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Betrachtungen im mittelniederländischen Korpus

3.4 B B oek van S idrac

Das mittelniederländische Boek van Sidrac (im Folgenden kurz Sidrac) nimmt innerhalb des untersuchten Korpus eine besondere Stellung ein, da es zum einen als selbstständiger Text betrachtet wird, zum anderen als eine der Hauptquellen des Lekenspiegel gilt. Es diente als wichtige Quelle für den universaleschatologischen Ausblick im vierten Buch des Lekenspiegel und für die Behandlung vieler individualeschatologischer Themen und ist eine der wenigen namentlich genannten Quellen.24

Der mittelniederländische Sidrac ist eine recht wörtliche Übersetzung des anonymen Livre de Sydrac (auch Sydrac le philosophe, la livre de la fontaine de toutes sciences, im Folgenden kurz Sydrac), einem im französischen Sprachgebiet sehr weit verbreiteten volkssprachlichen Prosatext (siehe REYNAERT 2002, S. 129).25 Es ist nicht bekannt, wer die mittelniederländische Über-setzung angefertigt hat. Die Vermutung, dass der Sidrac das einzige Prosawerk Jans van Boen-dale sei (siehe MAK 1957b), konnte bisher weder bewiesen noch entkräftet werden.26

Der größte Teil des Sidrac besteht aus einem Frage-Antwort-Dialog zwischen dem heidnischen König Bottus (frz. Boctus) und dem weisen Mann Sidrac (frz. Sydrac). Der didaktische Dialog ist in eine narrative Rahmenhandlung eingebettet, laut der Sidrac 847 Jahre nach dem Tod Noahs geboren wurde und über die Gabe des Wissens aller vergangener und zukünftiger Ereignisse, des christlichen Gottesdienstes und der göttlichen Schöpfung verfügt.

Durch die Rahmenhandlung werden die Antworten Sidracs zusätzlich autorisiert (siehe LIE

[ETAL.] 2006, S. 13). Wie bei anderen ex eventu-Prophezeiungen sind die Ereignisse bis zum unmittelbaren Entstehungszeitraum der Prophezeiung relativ einfach zu erkennen. In einer ex eventu-Prophezeiung (Vaticinium ex eventu) werden – aus der Perspektive des Urhebers der Prophezeiung – in der Vergangenheit liegende Ereignisse in verschlüsselter Form in die Prophezeiung aufgenommen, die dann zurückdatiert wird, so dass es erscheint, als ob diese

Methodius ansonsten häufig herangezogen und wesentlich zu ihrer Autorität im lateinischen Westen beigetragen hat (siehe MÖHRING 2000, S. 333f).

24 Im Folgenden wird mit der Bezeichnung Sidrac auf die mittelniederländische Übersetzung verwiesen und mit Sydrac auf die französische Vorlage. Der Sidrac wird zitiert nach der Edition VAN TOL 1936 unter Angabe der Seitenzahl in dieser Edition (aber ohne Übernahme der Zeilenzählung). Eine Selektion Fragen aus dem Sidrac mit Erklärungen und Übersetzungen ins moderne Niederländisch bietet LIE [ET AL.] 2006. Im Gegensatz zu Fragen zum Schicksal der Seele nach dem Tod (ebd., S. 31f) wurde keine der universaleschatologischen Fragen aufgenommen.

25 Bezüglich der Edition des Livre de Sydrac (RUHE 2000) kritisiert SCHMIEDER 2005, S. 69, Anm. 15, ihre Beschrän-kung auf die drei längsten Handschriften der zweiten Fassung, wodurch die vielgestaltige handschriftliche Überlie-ferung nur beschränkt wiedergegeben ist und weiterhin die Einsicht der Originale für tiefergehende vergleichende Analysen notwendig ist. Siehe WINS 1993 für eine Übersicht über die Forschung zum französischen Sydrac.

26 Obwohl Jans van Boendale Autorschaft nicht endgültig bewiesen ist (siehe VAN ANROOIJ 1994a, S. 133, REY -NAERT 2002, S. 128f, und LIE [ET AL.] 2006, S. 16, vgl. WUTTKE 2014), wird ihm der Sidrac in einigen neueren Studien noch immer zugeordnet (z. B. SCHLUSEMANN 2011, S. 173-175).

