murray, dem Erfinder des Thematic Apperception Test, merkt das Subjekt in der Regel nicht, dass es dem Psychologen eine Art Röntgenbild seines inneren Selbst gegeben habe.79 Tech­

niken wie der Rorschachtest oder der Thematic Apperception Test80 – wie Re­

becca Lemov es nennt, »X­ray­like tools« – dienen zur Erfassung von Flüchtigem, nur schwer Fassbarem, das normalerweise dem wissenschaftlichen Blick nicht zugänglich ist. Sie sind Instrumente einer Wissenschaft der Subjektivität, die nicht nur durch klassische Beobachtung, sondern auch mithilfe von Verfahren wie den projektiven Tests auswertbare Informationen über innere Zustände, in­

dividuelle Reaktionen und möglicherweise Persönlichkeitsstrukturen erzeugen.

Hier wird insofern Neuland erobert, als Daten generiert werden, die in einer an­

deren Domäne angesiedelt sind als die psychiatrischen Fallgeschichten. Lemov stellt die projektiven Methoden in Zusammenhang mit dem Technizismus der Nachkriegszeit, der das Menschliche (v.a. im Rahmen der Culture and Persona­

lity­Schule in den USA) – Träume, Räusche, Halluzinationen, Ängste – erfassen, speichern und schliesslich maschinenlesbar machen wollte.81

Projektive Tests haben den Vorteil, weder nur auf das Verhalten noch auf be­

wusste Selbstberichte abzustellen. Sie sind vielmehr ein Versuch, das zu messen, was Menschen normalerweise nicht zum Ausdruck bringen und wessen sie sich vielleicht auch gar nicht bewusst sind.82 Einfach zu handhaben und in der Form standardisiert, hängen sie jedoch von der Erfahrung des Versuchsleiters in An­

wendung und Interpretation ab. Neue Bereiche können experimentalisiert wer­

den und Daten generieren. Peter Galison argumentiert, dass der Rorschachtest den Übergang von einem statischen zu einem bewusst wahrnehmenden, prozes­

sualen Ich markiert – man kann den Rorschachtest deshalb mehrmals durch­

führen und jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Er vermisst, so Galison, ein spezifisch modernes, integriertes, inneres Ich und fördert dieses

79 Zit. in Rebecca Lemov, »Hypothetical Machines. The Science Fiction Dreams of Cold War Social Science«, in: Isis 101/2 (2010), 401–411, 409.

80 Der Rorschachtest wurde 1921 von Hermann Rorschach veröffentlicht, der TAT von Henry A. Murray 1935. Beide Tests gewannen jedoch erst Ende der 1930er Jahre an Aufmerksamkeit. Der Rorschachtest wurde zuerst von Jungianern aufgegriffen und kam dann über Amerika v.a. in der Nachkriegszeit zu einer breiten Anwendung. Rebecca Le­

mov, »X­Rays of Inner Worlds. The Mid­Twentieth­Century American Projective Test Mo­

vement«, in: Journal of the History of Behavioral Sciences 47/3 (2011), 251–278.

81 Lemov, Data Base of Dreams; Lemov, X­Rays of Inner Worlds.

82 Lemov, X­Rays of Inner Worlds, 257.

gleichzeitig auch.83 Bei den frühen Versuchen mit LSD gab es jedoch gleich zwei instabile Grössen: die Person der Probanden zum einen, die Stoffwirkung zum anderen. Dabei blieb stets eine gewisse Unsicherheit bestehen, was denn der Ror­

schachtest eigentlich abbildet: War es die Substanz oder der Rorschachtest, der die ›wahre‹ Persönlichkeit ans Licht brachte? Auf welche Einheit konnte man sich verlassen, was war genügend stabil – der LSD­Rausch, der Rorschachtest oder die Persönlichkeit der Individuen?

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