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Zwischen Gesundheit und Normalität

Im Dokument 4 Historische Wissensforschung (Seite 136-0)

Kapitel 3: Expertisenbildung in Zürich 1957

3.8 Zwischen Gesundheit und Normalität

In den Debatten in Zürich 1957 stand ein mechanistisches gegen ein erfahrungs­

und sprachbasiertes Menschenbild, wenn es um die Wirkung psychoaktiver Stoffe ging. Die neuen Stoffe schufen Problematisierungen, die in ihrer Komple­

xität für viele nur durch einen konzertierten Zusammenschluss aller möglichen Zugänge und involvierten Disziplinen angegangen werden konnten. Für andere wiederum boten sie die Möglichkeit, ihren eigenen Zugang stark zu machen und für die Zukunft Beweise und Rätsellösungen zu versprechen. Die gesamten zu­

gänglichen Dokumente, die im Rahmen des II. Internationalen Kongresses für Psychiatrie produziert wurden, deuten auf den heterogenen und unbestimmten Charakter der psychoaktiven Stoffe zu diesem Zeitpunkt hin, deren Wirkungen nur mittels einheitlicher Diagnosesysteme, einer Einigung über die psychodyna­

mischen Persönlichkeitsmechanismen und ihr Zusammenspiel mit Hirn funk­

tionen oder schliesslich über standardisierte Evaluations­ und Testverfahren sta­

bilisiert werden konnten.

Im Rückblick lässt sich erkennen, wie die ›Basic Sciences‹ (Biochemie, Phar­

makologie, Neurologie) Einzug hielten in einem bisher vor allem von der Psychia­

trie besetzten Feld, wobei man sich zuallererst einmal auf die Begriffe, Termi­

nologien und Klassifikationen einigen musste. Bereits dies erwies sich jedoch als problematisch, brachen doch bei jeder der vorgeschlagenen Stoffgruppenbe­

zeichnungen ganze Bedeutungsfelder auf und stand jeder Name am Beginn einer langen Assoziationskette von Konzepten. Wenn im psychodynamischen Diskurs von Menschen und ihrer Individualität die Rede war, von psychischer Energie und innerem Gleichgewicht, und wenn viele Psychia ter eher von Patienten in ihrer Gesamtheit ausgingen und nicht von vereinheitlichten Krankheiten oder gar blossen Zielsymptomen, so sprachen Pharmakologen hingegen von Tiermo­

dellen und Zahlen. Experimentelle Logik und statistische Verfahren trafen auf sprachbasierte Zugänge und klinische Beobachtung, wobei die jeweiligen Anteile bei den einzelnen Beiträgern sich durchaus stärker überlagerten, als man dies an­

nehmen könnte. Vieles erschien unklar und komplex, und zugleich schien vieles möglich. Nathan Kline sah die Möglichkeit am Horizont aufscheinen, dass durch die neuen Stoffe nicht nur Krankheiten geheilt, sondern auch das Potential der gesunden Menschen gesteigert werden könne:

There is a need to direct attention to the fact that not all our efforts should be devoted to the rectification of disease. There is already preliminary evidence that the capacities and potentialities of the healthy human can be much more fully utilized than at present.

Over the course of the last few millennia there has been a slight trend in this direction.

It certainly appears possible that through the use of pharmaceutic agents such progress could be greatly expedited.173

173 Kline, Major Controversies and Needs, 20.

Bei anderen Kongressteilnehmern weckte die neue chemische Steuerbarkeit eher Befürchtungen und negativ gefärbte Zukunftsbilder technologischer Macht. Die Atomforschung habe der Menschheit die Macht über die Materie gegeben, und die chemischen Therapien würden ihr vielleicht bald schon eine gefährliche Macht über den Geist verleihen:

To be honest, there is some reason for anxiety about the future. Perhaps the anticipations of a Huxley will become the terrible reality of tomorrow. In the same way that atomic science has enabled us to acquire astounding power over matter, so chemical therapy will perhaps soon make available to us a dangerous power over the mind. As in insect colo­

nies, man, if fed the requisite diet, could be conditioned to become a slave, fit only for certain predetermined tasks. Therein lies a danger which, in our opinion, is even more terrible and monstrous than the atomic peril.174

