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Argumentative Figuren der Psychodynamik

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 125-129)

Kapitel 3: Expertisenbildung in Zürich 1957

3.5 Argumentative Figuren der Psychodynamik

Psychodynamische Konzepte wurden von den Teilnehmern auf dem Zürcher Kongress 1957 explizit ins Spiel gebracht, wenn es um die Erklärung der Wir­

kungsweise der neuen Stoffe ging oder wenn ihre therapeutischen Einsatzmög­

lichkeiten diskutiert wurden. Um die Erklärungsachse psychodynamischer Prä­

gung herauszuarbeiten, werde ich mich auf drei argumentative Figuren konzen­

trieren, die nahe beeinander liegen, jedoch den Akzent auf je andere Aspekte legen: psychoaktive Stoffe als Türöffner, als Bindeglied zwischen Arzt und Pa­

tient sowie als Psychotherapie im Kleinen.

In der Figur des psychoaktiven Stoffes als Türöffner ist es der Stoff selbst, wel­

cher die Patienten zum Sprechen bringt. Dies gilt vor allem für Stoffe wie Chlor­

promazin oder Reserpin, welche das Bewusstsein intakt lassen und zugleich die wahnhaften Symptome lindern, ohne einzuschläfern. Somit können diese Stoffe ein geordnetes, therapiezugängliches Sprechen produzieren und die ›Subjektivi­

tät‹ der Patienten wieder herstellen. F. Arnold formulierte es folgendermassen: »It seemed to us that it was this change in mentality that enabled us to give further therapy. We feel that […] the drugs do not cure the schizophrenia but only af­

ford an entry.«119 Durch eine nicht näher bestimmte Veränderung des Zustandes des Patienten ergibt sich eine neue Situation, mit der gearbeitet werden kann. In­

dem die Stoffe die normale Dynamik verändern, bieten sie weiteren therapeuti­

schen Zugriffen einen Einstiegspunkt. Hierzu zählt auch der sogenannte ›provo­

zierende‹ Einsatz von Stoffen, für den in den 1950er Jahren vor allem die Hallu­

zinogene, zum Teil jedoch auch Reserpin geeignet schienen. Halluzinogene Stoffe waren in der Lage, hemmende Kontrollmechanismen aufzubrechen und Unter­

bewusstes ans Licht zu holen und konnten als ›provozierende‹ Mittel eingesetzt werden.120 So Kline: »Reserpine seemed to allow the breakthrough of fairly deep

118 »Message of the Honorary President«, in: Rinkel, Chemical Concepts, XXI.

119 Arnold, Reconditioning of the Personality, 274f.

120 Letemendía, Mayer­Gross, Theories on the Psychic Effects of Drugs, 423.

material.«121 Indem die Neuroleptika Leiden linderten und zugleich möglicher­

weise gewalttätige Aspekte des Verhaltens beschränkten, so argumentierten Teil­

nehmer in Zürich, wurden Patienten für eine Analyse zugänglich, die sonst »in­

accessible« blieben.122 Patienten würden, so auch Frank Ayd, unter Neurolep­

tika­Einfluss weniger von ihren »vegetativen Störungen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen sowie den subjektiven Angstgefühlen« in Beschlag genommen.

Dadurch würden sie weniger gehemmt und auskunftsfreudiger – »more revea­

ling«.123 Ähnlich argumentierte Greg Cleghorn in der Diskussion, der eine Ab­

nahme der Abwehrmechanismen und eine Zunahme des Kontaktes feststellte.124 Auch Friedrich Mielke, der am Burghölzli unter anderem Vergleichsversuche mit Chlorpromazin und Serpasil durchführte, war der Meinung, dass die neuen Stoffe in der Praxis vor allem andere Therapien ermöglichten: Psychotherapien und Gruppentherapien.125 Zu dieser Zeit wurden am Burghölzli auch bei Schizo­

