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Körpereigene und körperfremde Stoffe

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 88-93)

Kapitel 2: Soma im Modell: Das Körperinnere wird stofflich erforscht

2.4 Körpereigene und körperfremde Stoffe

Mitte der 1950er Jahre entstand ein weiterer Angelpunkt der Modellpsycho­

sen­Forschung in den USA und in Kanada. Dies verlieh der Suche nach dem Stoff X und dem Gedanken, Psychosen und allgemeine psychische Funktions­

weisen könnten modelliert und experimentell untersucht werden, neuen Schub.

LSD gelangte über den Bostoner Psychia ter Max Rinkel 1949 in die USA, der von einem Wiener Kollegen davon gehört hatte und sich von Sandoz Muster zustellen liess.88 Rinkel, der nach Kanada ausgewanderte britische Psychia ter Humphry Osmond, der amerikanische Arzt Harold Abramson sowie Paul Hoch, Psychia ter, waren die Protagonisten dieser frühen Halluzinogen­Forschung in den USA und Kanada – bis auf Abramson alle europäische Emigranten. Am Weyburn Hospital in Saskatchewan, Kanada, bildete sich unter der Leitung von Osmond ein Zentrum der Modellpsychosen­Forschung. Auch Roland Fischer, ungarischer Psychopharmakologe, der in Basel promoviert hatte und dann in Bern forschte, ging 1952 nach Kanada und später in die USA, um weiter mit Modellpsychosen zu arbeiten. Die Forschungen der Gruppe um Humphry Os­

mond untersuchten phänomenologische Ähnlichkeiten zwischen Schizophrenie und Rausch und suchten experimentell nach möglichen Stoffwechselprodukten, die Meskalin und LSD ähnelten. In diesem Kontext entwickelten sie eine Hy­

pothese zur Entstehung der Schizophrenie, welche die nächsten zwanzig Jahre dominieren sollte, danach jedoch fast vollständig vergessen ging: die Trans­

methylierungshypothese.89 Sie besagt, dass eine körpereigene Substanz durch eine Fehlumwandlung (bei der Transmethylierung) zu einem psychoseauslösen­

den Stoff werden könne. Eine hypothetische Substanz, »the M substance« ge­

nannt – M, weil sie strukturell Meskalin gleichen müsse.90 Sie fassten schliesslich Adrenochrom, ein Stoffwechselprodukt des Adrenalins, ins Auge.91 Somit war aus der Modellpsychosen­Forschung erstmals eine testbare Hypothese entstan­

den, welche den hypothetischen X­Stoff konkretisierte als körpereigenen, hallu­

zinogenen Adrenalin­Abkömmling. Diese wurde wiederum mit dem Spinnen­

test geprüft (vgl. Abb. 9, Seite 76).

88 Max Rinkel, »Experimentally Induced Psychoses in Man«, in: Harald A. Abramson (Hg.), Neuropharmacology. Transactions of the 2nd Conference, May 25–27 1955 in Prince-ton, Macy, New York 1956, 235–258, 235; Lee/Shlain, Acid Dreams, 20.

89 Healy, The Creation of Psycho pharma cology, 182.

90 Humphry Osmond/John Smythies, »Schizophrenia. A New Approach«, in: Journal of Mental Science 98 (1952), 309–315.

91 Abram Hoffer/Humphry Osmond/John Smythies, »Schizophrenia. A New Approach II. Result of a Year’s Research«, in: Journal of Mental Science 100/418 (1954), 29–45; vgl. dazu auch Erika Dyck, »Flashback: Psychia tric Experimentation with LSD in Historical Perspec­

tive«, in: Canadian Journal of Psychiatry 50/7 (2005), 381–388.

Abb. 9: Netze von vier Spinnen unter Adrenochrom­Einfluss.

Die erste und dritte Kolonne vor, die zweite und vierte nach der Stoffeinnahme.

Witt, A Spider’s Web, 72.

Osmond und seine Kollegen gelangten eher zufällig zu der Idee: Einem ih­

rer Probanden, einem jungen Geschichtsprofessor und Asthmatiker, kam der Meskalin­Rausch vertraut vor. Bei schweren Asthmaanfällen nahm er jeweils Epinephrin (Adrenalin) zu sich und hatte ähnliche Reaktionen wie beim Meska­

lin.92 Deshalb suchten sie nach einem Stoff aus der Adrenalingruppe und sties­

sen auf Adrenochrom. Um ihre Hypothese zu testen, mussten sie sich nun auf gesunde Versuchspersonen beschränken. Es habe keinen Sinn, diese Hypothese an Kranken zu testen: Wenn sie mit ihrer Annahme richtig lagen, dass es eine toxische Substanz im Körper gab, wären diejenigen, die sie bereits in sich trugen – »abnorme Menschen, psychotische Patienten« – gänzlich ungeeignete Testsub­

jekte.93 In der Folge testeten sie Adrenochrom an sich selbst und registrierten erstaunliche halluzinogene Effekte. Osmond machte selbst auf dem Höhepunkt des Rausches einen Rorschachversuch und sah in den Tintenklecksen noch nie gesehene Dinge – zum Beispiel einen Garnelenverkäufer –, wie er mit Erstaunen festhielt.94