Der Gedankenschritt von der psychopharmakologischen Therapie hin zu einer Sozialtechnologie, die zum Steuerungsinstrument für die gesamte Menschheit werden könnte, wurde 1957 in Zürich also bereits gemacht – in positiver und negativer Wendung. Zwar ging es über weite Strecken vor allem um die Frage, was zwischen Körper, ›krankem‹ Geist und Stoff geschah und welche Implika­

tionen dies für die Professionen und Institutionen hatte – aber quasi durch die Hintertür, unbemerkt von vielen, hatte auch der ›normale‹ Mensch den Raum betreten. Jeannie Moser argumentiert in ihrem Buch Psychotropen, dass auch in der Halluzinogen­Forschung zuerst pathologische Erfahrungsweisen erforscht wurden und in einem zweiten Schritt dann die Psyche selbst in ihren ›normalen‹

Funktionsweisen.175 Vielmehr als eine allgemeine Regel solcher Prozesse lässt sich hier allerdings ein historisch spezifischer Bruch ausmachen: Die modernen psychoaktiven Stoffe stärkten die Vorstellung, dass psychische Krankheiten eine physische Dimension haben (insbesondere bei den Psychosen). Damit veränderte sich das Verhältnis zwischen Körperlichem und Psychischem und damit auch die Machtverteilung zwischen beim Körper bzw. bei der Psyche ansetzenden Zugängen. Die Entdeckung einer neurochemischen Komponente im menschli­

chen Verhalten betraf nun aber nicht nur Psychotiker, sondern auch das normale menschliche Gehirn. Damit wurde eine ganze Reihe von nicht­psychotischen Gemütszuständen potenziell ebenfalls chemisch beeinflussbar. Wenn man Geis­

teszustände künstlich hervorrufen und medikamentös therapieren konnte, wur­

den sie transitorische Zustände und waren nicht mehr (unheilbare) lebenslange

›Eigenschaften‹ wie noch im Konzept des ›Irren‹ bzw. des ›Wahns‹. Auch wenn die Psychiatrie 1957 grösstenteils bereits von diesen Begriffen abgerückt war, so beschrieb sie doch häufig ihre Patienten noch als ›Schizophrene‹, als ›Psychoti­

174 Leon Fouks et al., »Treatment of Acute and Chronic Schizophrenic States«, in:

Nathan Kline (Hg.), Psycho pharma cology Frontiers. International Congress of Psychiatry Zurich 1957, Boston 1959, 127–132, 132.

175 »Die Idee der Modellpsychose weicht der eines Modells der Psyche«. Moser, Psycho­

tropen, 174.

ker‹ und nicht als Personen mit der Diagnose ›Schizophrenie‹ – die Grenze zwi­

schen der Krankheit, die man hat, und der Person, die man ist.

Im vorliegenden Kapitel wurde gezeigt, wie die Einführung der modernen psychoaktiven Stoffe in der Forschung und in der Therapie auch eine neue Sprache nötig machte. Die neuen Wörter der Psychopharmakologie schwankte zwischen der Bezugnahme auf Diagnosekategorien und ›normalen‹ Persönlich­

keitsmerkmalen bzw. Hirn funk tionen, solange unklar war, ob ihre Erkenntnisse sich auf psychische Störungen beschränkten – allen voran die Psychosen oder Schizophrenien –, oder ob sich ihre Resultate potenziell auf alle Menschen, ob krank oder gesund, anwenden liessen. Ich habe argumentiert, dass in den psy­

chopharmakologischen Hypothesen über die Genese psychischer Störungen be­

reits der Schritt zu einer Verallgemeinerung für den grundsätzlichen Zusam­

menhang zwischen psychischen und physischen Prozessen angelegt war. Was für Kranke galt, galt nun für alle. Das Rätsel des Geistes wurde mit dem Instru­

ment des Stoffes angegangen. Auch psychodynamisch ausgerichtete Psychia ter konnten die stofflichen Anteile am ›Geist‹ oder am Innern zunächst in ihre Kon­

zepte integrieren, indem die verschiedenen Stoffe als Verbündete der Ärzte, als Türöffner oder als Psychotherapie im Kleinen bzw. im Schnellen konzipiert wur­

den. Diese psychopharmakologische Grammatik oder Sprache war, wie ich ar­

gumentiert habe, eng an eine Internationalisierung geknüpft, die in Verbindung mit der Internationalisierung der Psychiatrie, des Pharmamarktes und Institu­

tionen wie der WHO stand.

