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Zwischenbilanz

5.3 Das Paradies und der Himmel

5.3.1 Das irdische Paradies

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ANGENENDT 2009, S. 216).83 Er übernahm aus der literalen Auslegung die Existenz eines irdischen Paradieses, ohne sich für dessen geografische Details zu interessieren, und baute darauf allegorische Auslegungsschichten auf (siehe GRIMM 1977, S. 171f). Die nach-augustinischen Paradieskommentare schwanken zwischen stark allegorischen oder ekklesio-logischen Auslegungen, wie zum Beispiel bei Isidor von Sevilla, und sehr literalen Auslegungen, wie zum Beispiel bei Beda (ebd., S. 172). Im zwölften Jahrhundert setzt sich in den Glossenwerken der spätmittelalterlichen Theologie, Systematik und Geografie die doppelte augustinische Paradieskonzeption endgültig durch, wobei sich im Rezeptionsprozess die ursprüngliche Intention Augustinus verändert hatte:

Von der ursprünglichen Konzeption bleibt nicht viel mehr als die grundsätzliche Dualität von Irdischem und Himmlischem Paradies. Das Himmlische Paradies wird im zwölften Jahrhundert, wohl unter dem Einfluß, den das naturwissenschaftliche Interesse der Schule von Chartres ausübte, kosmologisch eindeutiger bestimmt, auch dies eine Entwicklung, die mit dem Augustinismus kaum vereinbar scheint. (GRIMM

1977, S. 168)

Die augustinische Unterscheidung zwischen irdischem und himmlischem Paradies dominiert auch im mittelniederländischen Korpus.84 Eindeutig zwischen beiden Begriffen unterschieden wird im Sidrac (vgl. u. a. eertsche paradijs, Sidrac, Frage 11, S. 43, bogaert, Sidrac, Frage 59, S. 66, gegenüber bliscap des ewichs paradijs, Sidrac, Frage 59, S. 66) und bei Jan van Leeuwen (vgl. u. a.

hemelschen paradise und eertschen paradise, Tien gheboden, f. 6rb). Im Lekenspiegel und in Teesteye wird nur das (irdische) Paradies als Paradies bezeichnet (dersche paradijs, Lsp., I, 21, V. 22, paradyse, Teest., 3, V. 318), für das himmlische Paradies werden meist Bezeichnungen wie

‚Himmelreich‘ verwendet (siehe unten, Kapitel 5.3.2).85

Der Begriff und die Idee eines irdischen Paradieses kommen in der Bibel zum ersten Mal in der Genesis vor. In der Genesis ist jedoch vom Garten von Eden die Rede (Gen 2:15). Erst in der griechischen Übersetzung der Bibel wird für den Garten Eden das Wort paradeisos (‚Paradies‘) verwendet, das auf das altpersische Wort für ‚eingezäunter Garten‘ oder

‚königlicher Park‘ zurückgeht (siehe MCGRATH 2003, S. 43, vgl. MORGAN 1990, S. 166).86 In

83 Grundlegend zur Geschichte der Paradiesauslegung im lateinischen Westen bis zum Mittelalter ist GRIMM 1977.

84 So auch bei Berthold von Regensburg (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 86).

85 Nicht eindeutig ist Sidrac, Frage 11, S. 43-45. Dort werden zunächst die Vertreibung aus dem irdischen Paradies und die Versperrung des Zugangs zum Paradies durch eine Feuermauer beschrieben. Dann wird ausgeführt, dass die Flammenmauer erst durch den Tod Christi gelöscht werden würde und Christus die alttestamentlichen Guten ins himmlische Paradies überführen werde. Es hat den Anschein, als ob die Flammenmauer den Zugang zum lischen Paradies versperrt. Vielleicht schimmert an dieser Stelle die Vorstellung durch, dass der Weg in das himm-lische Paradies über das irdische Paradies führt, wie sie auch im Evangelium des Nikodemus zu finden ist. Im Lekenspiegel wird vermutet, dass sich der Eingang zum Himmel im irdischen Paradies befindet (vgl. Lsp., I, 21, V. 33-50).