Adrenochrom konnte also tatsächlich in gesunden Versuchspersonen psycho­

seähnliche Symptome auslösen und wirkte ähnlich wie ein Halluzinogen. Der nächste Schritt der Beweisführung war der Nachweis von Adrenochrom oder einer ähnlichen Substanz im kranken Körper. Osmond und Abram Hoffer lies­

sen dazu das Blutserum von Schizophrenie­Patienten von einem Biologen, wel­

cher bereits mit einer Mäusezellen­Linie arbeitete, testen. Adrenochrom löste auf der Mäusehaut Reaktionen – Verfärbungen – aus. Daraus folgerten sie, wie Osmond auf einer Konferenz berichtete, dass es einen grossen Unterschied zwi­

schen dem Blutserum von ›Normalen‹ und Schizophrenen gebe. Mindestens 80 Prozent der Blutseren der Schizophrenen scheine toxisch auf Mäusezellen zu wirken.95 Wie Healy festhält, erschienen die ersten Ergebnisse von Hoffer und Osmond ungefähr zur selben Zeit, als die Neurotransmitter Serotonin und Nor­

adrenalin im Gehirn entdeckt wurden.96 Dies liess die Möglichkeit einer endoge­

nen, psychoseauslösenden Substanz im Hirn sehr viel plausibler erscheinen und katapultierte Hoffer und Osmond auf einmal an die Spitze dieser biologischen Spekulationen.97

Alsbald tauchte eine weitere These auf, welche die Modellpsychose und spe­

ziell die Suche nach einem körpereigenen Stoff stützte: Harold Abramson stellte 1955 auf einer Macy­Konferenz zu LSD in Princeton fest, dass das beste Antidot für LSD wiederum LSD sei. Schnell bilde sich bei normalen Versuchspersonen

92 Osmond, Research on Schizophrenia, 188.

93 Ebd., 189f.

94 Ebd., 200.

95 Ebd., 213.

96 Healy, The Creation of Psycho pharma cology, 185.

97 Ebd.

Toleranz; schon nach einem Tag wirke dieselbe Dosis nicht mehr richtig.98 Da­

mit drehte Abramson die Suche nach dem Soma um. Sein Argument besagte, dass diese Toleranzbildung bei Psychotikern nicht funktioniere, bei Gesunden hingegen schon, wie man bei LSD­Versuchen beobachten könne. Laut Abram­

son gebe es deshalb eine »protective substance«, welche die Toleranz gegenüber der schädlichen, psychoseauslösenden Substanz sicherstelle.99 In diesem Modell steht nicht mehr die M­Substanz, der halluzinogene, körpereigene Stoff im Fo­

kus, sondern ein Toleranzstoff – eine Art chemischer, homöostatischer Schutz­

stoff, der bei psychisch Kranken fehlt oder nicht mehr funktioniert. Dies war nun eine neue Wendung im alten Argument mit weitreichenden Folgen. Die Kon­

gress teil neh mer fragten nach, ob die Toleranz also das sei, was uns ›normal‹

halte. Abramson bejahte dies: Es bedeute weiter, dass wir alle potenziell schizo­

phren seien und von dieser schützenden Substanz davor bewahrt werden:

Contrary to what was said previously in this discussion, that not all of us can develop schizophrenia, I am maintaining here that everyone is potentially capable of having his P [LSD­analogous substance involved in schizophrenia] plus E [neuro­metabolic system]

in this series get out of control.100

Abramson ging in der Diskussion noch einen Schritt weiter. Er glaube nicht, dass es »such a thing as mental illness« überhaupt gebe. Er glaube, dass die Schizo­

phrenie bloss ein Effekt eines psychosomatischen Prozesses sei, wie ein Magenge­

schwür. Deshalb müsse man endlich aufhören, die Biochemie zu umgehen, wenn man über mentale Prozesse spreche.101