In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, dass weder Klines Utopie der Steigerung durch Stoffe noch die Dystopie einer chemischen Versklavung wirk­

lich wurden, sondern dass die Psychopharmakologie und ihre Stoffe die Gren­

zen der Kliniken leiser und unauffälliger überschritten und zögerlicher über das Feld der Medizin hinaus Bedeutung erlangten als befürchtet bzw. gewünscht (ob durch Ausweitung der medizinischen Sphäre oder durch Eintritt in die Konsum­

kultur sei noch dahingestellt). Meine Quellenanalyse legt den Schluss nahe, dass sich bereits im Diskurs im September 1957 an der ETH Zürich eine Verschie­

bung ausmachen lässt: eine Veränderung dessen, was als behandelbar erschien, und ein neuer Zugriff auf das menschliche Innere. Wenn man, wie Nathan Kline meinte, über wirklich wirksame psychoaktive Stoffe verfügte, so hatte dies weit­

reichende Folgen:

If the theory is true, then for the first time we shall have an organic lever with which to deal with the hypothetical, imprecise concept of psychic energy. The possibility of in­

fluencing it immediately creates the possibility of objectively confirming its existence, refining our understanding of it, and ultimately measuring it – all of these [are] achieve­

ments of great theoretic and practical value.176

176 Kline/Ostow, The Psychic Action of Reserpin and Chlorpromazine, 502.

Wichtig für unseren Kontext ist der Viererschritt »beeinflussen – bestätigen – besser verstehen – messen«. Dieser organische Hebel – das Instrument Psycho­

pharmakon – eröffnet nicht nur einen Wissensraum. Dieser ist in dieser Logik von Beginn an verbunden mit Intervention. Erst durch die stoffliche Beeinflus­

sung des Innern können Konzepte getestet und Werte gemessen werden, erst die Intervention ermöglicht das Verständnis. Wenn nun neue Stoffe wirksam wa­

ren, so rückten auch neue Bereiche in den Blick: Verhaltensweisen, Krankheiten, Hirnregionen, Persönlichkeiten.

Kapitel 4

Situiertes Wissen:

Von ›Geigy rot‹ zum depressiven Selbst

Im vorliegenden Kapitel wird der Fokus weg vom international zirkulierenden Wissen der Psychopharmakologie auf einen spezifischen Klinikkontext gerich­

tet, um lokale Orte der Wissensproduktion in den Blick zu nehmen. In der Klinik wurden nicht nur therapeutische Stoffe verabreicht, sondern auch bewertet, um­

gedeutet und stabilisiert, indem Wirkungen an Diagnosen und Stoffe an Patien­

ten und Patientinnen geknüpft wurden. Hierzu wird die Psychiatrische Klinik Münsterlingen1 im Kanton Thurgau in den Blick genommen, wo in enger Zu­

sammenarbeit mit dem Basler Pharmaunternehmen J.R. Geigy AG das erste An­

tidepressivum Imipramin (Tofranil) ›entdeckt‹ wurde. Die Klinik Münsterlin­

gen stand auch im Wissens­ und Stoffaustausch mit anderen Kliniken und Phar­

maunternehmen, wobei verschiedene Akteure wichtig waren: die psychoaktiven Stoffe, die pharmazeutische Industrie, der Oberarzt Roland Kuhn, das Pflegeper­

sonal sowie die Patientinnen und Patienten in Münsterlingen. Aus dieser Kon­

stellation gingen schliesslich, in Kombination mit Entwicklungen andernorts, u.a. in Amerika, die wirkmächtige Diagnose ›Depression‹ und ihre Behandlung mit Antidepressiva hervor. Damit rückten das Gemüt, seine Stimmung und Ver­

stimmungen und die damit assoziierten Störungen in den Fokus. Die dazugehö­

rigen Stoffe – zum Imipramin kam fast zeitgleich ein weiteres Antidepressivum namens Iproniazid hinzu – trugen viel zur Popularisierung der Psychopharma­

kologie bei und wurden zu Zeichen einer Entwicklung über die Klinikmauern hinaus in Richtung einer breiteren gesellschaftlichen Verwendung psychoakti­

ver Stoffe für Leiden, die nicht mehr eindeutig der psychiatrischen Domäne zu­

geordnet wurden.