86 Siehe MORGAN (1990, S. 166): „[...] by New Testament times the word paradise had three [...] meanings: A garden, the Earthly Paradise or Garden of Eden, and the eternal or celestal Paradise or Heaven.“ Erwähnenswert ist die

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mittelalterlichen Texten tritt das irdische Paradies entsprechend dieser Vorstellung in erster Linie als der Ort auf, von dem Adam und Eva nach dem Sündenfall vertrieben wurden (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 84), so auch in Sidrac, Lekenspiegel und bei Jan van Leeuwen.87

Das irdische Paradies wird zumeist in Anlehnung an Gen 2:8-14 als prächtiger Garten beschrieben, der im Osten der Erde auf einem Berg liegt und voller wohlriechender Gewächse ist, unter anderem dem Baum des Lebens, sowie umgeben von einem Feuerwall oder einem Ozean, für Normalsterbliche unerreichbar, mit immerwährendem Frühling und als Quellort der vier Paradiesflüsse (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 83). Diese Motive treten auch im mittelniederländischen Korpus häufig auf: Das irdische Paradies ist ein lieblicher Ort im Orient, an dem heiltätige Bäume wachsen (vgl. Sidrac, Frage 11, S. 43-45, Lsp., I, 21, V. 23-28), wegen der Lage des irdischen Paradieses im Osten sind alle Kirchen nach Osten ausgerichtet (vgl. Lsp., I, 21, V. 43-50), im Paradies gibt es keinen Hunger und wegen der Frucht des Lebens (vgl. Gen 3:22) – eindeutig als Apfel identifiziert – kein Älterwerden und keinen Tod (vgl. Sidrac, Frage 11, S. 43-45, nur kein Hunger und kein Durst in Lsp., I, 21, V. 29-32, nur Nennung des Baums und des Apfels in Teest., 3, V. 298-307, nur Nennung des Apfels in Tien gheboden, f. 6rb).

Nur im Lekenspiegel ist das Motiv der vier Paradiesflüsse anzutreffen. Diese entspringen aus einem im irdischen Paradies gelegenen Brunnen, fließen dann kreuzweise aus dem Paradies heraus und man kann in ihnen Saphire und andere Edelsteine finden (vgl. Lsp., I, 21, V. 61-78). Der gewaltige, im Garten Eden entspringende und sich in Pischon, Gihon, Tigris und Eufrat teilende Strom (Phison, gyon, tygris, eufrates, Lsp., I, 21, V. 70) wird schon in Gen 2:10-14

(falsche) etymologische Erklärung des Wortes ‚Paradies‘ bei Jan van Leeuwen. Bei ihm lesen wir, dass Paradies heiße Paradies, weil Gott alle Dinge dort als Paar hineinsetzte: ende aldus willen si dat sacrament des huvelijcs valsch maken dat god selve ordeneerde inden levende paradijse als si meynen dat men dat sonder sonde doen mach. Want daer omme soe hedt dat paradijs dat paradijs omme datter gods alles dincs een paer in sette tesamen (Dboec tien gheboden, f. 18rb). Aus diesem Zitat geht hervor, dass Jan van Leeuwen, obwohl er in einem Kloster als Laienbruder lebte, der weltlichen Ehe nicht negativ gegenüber stand. Zur Paradiesehe siehe auch Lsp., I, 21, V. 9-22, Lsp., I, 25, Teest., 39, V. 3390-3393. Das Motiv der Paradiesehe findet sich schon bei Augustinus und später im Elucidarium (siehe GRIMM 1977, S. 148).

87 Häufig genannte Aspekte sind: der himmelsähnliche Stand der Unschuld der Menschheit vor dem Sündenfall (Adam und Eva konnten Gott sehen, vgl. Sidrac, Frage 11, S. 43-45, Adam und Eva haben die Sünde mit aus dem Paradies herausgenommen, deshalb hat die Sintflut das Paradies nicht erreicht, vgl. Sidrac, Frage 252, S. 161, ähnl.

Lsp., I, 21, V. 51-60, Adam und Eva waren unschuldigen, reinen Herzens, vgl. Lsp., I, 23, V. 7-10), der Sündenfall (vgl. Sidrac, Frage 11, S. 43-45, ähnl. Lsp., I, 22-23, Teest., 3, V. 298-315, Tien gheboden, f. 6rb, Seven teekenen, f. 36rb) und Christi Erlösung der Menschheit von der Erbsünde (vgl. Sidrac, Frage 421, S. 225f, Lsp., I, 22, V. 31-44, Lsp., I, 23, V. 93-116). Die lange Ausführung zum irdischen Paradies im Lekenspiegel hat im Gegensatz zum Sidrac einen stark moralisierenden Charakter. Das irdische Paradies ist in Wraken kein Thema und wird in Teesteye nur zweimal beiläufig gestreift. Die Jenseitsreise in der Visio Tnugdali in der Vierten Partie führt auch durch das irdische Paradies und in den Himmel, dieser Teil ist jedoch in den mittelniederländischen Fragmenten der Vierten Partie nicht überliefert.