3 Die Hauptquellen der endzeitlichen Betrachtungen im mittelniederländischen Korpus

Ereignisse richtig vorausgesagt wurden, was die Legitimität der eigentlichen Prophezeiung steigert (siehe LERNER 2009, S. 185f). Die Technik der Prophezeiung ex eventu ist eng mit der Zuschreibung mittelalterlicher anonymer Prophezeiungen einer anerkannten prophetischen Autorität verbunden (siehe unten, Kapitel 7). Eine Besonderheit des Sidrac ist die Verwen-dung von verschlüsselten Namen für die wichtigsten in der Zukunft auftretenden Völker, Personen und Plätze.27

Der französische Sydrac ist wahrscheinlich im Heiligen Land originär auf Französisch entstanden, der dortigen Umgangssprache, und erreichte relativ kurz nach dem Jahr 1260 den lateinischen Westen (siehe SCHMIEDER 2006b, S. 284, bes. Anm. 19).28 Der große Erfolg des Sydrac führte zu einer komplizierten Überlieferungslage; sowohl von der ersten als auch der wesentlich mehr Fragen enthaltenden zweiten Redaktion sind zahlreiche Handschriften und Fragmente überliefert (ebd., vgl. WEISEL 1993 und RUHE 2000, S. ix).29 Im französischen Sprachgebiet scheint die Rezeption in den höchsten adligen Kreisen stattgefunden zu haben (siehe VAN TOL 1936, S. xxxiii). Der Sydrac wurde außer ins Mittelniederländische, auch ins Provenzalische, Deutsche, Italienische und Englische übersetzt (ebd., S. xxxviii-xl, vgl.

BECKERS 1978-2004).

Der mittelniederländische Sidrac enthält 421 Fragen und beruht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem älteren β-Zweig der französischen Überlieferung, der um die sechshundert Fragen enthält (siehe VAN TOL 1936, S. xl). Er ist circa 1318-1329 entstanden, auf jeden Fall zumindest teilweise vor dem Lekenspiegel.30 Die Überlieferung des Sidrac fällt in zwei Gruppen auseinander, wobei die südniederländische Handschrift Oxford, Bodleian Library, Marshall 28 (Ende 15. Jh.), die als Grundlage der einzigen Edition (VAN TOL 1936) diente, zu der näher am französischen Original stehenden Gruppe gehört (ebd., S. xii). Die umfangreiche handschriftliche und gedruckte Überlieferung lässt auf eine hohe Popularität des Sidrac bis in die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts schließen.31 Der mittel-niederländische Sidrac wurde im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert auch in einige deutsche Dialekte übertragen (siehe VAN ANROOIJ 2006, S. 10).

27 Die verschlüsselten Anspielungen auf Orte und Namen im französischen Sydrac – so steht la cite du Fils de Dieu für

‚Jerusalem‘ – haben durch den Reiz der Verfremdung zum Unterhaltungswert des Textes beigetragen, dennoch wurden sie in vielen Handschriften durch Interlinearglossen aufgelöst (siehe TÜRK 2000, S. 196, vgl. RUHE 2000, S. xiii, und SCHMIEDER 2006b, S. 284f). Im Sidrac sind die Interlinearglossen teilweise in die Übersetzung gelangt (siehe u.a. VAN TOL 1936, S. 217, Anm. 6).

28 SCHMIEDER (2006b, S. 286) argumentiert für ein Entstehungsdatum kurz nach 1268, da das letzte mit Sicherheit identifizierbare historische Ereignis in der Endzeitprophezeiung die Eroberung Antiochias in diesem Jahr ist.

29 Die Edition RUHE 2000 basiert auf der jüngeren und umfangreicheren zweiten Redaktion des Sydrac und enthält 1227 Fragen.

30 Siehe VAN TOL 1936, S. xlif, und REYNAERT 2002, S. 128f, zur Datierung des Sidrac. Siehe VAN TOL 1936, S. lxviii-lxix (vgl. MAK 1957b), für eine Gegenüberstellung der Kapitel des Lekenspiegel mit den ihnen entsprechenden Kapiteln des Sidrac.