Über das Fallbeispiel Münsterlingen/Geigy wird auch eine andere Modali­

tät des Zugriffs auf die Kategorie des Subjekts fassbar: Es geht um Patientinnen und Patienten, an deren Fühlen und »Erleben« (Kuhn) sich Wirkung manifestie­

ren sollte und welche dadurch zugleich selbst verändert wurden. Nicht nur ihre Stimmungen und ihr Verhalten veränderten sich durch die Stoffwirkung und ihre Depression besserte sich im Erfolgsfall, sie wurden durch den neuen Stoff

1 1966 wurde die bisherige »Heil­ und Pflegeanstalt Münsterlingen« in »Kantonale Psychiatrische Klinik« umbenannt. Regierungsratsbeschluss vom 22.11.1966, StATG 9’14, 5.2.6.0/2.

auch zu neuen Kranken. Bis in die 1950er Jahre war der klassische Depressions­

typ eine schwere, häufig mit Manie verbundene Erkrankung, leichtere depres­

sive Verstimmungen wurden oft noch als ›normal‹ betrachtet.2 Mit den neuen Behandlungsmöglichkeiten wurden auch leichtere Formen der Depression medi­

kalisiert. Wirkte ein Antidepressivum bei einem nicht eindeutigen Krankheits­

bild, konnte es zum entscheidenden Argument für die Diagnose ›Depression‹

werden.3 Das bedeutet, dass nicht nur Diagnosen psychiatrische Störungen zu­

teilten, sondern dass umgekehrt auch Stoffwirkungen an der Eingrenzung und Festlegung von Krankheitsdefinitionen beteiligt waren.

Die Stoffwirkung ist an einen Prozess des »Leute­Erfindens« gekoppelt, an Klassifikationen und Kategorien, welche ihren Gegenstand, die depressive Pa­

tientin, mit erfinden.4 Das heisst nicht, dass die Symptome der Depression bloss eingebildet wären. Sie werden jedoch durch die Diagnosestellung und die neue Möglichkeit, sie spezifisch medikamentös zu behandeln, unter dieser Kategorie gebündelt. Patienten werden auf neue Weisen in einem Klassifizierungssystem verortet. In seiner lokalen Interpretation bildete dieses Klassifizierungssystem zugleich die Basis, auf der eine Stoffwirkung überhaupt erst experimentalisiert werden konnte. Denn Testreihen mit neuen Substanzen mussten stets mit einem Ziel durchgeführt werden. Man konnte nur testen, ob ein neues Pharmakon bei bestimmten Patientengruppen eine bestimmte Wirkung zeigte. Aus dieser An­

ordnung von Klassifizierung, Experiment und Aufschreibeverfahren entstand ein neuer Zugriff auf Patienten, der als »Looping effect«5 auf sie zurückwirkte.

Diese Rückwirkung auf Patientinnen wird zwar mit den Münsterlinger Quellen nur beschränkt fassbar, da Selbstzeugnisse selten sind. Sie wurde jedoch in der Popularisierung der Antidepressiva und der Kategorie der Depression wirksam, weshalb am Schluss des Kapitels die Frage des ›depressiven Selbst‹ ausserhalb der Klinikmauern diskutiert wird. Kuhns Subjekte für die Geigy­Versuchsreihen waren allerdings nicht von Beginn an ›willige‹ Depressive, sondern es kam zu ei­

ner Reihe von Problemen, welche die klassische Erfolgsgeschichte über die Erfin­

dung des ersten Antidepressivums auf eine etwas komplexere Grundlage stellen.

Im vorliegenden Kapitel wird die Entdeckungsgeschichte von ›Geigy rot‹

problematisiert, eines der klassisch gewordenen Narrative der Geschichte der

2 Obschon in der Psychoanalyse bereits neurotische Depressionsformen beschrieben worden waren, bezog man sich meist noch auf Emil Kraepelins Begriff des ›manisch­de­

pressiven Irreseins‹, worunter nur schwerste Krankheitsformen gefasst wurden. Man nahm deshalb auch an, dass diese schwere Form der Depression unter 1 %der Bevölkerung betraf.

Vgl. dazu Daniel Hell, »100 Jahre Psychiatrie und Psychotherapie. Wege der Depressions­

behandlung«, Festansprache vom 6.9.2012.

