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Zwischenbilanz

5.4 Die Hölle

Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann.

(Mt 10:28)

Die Vorstellung der Hölle (lat. Bezeichnungen: infernus, inferi, gehenna) als Strafplatz der Unseligen tritt zum ersten Mal im NT auf (vgl. Mt 5:12, 5:22, 8:12, 10:28, 25:41, 25:46, Offb 20:13-14).234 Sie kann als logische Weiterführung des Gedankens eines bevorstehenden Gottesgerichts betrachtet werden, bei dem alle Feinde Gottes verworfen werden, und des Gedankens, dass es jedem frei steht, den Weg Gottes und damit die zukünftige Gemeinschaft der Glückseligen zu wählen (siehe ANGENENDT 2009, S. 736). Prägend für die christliche Höllenvorstellung waren Beschreibungen der Hölle in Apokryphen wie der Apokalypse des Petrus (ebd., S. 737).235 Die in der Frühzeit des Christentums vom Kirchenvater Origenes entwickelte Vorstellung einer spiritualisierten Hölle mit einem rein geistigen Höllenfeuer von begrenzter Dauer wurde von Augustinus und Gregor dem Großen verworfen und die metaphorische Deutung von der Vorstellung eines realen Strafortes verdrängt (ebd., S. 738-741).236 Die mittelalterlichen Theologen gingen davon aus, dass die Hölle von Gott für die abgefallenen Engel unter der Führung Luzifers geschaffen worden war und sich in der Mitte der Erde befindet, wenn es auch einige Texte gibt, in denen die Hölle entweder in weitab gelegenen irdischen Höllenregionen verortet wird (siehe DINZELBACHER 1999a, S. 129f) oder zwischen einer spiritualisierten und einer körperlichen Hölle unterschieden wird (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 155f).

Die mittelalterlichen Jenseitsvisionen prägten die Vorstellung der christlichen Unterwelt in ähnlicher Weise wie die des Himmels (siehe ANGENENDT 2009, S. 743, DINZELBACH

-ER 1999a, S. 139, vgl. oben, S. 140).237 In den frühesten nach Gregor dem Großen

234 Die Literatur zu christlichen Höllenvorstellungen ist umfangreich, grundlegend sind u. a. MINOIS 1991 und VORGRIMLER 1993. Eine gute Einführung bietet ANGENENDT 2009, S. 735-743.

235 Laut DINZELBACHER (1999a, S. 128) entstand ab der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus „die moralisierte Unterwelt“, in der durchaus irdische „Rachephantasien“ ausgelebt wurden, wie zum Beispiel die Jenseitsbeschrei-bung in Vergils Aeneis. Diese BeschreiJenseitsbeschrei-bungen wären zwar im Mittelalter bekannt gewesen, sie waren aber im Ver-gleich zu den Apokryphen und der biblischen Tradition für die Entwicklung der christlichen Jenseitsvorstellungen nur von untergeordneter Bedeutung.

236 Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Ansicht des Origenes, dass die Höllenstrafen von begrenzter Dauer seien. Es setzte sich die strenge Ansicht der ewigen Strafe durch, obwohl an dieser drastischen Sichtweise immer wieder Kritik geübt wurde (siehe OHLER 1990, S. 170, OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 162).

237 Hinzu kamen vereinzelt Einflüsse aus antiken Jenseitsbeschreibungen, wie der Reise durch die Unterwelt des Orpheus (siehe DINZELBACHER 1999a, S. 144). Siehe MORGAN 1990, S. 196, für eine Übersicht antiker Jenseitsbe-schreibungen.