Siehe PALMER (1982, S. 191-201) für einige Auszüge aus der oberdeutschen Version, unter anderem aus der Himmelsbeschreibung, und einigen Überlegungen zu Lodewijks van Velthem Übersetzungsstrategie. Vgl. die Paradies- und Himmelsbeschreibungen in den mittelniederländischen Prosaversionen der Visio Tnugdali (in ENDEPOLS & VERDEYEN 1914-1917, Bd. 2, 1917, S. 126-177).

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beschrieben. Während die beiden letztgenannten Flüsse als die großen Flüsse des alten Mesopotamiens bekannt sind, wurden die beiden anderen Flüsse in der Vergangenheit unterschiedlich identifiziert und das irdische Paradies dementsprechend unter anderem in der Mongolei, in Indien, in Äthiopien und in der Türkei vermutet (siehe MCGRATH 2003, S. 41f).

Die Frage nach der geografischen Lage des ursprünglichen Gartens sollte man jedoch nicht überbewerten, da seine Bedeutung für die Autoren des Mittelalters vornehmlich spiritueller Art war (ebd., S. 42). Dies zeigt sich auch im Lekenspiegel, dem Jan van Boendale diese – im Vergleich zu seiner Hauptquelle Sidrac – zusätzlichen Details eindeutig nicht wegen der geografischen Zusatzinformationen hinzufügt.88 Vielmehr dienen sie als Anknüpfungspunkt für eine lange allegorische Auslegung der Paradiesflüsse als Christus, die vier Evangelisten und die vier Kirchenväter (vgl. Lsp., I, 21, V. 79-140, Lsp., I, 23, V. 117-144).89

Die Autoren des untersuchten Korpus folgen überwiegend der scholastischen Vorstellung, dass die vom Leib getrennte Seele direkt an den ihr bestimmten Jenseitsort gelangt, und nicht der älteren patristischen Vorstellung, dass das irdische Paradies der Zwischenaufenthaltsort der Seelen bis zum Jüngsten Gericht sei, die in der Scholastik deswegen als problematisch betrachtet wurde, weil sich somit „eine unkörperliche Seele an einem körperlichen Ort auf-halten würde“ (OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 86, Anm. 19). Die einzige Ausnahme findet sich in der Nacherzählung der Höllenfahrt Christi (siehe unten, S. 182) anhand des Evangelium des Nikodemus im Lekenspiegel. Dort lesen wir, dass sich Christus und die von ihm aus der Vorhölle befreiten vorchristlichen Guten bis zu ihrer gemeinsamen Himmelfahrt im irdischen Paradies aufhalten.90 Sie treffen während ihres Paradiesaufenthaltes auf den Schächer aus dem Lukasevangelium, der dort auf seine Aufnahme in das himmlische Paradies wartet (vgl. Lsp., II, 85, V. 1943-1996). Hier scheint Jan van Boendale über das Evangelium des Nikodemus unreflektiert die Vorstellung des irdischen Paradieses als Zwischenaufenthaltsort der Seelen rezipiert zu haben.

88 Ausführliche Beschreibungen des irdischen Paradieses finden sich vor allem im Sidrac (Frage 11, S. 43-45) und im Lekenspiegel (I, 21-23). Die Informationen aus dem Sidrac dienten als Hauptquelle für die Darstellung im Lekenspiegel (siehe MAK 1957b, S. 276, Anm. 49). Jan van Boendale schmückt die Informationen aus dem Sidrac jedoch ansehnlich mit Informationen aus anderen Quellen aus, deren Herkunft bei MAK nicht im Detail nachgewiesen ist.

89 Vergleiche die spirituellen Auslegungen des „lebenden Paradieses“ bei Jan van Leeuwen als Christus (vgl.

Ondersceyt, f. 174ra) und als Maria (vgl. Ghetuge, f. 152ra).

90 Dieses Motiv war weitverbreitet und ist u. a. im Elucidarium anzutreffen (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 86f).

Laut Sidrac dauert dieser Aufenthalt vierzig Tage (vgl. Sidrac, Frage 381, S. 208), im Lekenspiegel wird der Zeitraum nicht näher bestimmt (vgl. Lsp., II, 85). Die vierzig Tage bis zur Himmelfahrt Christi gehen auf Apg 1:3 zurück (vgl.

Lk 24:13-53, siehe ENGEMANN 1999b). Ein merkwürdiges Detail in Frage 381 des Sidrac ist, dass sich Christus nach seiner Auferstehung von den Toten zwölf Mal bis zum Tag des Jüngsten Gerichts zeigen wird (vgl. Sidrac, Frage 381, S. 208). Diese Anzahl ist nicht biblisch belegt.