3 Lakoff, Pharmaceutical Reason, 18–72.

4 Ian Hacking, »Leute erfinden«, in: Ders., Historische Ontologie, Zürich 2006 [1986], 119–135.

5 Ian Hacking, »The Looping Effects of Human Kinds«, in: Dan Sperber/David Premack/

Ann Premack (Hgg.), Causal Cognition. A Multidisciplinary Debate, Oxford 1995, 351–383.

Psychopharmakologie, indem diese mit Stoff­ und Akteursverflechtungen kon­

frontiert wird. Es wird nach der Zeugenschaft verschiedener Akteure bezüglich Stoffwirkung und Diagnosen gefragt, um den lokalen Kontext des neuen Wis­

sens zu analysieren, das im Versuch entstand und vorwiegend auf dem klini­

schen Blick des Psychia ters aufbaute. Quellengrundlage des Kapitels bilden Ak­

ten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen6 und aus dem Novartis­Archiv (Geigy) sowie publizierte Quellen. Es wurden auch Krankenakten von Patienten in die Analyse einbezogen, die über Findmittel (Namenslisten zu Testreihen) auffindbar waren. Was in diesen Dokumenten greifbar wird, ist jedoch häufig nicht die direkte ›Stimme der Patienten‹, sondern Beobachtungen des Pflegeper­

sonals, der Ärzte und Berichte von Angehörigen.7 Im ersten Unterkapitel geht es um klinische Kontexte in der Schweiz, um die Münsterlinger Klinik einzu­

ordnen und die Entwicklungen seit der Einführung von Chlorpromazin aufzu­

zeigen. Danach folgt die Entdeckungsgeschichte des Imipramins von der Ex­

perimentreihe bis zum fertigen Produkt. Die darauf folgenden vier Unterkapi­

tel problematisieren diese Entdeckungsgeschichte von verschiedenen Seiten her:

Erstens geht es um die Vernetzung Kuhns und des Pharmaunternehmens Geigy.

Zweitens geht es darum, Stoffverflechtungen aufzuzeigen, da das Imipramin ei­

nige Vorläufer­ und Nachfolgerstoffe hatte. Drittens wird der geübte Blick von Kuhn analysiert und aufgezeigt, in welcher Logik diese Diagnose­Stoff­Konstel­

lation stand. Viertens geht es um die Akteure Patienten und Pflegepersonal, die in unterschiedlicher Weise als verlässliche oder weniger verlässliche Zeugen in der Stabilisierung einer Stoffwirkung fungierten. Danach wird die Entdeckung der Wirkung als situiertes Wissen und kollaborative Leistung beschrieben, wäh­

rend sich das letzte Unterkapitel der Popularisierung der Depression in den da­

rauf folgenden Jahren widmet.

6 Die Akten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen (PKM) der Jahre 1840–1980 befinden sich im Staatsarchiv Thurgau. Roland Kuhn, der ab 1938 Oberarzt und ab 1972 Direktor der PKM war, ist in jüngster Zeit im Zusammenhang mit Medikamentenversu­

chen in Kritik geraten. Vgl. dazu Martina Akermann et al., Kinderheim und Sekundarschule St. Iddazell. Historische Untersuchung. Bericht der BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte, Zürich, zuhanden des Vereins Kloster Fischingen, 15.4.2014, http://www.landesgeschichte.

ch/fischingen.html, 114–119 [Stand: 17.2.2016]. Ende 2013 ging der Nachlass von Roland Kuhn und Verena Kuhn­Gebhart an das Staatsarchiv Thurgau. Er wird seit Frühjahr 2016 von einer Expertenkommission hinsichtlich der Münsterlinger Medikamentenversuche aufgearbeitet. Der Grossteil der Akten zur psychopharmakologischen Forschung in der PKM wird im Nachlass Kuhn vermutet.

7 Zu der Problematik der Arbeit mit Krankenakten und dem Forschungsdesiderat, die Stimme der Patientinnen mit zu berücksichtigen, vgl. Porter, The Patient’s View.