phrenie­Patienten Psychotherapien durchgeführt, eine Praxis, die später wieder verworfen wurde.126 Andere Teilnehmer gingen weiter: In der Sicht von N. Wil­

liam Winkelman, eines amerikanischen Psychoanalytikers, wirkten die Neuro­

leptika auf die psychische Energie. Demnach griffen sie nicht direkt in die Funk­

tionen des Ichs ein, sondern veränderten die Energie der Persönlichkeitsstruk­

tur, indem sie die Spannung zwischen Ich und Über­Ich beeinflussten. In seiner

»psychologic anatomy of the mind«127 gibt es keine spezifischen Wirkungen. Die Stoffe bringen vielmehr die un­ und unterbewussten Inhalte hervor und redu­

zieren gleichzeitig schmerzhafte Konflikte innerhalb des Ichs: »The drug, in the long run, is the ally of the ego«, ist seine Folgerung.128 Auch Sarwer­Foner be­

tonte, dass die neuen Stoffe nur symptomatisch wirkten, indem sie Veränderun­

121 Kline, Psycho pharma cology Frontiers, 443 (Diskussion Dr. Kline).

122 Nathan Kline/Mortimer Ostow, »The Psychic Action of Reserpin and Chlorpro­

mazine«, in: Nathan Kline (Hg.), Psycho pharma cology Frontiers. International Congress of Psychiatry Zurich 1957, Boston 1959, Appendix, 481–513, 512.

123 Frank Ayd, »Prolonged Use of Reserpine in Schizophrenia«, in: Nathan Kline (Hg.), Psycho pharma cology Frontiers. International Congress of Psychiatry Zurich 1957, Boston 1959, 33–39, 34.

124 Kline, Psycho pharma cology Frontiers, 447 (Diskussion Dr. Cleghorn).

125 Ebd., 448 (Diskussion Dr. Mielke).

126 Marietta Meier, »Hirneingriffe historisieren. Ethische Standpunkte zur Lobotomie in den 1940er und 1950er Jahren«, in: Oliver Müller/Jens Clausen/Giovanni Maio (Hgg.), Das technisierte Gehirn, Paderborn 2009, 65–86, 78f.

127 N. William Winkelman, »A Psychoanalytic Study of Phenothiazine Action«, in:

Nathan Kline (Hg.), Psycho pharma cology Frontiers. International Congress of Psychiatry Zurich 1957, Boston 1959, 305–314, 305f.

128 Ebd., 311. Laut Joanna Moncrieff verschrieb Winkelman seinen ambulanten Patien­

ten Chlorpromazin gegen fast alle ›Nervenleiden‹, insistierte jedoch gleichzeitig darauf, dass es niemals »as a substitute for psychoanalytically oriented psychotherapy« verabreicht wer­

den sollte. N. William Winkelman, »Chlorpromazine in the Treatment of Neuro psychiatric Disorders«, in: JAMA 155 (1954), 18–21, 21, zit. in Joanna Moncrieff, The Bitterest Pills. The Troubling Story of Antipsychotic Drugs, London 2013, 34.

gen im psychodynamischen Gleichgewicht auslösten.129 Ihre Wirkung sei vor allem physiologisch und nur indirekt psychodynamisch, indem Prozesse ange­

stossen würden: »To be sure, the drugs act on the organic substratum of the brain, but these effects are gross and global, rather than specific, for disease processes, diagnostic entities, or human problems in living.«130 Die zentrale Wirkung war in dieser Konzeption diejenige auf das psychische Gleichgewicht, während die Wirkungen auf neurochemische Prozesse im Hirn als unspezifisch angesehen wurden.