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Im Mittelalter ging man im Allgemeinen davon aus, dass den Lebenden seit dem Sün-denfall der Zutritt zum irdischen Paradies versagt ist und Engel den Eingang zum Paradies bewachen (vgl. Gen 3:24) (siehe ANGENENDT 2009, S. 216).91 Dieser Aspekt spielt in der nur im Sidrac ausführlich nacherzählten apokryphen Kreuzholzlegende eine Rolle (vgl. Sidrac, Frage 18, S. 48).92 Laut der Kreuzholzlegende wurde dem von seinem todkranken Vater Adam zum irdischen Paradies entsandten Seth der Zugang zum Paradies durch einen Wachengel verwehrt, der ihm aber als Medizin drei Samen übergab, aus denen später der Kreuzbaum hervorging.93 Auf diese Legende wird im Sidrac auch an anderer Stelle im übertragenen Sinn Bezug genommen, indem Christus, das heißt die Taufe, als die Medizin bezeichnet wird, nach der Seth am Eingang des Paradieses gefragt hat, um Adam zu heilen (vgl. Sidrac, Frage 421, S. 225f). Im Lekenspiegel beschränkt sich Jan van Boendale, wie die meisten mittelniederländischen Autoren, auf wenige kurze Anspielungen auf diese Legende (vgl. z. B. Lsp., I, 23, V. 110-118, siehe BAERT 1995, S. 37, siehe ebd., S. 36-43, für weitere Belege im mittelniederländischen Sprachgebiet), das heißt, er selektiert die für ihn brauch-baren Aspekte, erzählt aber die obskure Legende nicht im Detail nach.

Die alttestamentlichen Propheten Elias und Henoch wurden als von Gott schon während ihres Lebens in das irdische Paradies überführt betrachtet (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 85). Man glaubte, dass sie dort bis zu ihrem Auftritt als Zeugen gegen den Antichrist am Ende der Zeit verbleiben würden (siehe unten, Kapitel 6.4). Diese seit der Patristik weit verbreitete Vorstellung ist innerhalb des Korpus nur in denjenigen Texten anzutreffen, die sich ausführlicher dem irdischen Paradies widmen, das heißt im Sidrac und im Lekenspiegel (vgl.

Sidrac, Frage 249, S. 159f, Lsp., I, 21, V. 141-146, Lsp., II, 108, V. 27-44, vgl. MAK 1957b, S. 276, Anm. 49). Zum einen treten Henoch und Elias in den anderen Texten nur in ihrer Funktion als Zeugen gegen den Antichrist auf und zum anderen ist gerade bei Jan van Leeuwen nicht auszuschließen, dass er die Vorstellung des Aufenthalts von Henoch und Elias im irdischen Paradies als zu volkstümlich empfunden und deshalb übergangen hat.94

91 Dieses Motiv taucht mehrmals im Sidrac und im Lekenspiegel auf (vgl. Sidrac, Frage 11, S. 43-45, Sidrac, Frage 249, S. 159f, Lsp., I, 24, 1-16, Lsp., II, 85, V. 1982-1986).

92 Die Kreuzholzlegende ist in der exegetischen Literatur nicht belegt. Sie ist zum Beispiel in Honorius’ Augusto-dunensis Schrift De imagine mundi (entst. um 1123, überarb. 1132/1133) aufgenommen, sie ist „ein weiterer Beleg für das Eindringen apokrypher Stoffe in die Exegese“ (siehe GRIMM 1977, S. 149f, Zitat S. 150).

93 Zu diesem auf apokryphe Adamsviten beruhenden Motiv siehe die Anmerkung zu Frage 18 des Sidrac (VAN TOL 1936, S. 233). Eine mittelniederländische Reimversion dieser Legende mit dem Titel Dat boec van den Houte wurde lange fälschlicherweise Jacob van Maerlant zugeschrieben, auch sie enthält das Motiv der drei Samen (u. a. in V. 225-226 der Ausgabe HERMODSSON 1959). Siehe BAERT 1995 für eine ausführliche Untersuchung der jüngeren niederländischen Prosaversion und zur Entstehung der Legende.

94 Auch in den deutschen Predigten Bertholds von Regensburg spielt diese Legende nur eine Nebenrolle und es ist nicht eindeutig, ob sich Berthold das irdische oder das himmlische Paradies als Aufenthaltsort der beiden Propheten vorstellt (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 86). Im Lekenspiegel wird das irdische Paradies zusätzlich als Aufent-haltsort des Evangelisten Johannes (vgl. Lsp., II, 108, V. 27-44, Lsp., II, 109, V. 45-72) und von Moses erwähnt (vgl.