Die strukturelle Überblendung von Psychose und halluzinogenem Rausch führte dazu, dass kontrollierte, zeitlich beschränkte Modellpsychosen in einem klinisch­experimentellen Setting untersucht wurden. Die Ähnlichkeit der bei­

den Ausnahmezustände basierte jedoch immer noch auf phänomenologischer Beobachtung, gestützt auf Verlaufsanalogien, klinischer Beobachtung und Be­

richten der beteiligten (gesunden) Versuchspersonen. Diese Verlaufsprotokolle und Beobachtungen bezogen sich auf narrative Verläufe – von einem Einsetzen der Wirkung über den Höhepunkt des Rausches zum Abklingen und schliess­

lich zum erinnernden Wiedererleben. Eine zweite Beweisführung versuchte, wie oben erläutert, halluzinogene Spurenstoffe mittels einer Umkehrung der Beweis­

last in Urin, Blut oder Rückenmark nachzuweisen. Damit wollte man auf biolo­

gischem Weg belegen, dass im Stoffwechsel von Schizophrenen Autotoxine vor­

handen seien, die bei normalen Versuchspersonen fehlten – in welchen sie, so

98 Harold A. Abramson, »Tolerance to LSD­25 and a Theory of Psychoses«, in: Neu-ropharmacology. Transactions of the 2nd Conference, May 25–27th1955 in Princeton, New York 1956, 259–300, 259.

99 Ebd., 291.

100 Ebd., 290.

101 Ebd., 292f. Die Publikationen der Macy­Konferenzen zeichnen sich durch eine mög­

lichst wortgetreue Wiedergabe der lebhaften Diskussionen aus.

ein weiterer Argumentationspunkt, wiederum Schizophrenie auslösen müssten, wenn das extrahierte Autotoxin von Schizophrenen in Gesunde injiziert würde.

Der Stoff X, das Autotoxin, wurde nie gefunden, trotz verfärbter Mäusehaut und trotz Osmonds Rauscherfahrung mit Adrenochrom, die ihn einen Garnelenver­

käufer sehen liess. Die Thesen, die im Kontext der Modellpsychosen formuliert wurden, waren dennoch wirkmächtig. Sie richteten den Fokus gänzlich auf die physiologischen Komponenten des Verhaltens und dachten die Psyche als soma­

tisch gesteuert.102

Zwei Aspekte sind dabei besonders wichtig: Erstens untersuchte diese For­

schungsrichtung psychische Störungen im Körperinnern. Es ging nicht mehr um äusserlich sichtbare Symptome, sondern um Spuren im Körper. Bereits mit Mo­

reau de Tours Haschisch­Experimenten sei, so argumentiert Michel Foucault, für die »körperlose« Disziplin Psychiatrie ein neuer Raum der Evidenz entstanden:

Jenen berüchtigten organischen Körper, den die Anatomen und Pathologen vor sich hat­

ten und der dem Irrenarzt fehlt, diesen Körper, diesen Boden der Evidenz, diese Instanz der experimentellen Bestätigung, die dem Psychia ter fehlt, wird er nun durch seine ei­

gene Erfahrung ersetzen können.103

Mit der Untersuchung des Körperinnern wurde dieser nochmals erweitert.

Zweitens rückten damit Prozesse in den Vordergrund: der Metabolismus, Stoff­

wechselprodukte, neurologische, biologische, chemische Abläufe und Stoffum­

wandlungen. Wichtig ist ausserdem, dass die Modellpsychosen­Forschung expe­

rimentell vorging. Sprachliche Verfahren rückten in diesem Kontext in den Hin­

tergrund und biologische und chemische Nachweise gewannen an Bedeutung.

Georges Canguilhem hat für die Bakteriologie und Physiologie eine Experimen­

talisierung des Lebens beschrieben, die Michael Hagner wie folgt auf den Punkt bringt: eine Entwicklung »vom subjektiven Erleben des Patienten in die Objek­

tivität der Zeichen, von der Körperoberfläche ins Körperinnere und von der Kli­

nik ins Labor«.104 In der Modellpsychosen­Forschung schienen diese Verschie­

bungen erneut vollzogen worden zu sein. Allerdings war dies beschränkt auf diese Forschungsrichtung, eine Strömung innerhalb einer grossen Bandbreite von psychiatrischen Schulen und Ansätzen, die sich im Vergleich zu psychody­

namischen Ansätzen selbst als marginal, jedoch ihrer Zeit voraus betrachtete.105

102 Seit den 1990er Jahren gibt es eine zweite Welle der Modellpsychosen­Forschung, im Kontext der Bewusstseinsforschung. Langlitz, Neuropsychedelia.

103 Foucault, Die Macht der Psychiatrie, 407.

104 Georges Canguilhem, Schriften zur Medizin, Zürich 2013 (mit einem Nachwort von Michael Hagner), 115–142, 118.

105 Vgl. zu anderen Ansätzen Kap.3.

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