Die zweite argumentative Figur ist diejenige der relationalen Substanz: In die­

sem Erklärungsmodell stellt der psychoaktive Stoff die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient sicher oder ermöglicht sie erst. Im Gegensatz zum Stoff als Türöffner steht hier die Arzt­Patienten­Beziehung im Vordergrund, und dieser Beziehung wird das therapeutische Potenzial zugeschrieben. Während der Stoff für das Körperliche zuständig war, konnte sich der Arzt umso besser um das Geistige kümmern. Besserungen oder Heilungen seien deshalb auch nicht in direkter Linie dem psychoaktiven Stoff zuzuschreiben, so Sarwer­Foner, son­

dern der Arzt­Patienten­Beziehung. Der Stoff werde für den Patienten zur Re­

präsentation der »good medication«, des »good, benevolent, and loving doctor whose intentions are to cure him«.131 Der Arzt und seine Institution sei für den Patienten quasi in der Pille komprimiert und werde ihm verabreicht: »For many patients, part of this process may well have to do with the feeling that the doctor, hospital, or institution concerned is being introjected in the form of a pill«.132 In Sarwer­Foners Argumentation wirken die Substanzen relational – in einer Bezie­

hung mit einem anderen Menschen, dem Arzt – in einem spezifischen Kontext, der sich aus zahlreichen Faktoren zusammensetzt.133 Das Psychopharmakon ist in diesem Modell also eingebettet in eine Vielzahl von Einflüssen, welche die Dy­

namik verändern. Hier sei es naiv, diese Effekte einfach dem pharmakologischen Profil eines Stoffes zuzuschreiben. Es gehe nicht um die pure chemische Wir­

kung, sondern um das Zusammenspiel der körperlichen Wirkungen des Stoffes mit den Konflikten des Patienten, seinen Abwehrmechanismen gegenüber die­

sen inneren Konflikten und den Beziehungen und Situationen, in denen er sich befinde. Der Stoff wirke, indem er eine neue therapeutische Situation herbei­

führe, die von allen Seiten interpretiert werde und wiederum Reaktionen aus­

löse.134 Des Weiteren machte N. William Winkelman auf psychoaktive Stoffe als Bedeutungsträger zwischen Ärzten und Patienten aufmerksam. Hier kam beson­

ders die symbolische Aufladung des Psychopharmakons zur Sprache. Wie Win­

129 Sarwer­Foner, Theoretical Aspects of the Mode of Action, 301.

130 Ebd.

131 Kline, Psycho pharma cology Frontiers, 446 (Diskussion Dr. Sarwer­Foner).

132 Sarwer­Foner, Theoretical Aspects of the Mode of Action, 299.

133 Kline, Psycho pharma cology Frontiers, 444 (Dr. Sarwer­Foner).

134 Ebd., 476 (Dr. Sarwer­Foner).

kelman ausführt, sei er »aware of the symbolic values of giving something to a patient in the form of a tablet or capsule, especially if it has a beneficial effect«.135

Die dritte Figur ist diejenige der psychoaktiven Therapie als Psychotherapie im Kleinen. In dieser Argumentation ist der Verlauf wichtig, denn die medika­

mentöse Therapie wird in ihren Abläufen und Phasen der Psychotherapie analog gesetzt oder sie wird zu einem Beschleuniger derselben. In Klines Argumenta­

tion haben die psychoaktiven Stoffe sogar das Potential zur chemischen Feinre­

gulation der Psychoanalyse. Wenn die psychoanalytischen Fortschritte abflach­

ten, könne man durch Dosierungsanpassungen wieder neuen Schwung in den Prozess bringen und so jede Stufe des Prozesses stofflich optimal regeln: »It may be that with these drugs we are acquiring this capacity for a fine regulation of the analytic process which Freud anticipated.«136 Chlorpromazin wurde in diesem Zusammenhang als Hilfsmittel unter anderen Therapien gesehen, das nicht di­

rekt heilt, jedoch eine katalytische Funktion hat: Es verkürze die Behandlungs­

zeit insgesamt.137 Beim Zürcher Symposium wurde von psychodynamisch aus­

gerichteten Psychia tern betont, dass es stets um den Patienten als Individuum gehe und nicht um Zielsymptome. Kinross­Wright meinte, Psychia ter wollten stets Patienten behandeln, nicht Krankheiten, was auch einige der Zürcher Ver­

ständigungsprobleme erkläre. Schizophrenie beispielsweise sei als Krankheit eingebettet in eine Persönlichkeit, mit der sie interagiere.138 Die Medikamente erschienen hier als Behandlung der Persönlichkeit mit zahlreichen Parallelen zur Psychoanalyse, welche auf einer langen Behandlungsdauer basierte.