4.1 Lokale klinische Kontexte

Stoffe wie LSD, Chlorpromazin, Reserpin und ab Ende der 1950er Jahre auch die beiden Antidepressiva Iproniazid und Imipramin waren nicht nur bezüglich psychopharmakologischer Wissensgenerierung wichtig, sondern vor allem auch auf der praktisch­therapeutischen Ebene innerhalb der Kliniken und später in den Hausarztpraxen und im ambulanten psychiatrischen Dienst. Im diesem Zu­

sammenhang tritt eine andere Konstellation in den Vordergrund: die therapeu­

tische Trias, welche aus Patient, Arzt und Stoff besteht und bei der in der Praxis auch das Pflegepersonal eine wichtige Rolle spielt. Bereits fünf Jahre nach der Ein­

führung von Chlorpromazin war klar, dass man die Medikamente über längere Zeit und in geringeren Dosen verabreichen musste. Die Idee der ›grossen Kuren‹

mit ihrer Krise und Heilung wurde von einer kontinuierlichen Medikamentie­

rung überlagert und schliesslich abgelöst. Dieser Wandel beruhte vor allem auf der Beobachtung, dass viele Patienten nach einiger Zeit wieder rückfällig wurden und in die Klinik zurückkehrten, nachdem sie als ›geheilt‹ entlassen worden wa­

ren. Unter den neuen Umständen wurden vielerorts die Kliniken rekonfiguriert:

Nicht nur wurden sie in einem ersten Schritt offener, modernisiert und die Mau­

ern fielen. Es wurden auch neue Angebote eingeführt: Die Kliniken wurden of­

fen für Tagespatientinnen oder Teilentlassungen – so z.B. in der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel (Friedmatt), wo zwischen Tages­ und Nachtpatienten un­

terschieden wurde. Tagespatienten verbrachten die Nacht ausserhalb der Klinik und vice versa.8 Die Vorstellung der Besserung oder Heilung wandelte sich all­

mählich von einem absoluten zu einem graduellen System. In Basel unterschied man zwischen drei bis vier Stufen der Besserung, die von »sozial oder voll remit­

tiert« bis zu »ungebessert« reichten.9 Bei der Beurteilung der Psychopharmaka wurde neu auch die Langzeitperspektive berücksichtigt: »[W]eniger erfreulich als die unmittelbaren Behandlungsresultate sind diejenigen auf weite Sicht hin«, urteilte der Basler Psychia ter Felix Labhardt über die Chlorpromazin­Therapie.10 In der Basler Klinik wurde Chlorpromazin bereits 1952 erstmals angewendet, also kurz nachdem aus Frankreich die allerersten psychiatrischen Ergebnisse be­

richtet worden waren und bevor der Stoff 1953 breiter bekannt wurde. Diese erste

›Langzeitstudie‹ umfasste tatsächlich nur drei Jahre bis 1955. Zudem wurde of­

fenbar nicht klar zwischen therapeutischer und experimenteller Anwendung des Stoffes unterschieden.

8 Felix Labhardt, »Die Ergebnisse der Largactilbehandlung Schizophrener von 1953 bis 1955 an der Basler Psychiatrischen Universitätsklinik«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 79/2 (1957), 355–389, 356.

9 Ebd., 357.

10 Ebd., 360.

Neu ins Spiel kam hier allerdings die Kategorie der sozialen Besserung. Laut Felix Labhardt war es unklar, ob Chlorpromazin direkt in den schizophrenen Mechanismus eingreife, da dieser selbst weitgehend unbekannt sei. Die Wirkung scheine vor allem symptomatisch zu sein. Manfred Bleuler war der Meinung, dass die neuroleptischen Behandlungen hauptsächlich eine verkürzende, be­

sänftigende Wirkung hätten, die vor allem andere Heilungsprozesse ermögliche.

Labhardt argumentierte hingegen, die Neuroleptika hätten eine tiefer greifende Wirkung auf den schizophrenen Verlauf als alle bis dahin bekannten Metho­

den. Er kam zu dem Schluss, dass trotz der Rückfälle viele schizophrene Patien­

ten nun in einer besseren Verfassung seien – zumindest was das soziale Verhal­

ten betreffe.11 Der Enthusiasmus der frühen Jahre wich also, zumindest in Basel, schon nach wenigen Jahren einer etwas differenzierteren Sichtweise, die ein Fra­

gezeichen hinter den Begriff der Heilung setzte und sie durch die Kategorie der

gezeichen hinter den Begriff der Heilung setzte und sie durch die Kategorie der

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