31 Neben der in der Edition des Sidrac (VAN TOL 1936) als O bezeichneten Oxforder Handschrift ist der Sidrac auch in der berühmten Comburger Handschrift (Hs. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et phil.

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Beim Sidrac handelt es sich wie auch beim Lekenspiegel um eine popularisierende volkssprachliche Darstellung enzyklopädischen Wissens aus dem Bereich der Latinitas, die an die spezifische Lebenswelt und den Wissenshorizont von Laien angepasst ist (siehe VAN

TOL 1936, S. xxvif, und LIE [ETAL.] 2006, S. 15, vgl. TÜRK 2000, S. 199).32 Bezüglich der Repräsentativität des im Sidrac vermittelten Wissensstandes ist jedoch die Einschränkung angebracht, dass der Sidrac den Wissensstand des dreizehnten Jahrhunderts, dem Ent-stehungszeitraum der französischen Vorlage, wiedergibt (siehe LIE [ETAL.] 2006, S. 12f). Auf-fälligerweise impliziert Jan van Boendale im Lekenspiegel, dass es sich beim ursprünglich fran-zösischen Sydrac um eine lateinische Quelle handelt (seeght dlatijn, Lsp., IV, 140, V. 97). Mög-licherweise versucht Jan van Boendale auf diese Art und Weise bewusst Zweifel an der Autorität seiner Quelle zu vermeiden, da lateinische Quellen in gelehrten Kreisen höheres Ansehen genossen, oder diese Anspielung nimmt die fiktive Entstehungsgeschichte des fran-zösischen Sydrac wieder auf (siehe WUTTKE 2014, S. 106). Daher ist es umso interessanter zu wissen, dass der Sydrac fest in der lateinischen Tradition verwurzelt ist, da er wiederum zu einem Großteil auf dem Lucidaire beruht, einer französischen Übersetzung des sehr beliebten populärtheologischen Elucidarium (12. Jh.) des Honorius Augustodunensis.33

20 22 (entst. ca. 1380-1425, Ost-Flandern, vermutlich Gent)) überliefert, dort fehlen jedoch Teile des eschatologi-schen Epilogs. Weitere Textzeugen sind Brüssel, Koninklijke Bibliothek, 1714; olim Hamburg, Staats- und Univer-sitätsbibliothek, Cod. germ. 24 fol.; Kaliningrad, UniverUniver-sitätsbibliothek, 903; London, British Museum, Add. 10.286, außerdem existieren einige Fragmente (siehe DESCHAMPS 1972, S. 73-77, vgl. VAN TOL 1936, S. xlvi-lxiv,

BECKERS 1972, BECKERS 1978-2004,LIE [ET AL.] 2006, S. 9-18, und die Informationen unter dem Stichwort ‚Boec van Sidrac‘ in der Datenbank der Bibliotheca Neerlandica Manuscripta (Datenbank abrufbar unter:

http://www.bibliotheek.leidenuniv.nl/bijzondere-collecties/handschriftenarchievenbrieven/bnm.html, Stand:

21.08.2016). Der Sidrac war bis in die Druckperiode populär; von der gedruckten Edition sind elf Auflagen bekannt (siehe VAN ANROOIJ 2006, S. 9).

32 Der Sidrac ist aufgrund des ständigen Themenwechsels schwer als Nachschlagewerk benutzbar. Auch wenn in den meisten Handschriften der Inhalt durch ein Register erschlossen wird, ist der Leser gezwungen, sich alle Fragen im Register durchzulesen, um sich die für ihn interessanten Fragen herauszufiltern (siehe RUHE 2000, S. xv). Jan van Boendale hat für den Lekenspiegel das im Sidrac enthaltene Wissen in eine besser aufnehmbare geordnete Form ge-bracht (siehe BRINKMAN 1998, S. 56). Seine Auswahl ist selektiv: sexuelle Themen werden umgangen, das theolo-gische Wissen ist auf das für die Praxis notwendige Grundwissen beschränkt – die Sünde des Neides wird zum Beispiel nur ausführlich behandelt, weil sie Gelegenheit für Gesellschaftskritik bietet –, gleichzeitig ist aber dem Ablauf der Heilsgeschichte hohe Aufmerksamkeit gewidmet, und die zusätzlich herangezogenen unorthodoxen Quellen führen dazu, dass einige im Lekenspiegel behandelte Details kaum in anderen volkssprachlichen Schriften anzutreffen sind (ebd., S. 57).