Auch das Bild des Neuroleptikums als schnelle Psychotherapie kam zur Sprache: Gemäss Hans Walther­Büel liess sich im Wirkungsverlauf eine deut­

liche Thematik wie bei einer klassischen Analyse ausmachen, einfach viel kürzer.

Wie in der Psychoanalyse spielte auch hier die Übertragung eine grosse Rolle, erschien der Arzt der Patientin, um die es hier ging, doch gänzlich verwandelt:

Sehr deutlich war die Partnerschaft des Arztes am Inhalt der Pseudohalluzinationen doch dargestellt, er erschien der Patientin als Mephisto, als Fakir, als Strahlenkopf […].

Diese knappen Hinweise mögen genügen, den gleichsam quantitativen Anteil zwischen Arzt und Medikament zu illustrieren.139

Es wird klar, dass die psychoaktiven Stoffe in Zürich 1957 auch in psychodyna­

mische Erklärungsansätze eingebettet werden konnten. Sie stellten weder die

135 Winkelman, A Psychoanalytic Study of Phenothiazine Action, 312.

136 Kline/Ostow, The Psychic Action of Reserpin and Chlorpromazine, 484f.

137 E.B. Gäde/Kurt Heinrich, »Neuroleptic Therapy Contrasted with Earlier Methods«, in: Nathan Kline (Hg.), Psycho pharma cology Frontiers. International Congress of Psychiatry Zurich 1957, Boston 1959, 133–136, 136.

138 Kline, Psycho pharma cology Frontiers, 449 (Diskussion Dr. Kinross­Wright).

139 Hans Walther­Büel, »Allgemeine Gesichtspunkte der Psychopharmakologie, Proto­

koll der 129. Versammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie«, in: Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirugie und Psychiatrie 84/1 (1959), 291–297, 296f.

Psychotherapie grundsätzlich in Frage noch wurden sie als ihr Gegenstück gese­

hen. Die psychodynamische Erklärungsachse betonte die Kontextabhängigkeit von Wirkungen und betrachtete psychische Störungen als eingebettet in Persön­

lichkeitsstrukturen, soziale Beziehungen und institutionelle Settings, die ihrer­

seits den Stoffen eine symbolische Dimension verleihen können. Laut Sarwer­

Foner tragen nebst den Haltungen der Ärzte und des Pflegepersonals auch Pa­

tienten ihren Teil zur Interpretation des Settings bei:

The unconscious as well as conscious visualization by the patient of what is appropriate to the setting – that is, what is sociologically required of him when under the influence of the drug and therefore controlled, in reference to standards of behavior of the specific hospital society – plays an important role.140

Die Stoffe haben zwar körperliche Effekte, aber »their physiologic action strikes the patient only in terms of his personal situation«.141 Dieser komplexen persön­

lichen Situation, die durch die Einnahme eines psychoaktiven Stoffes entsteht und wieder verändert wird, versuchte man Rechnung zu tragen. Die Mehrheit der psychodynamisch ausgerichteten Kongressteilnehmer stellte die körperliche Wirkung der Stoffe nicht in Abrede. Die Stoffe wirkten körperlich, wie es Dr.

Kinross­Wright in der Diskussion formulierte: »[…] they obviously cannot act upon the abstraction which we know as psyche«.142 Mit dieser körperlichen Wir­

kung wird in diesem Verständnis ein unspezifischer Prozess angestossen. Ent­

scheidend waren die Veränderungen in Denken und Fühlen, die dadurch aus­

gelöst wurden.

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 125-129)