Lsp., II, 85, V. 1257).

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Im Allgemeinen wird in der mittelalterlichen Theologie das irdische Paradies nicht als eschatologische Endbestimmung betrachtet, das heißt, man ging davon aus, dass es sich beim Schoß Abrahams in der Lazarus-Parabel (Lk 16:23) und bei dem Paradies des Schächers (Lk 23:43) um einen anderen Ort handelt – das himmlische Paradies (siehe OECHSLIN

WEIBEL 2005, S. 83).95 Gemäß dieser Tradition wird im Sidrac das Paradies des Schächers eindeutig als himmlisches Paradies identifiziert (vgl. Sidrac, Frage 380, S. 207f). Auch Jan van Leeuwen verweist im Rahmen von Moralisierungen kurz auf den Schächer. Er verurteilt, dass viele Sünder darauf hoffen, dass sich Gott ihnen so barmherzig zeigen wird, wie er sich gegenüber dem Schächer zeigte: ghelikerwijs dat hy dede des moordenaren die aent cruce hinc ter rechterhant cristus side (Bedinghen, f. 54va). Diese Hoffnung ist vergeblich, denn dies war ein besonderes Zeichen der Gnade Gottes, das nicht jedem erwiesen wird (vgl. Seven teekenen, f. 65ra). In einigen Texten, wie zum Beispiel im Elucidarium, findet sich jedoch auch die Vor-stellung, dass die erneuerte Erde nach dem Jüngsten Gericht das wiedererlangte irdische Para-dies sein würde (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 84, vgl. MCGRATH 2003, S. 41). In diesem Zusammenhang soll die Vorstellung des Millenniums als Paradies auf Erden nicht unerwähnt bleiben. Sie geht auf die Johannesoffenbarung zurück, in der von der tausendjährigen Herrschaft Christi über die transformierte Erde die Rede ist, nach deren Ablauf die Auserwählten zu ihrem endgültigen Ruheplatz im Himmel überführt werden (vgl. Offb 20:4).

Diese Vorstellung war in frühchristlichen Schriften besonders populär. In ihnen wird das irdische paradiesähnliche Reich als Belohnung für die irdischen Mühen und Qualen der Heiligen betrachtet (siehe MCGRATH 2003, S. 53). Eine der ausführlichsten frühchristlichen Darstellungen des tausendjährigen Reichs Christi auf Erden findet sich in der Visio Pauli aus dem zweiten Jahrhundert. Sie ist durch Bilder von Speisen und Getränken – wie Früchten, Wein und Datteln – im Überfluss gekennzeichnet: „This immensely rich vision of a fecund and verdant paradise resonated with Christians, who often experienced deprivation of adequate food and drink, partly on account of adverse social conditions resulting from their faith, and partly because of the climate of the region.“ (MCGRATH 2003, S. 54).96

95 In beiden Passagen wird auf die Gemeinschaft der Glückseligen mit Gott verwiesen. Zum einen kann es sich um das christliche Jenseitsreich handeln, das den Gerechten schon nach dem Tod offensteht, zum anderen um die trans-formierte Welt nach dem Jüngsten Gericht (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 86-99). Beide Stufen der Erfüllung des christlichen Heilsversprechens können mit der Bezeichnung ‚(himmlisches) Paradies‘ oder ‚(himmlisches) Jerusalem‘

angedeutet werden. Das himmlische Paradies nach der Transformation der Welt ist jedoch nicht mit dem ursprünglichen irdischen Paradies identisch, da durch die Transformation das ganze Sein der Welt auf eine höhere Daseinsform gehoben wird und das irdische Paradies im Prinzip aufhört zu existieren. Lk 23:43 wird wiedergegeben im Lekenspiegel: Du soud noch heden in mijn / Paradijs met mi sijn, Lsp., II, 85, V. 1969f.

96 Millenaristische Vorstellungen des Paradieses könnte man als mittelalterliche Utopien betrachten. Siehe zum Beispiel GARDINER (1993, S. xxxi): „Visions of heaven and hell combine the dystopian and utopian projections of the medieval mind. [...] Vision literature often projects the idea of the perfectibility of the human condition. In this sense, therefore, vision literature is utopian.“ Siehe FAEMS 2009 für theoretische Überlegungen zur Anwendbarkeit des Konzepts der Utopie auf die mittelalterliche Literatur und die Beiträge in HARTMANN &RÖCKE 2013.

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Im Dokument Im Diesseits das Jenseits bereiten (Seite 146-152)