33 Siehe TÜRK 2000 zum Lucidaire im Allgemeinen und einer Edition der altfranzösischen Übersetzung I. Siehe ebd.

(S. 114-132) zur Eschatologie des Lucidaire im Vergleich zum Elucidarium. Das Elucidarium ist herausgegeben in LEFÈVRE 1954. Verschiedene mittelniederländische Übersetzungen des Elucidarium sind herausgegeben und be-sprochen in KLUNDER 2005; die Verweise in der vorliegenden Arbeit auf den Vers-Lucidarius beziehen sich auf diese Ausgabe. Siehe RUHE 1993 zur Verbreitung des Elucidarium im romanischen und englischen Sprachgebiet. Siehe TÜRK 2000 (S. 191-199) zur Bearbeitungsstrategie im Sydrac und ebd. (S. 203f) für eine Gegenüberstellung der korres-pondierenden Fragen- und Kapitelnummern in Sydrac und Lucidaire.

3 Die Hauptquellen der endzeitlichen Betrachtungen im mittelniederländischen Korpus

Das Elucidarium – ein Lehrdialog über den kirchlichen Glauben – war ursprünglich für die Vermittlung dogmatischen Grundwissens an Theologiestudenten konzipiert und beruht auf einer breiten Quellengrundlage von patristischen bis scholastischen Texten; aufgrund des einführenden Charakters werden die einzelnen Konzepte aber nicht diskutiert, sondern alle Aussagen als allgemeingültige Wahrheiten präsentiert (siehe KLUNDER 2005, S. 16-21).

Dadurch unterscheidet sich die Aufarbeitung des theologischen Materials grundlegend von scholastischen Schriften, in denen meist verschiedene Aspekte diskutiert werden (siehe TÜRK 2000, S. 77).

Das dritte Buch des Elucidarium ist dem zukünftigen Leben gewidmet (für eine Zusam-menfassung siehe OTT 1990, S. 71). Obwohl das Elucidarium von einem Scholastiker geschrieben wurde, enthält es viele volkstümliche Vorstellungen, die es Gelehrten wie Albertus Magnus suspekt machten und zur Beschäftigung der Inquisition mit seinen Lehr-meinungen führte (siehe TÜRK 2000, S. 3, vgl. OTT 1990, S. 71). Honorius Augustodunensis hat einige apokryphe Motive aufgenommen, die in der exegetischen Literatur nicht belegt sind, die aber in der volkssprachlichen Literatur weiterwirkten(siehe GRIMM 1977, S. 148-150). Das bedeutet, dass diese Motive zunächst aus apokryphen Quellen in eine gelehrte Schrift Eingang fanden und von dort wiederum aufgrund der gelehrten Autorität in volks-sprachliche Schriften gelangten und deshalb keine direkten Rückschlüsse auf die Vor-stellungswelt der volkssprachlichen Autoren zulassen. Wegen der hohen Popularität des Elucidarium und seiner volkssprachlichen Bearbeitungen, wie dem Sydrac, ist es schwer, den Ursprung der einzelnen Motive nachzuweisen.34

34 Auch liegen weder eine grundlegende Quellenanalyse des Elucidarium noch des Sydrac vor. Da dem Elucidarium auf-grund seiner weiten Verbreitung und Rezeption eine wichtige Rolle für die mittelalterliche religiöse Mentalitätsge-schichte zukommt (siehe TÜRK 2000, S. 3), wurde es stichprobenweise zum Vergleich herangezogen.

Kapitel 4

Theologisches Wissen für Laien des späteren

Im Dokument Im Diesseits das Jenseits bereiten (Seite 90-95)