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denen Jenseitsvisionen, die meist irischer Herkunft sind, wird nur von Straforten am Rande der Hölle berichtet, da sich lange Zeit die Vorstellung hielt, dass Sterblichen der Zugang zum eigentlichen Hölleninnenraum – wie auch zum Himmel – verwehrt ist (siehe ANGE

-NENDT 2009, S. 738).238 Im Laufe der Zeit wurden in den Visionen, wie zum Beispiel in der Visio Tnugdali, immer elaborierter die Strafen der Seelen in der Hölle beschrieben. Dies führte zu einer starken Differenz zwischen den wenigen in der Doktrin festgelegten Aussagen zur Hölle und der blühenden Phantasie mancher volkstümlicher Höllenbeschreibungen, die gera-dezu in Horrorszenarien schwelgten (siehe ANGENENDT 2009, S. 742f).

Durch die Kritik führender kirchlicher Denker, wie Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin, die den Aspekt der innerlichen Gewissensqualen stärker betonen, geraten sehr realistische Höllenvorstellungen in Verruf (siehe ANGENENDT 2009, S. 740f). Bernhard und Thomas konzentrieren ihre Aussagen nicht auf die Höllenqualen – diese spielen bei ihnen nur eine untergeordnete Rolle –, sondern auf die christliche Hoffnung der Erlösung aus der Hölle durch die unendliche Barmherzigkeit Gottes (ebd.). Gleichzeitig wenden sich die ab dem zwölften Jahrhundert neu entstehenden Jenseitsvisionen vermehrt den Freuden des Himmels zu (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 151, Anm. 1). Dennoch wird in der Tradierung der bestehenden Jenseitsvisionen den Höllenstrafen unverminderte Aufmerksamkeit entgegen-gebracht, die Beschreibungen der Strafen gewinnen sogar an Detailreichtum und Motiven (siehe MORGAN 1990, S. 18). Auch die bildlichen Darstellungen der Hölle und des Jüngsten Gerichts nehmen im Verlauf des elften und zwölften Jahrhunderts an Schrecken zu (siehe OHLER 1990, S. 171-174).

5.4.1 Die Hölle als Jenseitsort

Die Bezeichnungen für die Hölle im mittelniederländischen Korpus beziehen sich entweder auf die Hölle als körperlichen Ort oder als Strafort der Verdammten.239 Es lassen sich fünf Gruppen von Bezeichnungen unterscheiden, die sich mit Ausnahme der ersten Gruppe alle auf einen Aspekt der Höllenstrafen beziehen: 1) örtliche Bezeichnung als (Abgrund der) Hölle, 2) Ort des strafenden Höllenfeuers, 3) Bezeichnung als duvelvolen, das heißt die Hölle als

238 Vgl. DINZELBACHER (1999a, S. 128): „Die Beschreibungen der Unterweltstrafen, die die Visionäre schauen, wurden aus theologischen Gründen – kein Lebender sei je von dort zurückgekehrt, lehrt ja die Bibel (Sap 2,1 [=Weish 2:1, U.W.]) – allerdings öfters als die Qualen des Fegefeuers interpretiert denn als die der Hölle.“ Irischer Herkunft sind zum Beispiel die Navigatio Brendani (10. Jh.), die Visio Tnugdali (ca. 1149) und der Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii (ca. 1179-1181). Siehe auch die Webseite des Forschungsprojekts zu irischen Jenseitsvorstellungen ‚De Finibus‘ (http://www.ucc.ie/en/definibus/, Stand 13.03.2016).

239 Der Ursprung der Bezeichnung ‚Hölle‘ (mittelniederländisch helle) für die christliche Unterwelt ist ungeklärt.

Eventuell besteht eine Verwandtschaft mit ‚verbergen‘ und ‚begraben‘. Siehe das Stichwort hel in PHILIPPA [ET AL.] 2003-2009 unter:http://www.etymologiebank.nl/trefwoord/hel1 (Stand 17.04.2012) und das Lemma helle im MNW.

5 Individualeschatologie

Aufenthaltsort der die Seelen quälenden Teufel (die ursprüngliche Bedeutung des mittelniederländischen Wortes duvelvolen ist laut MNW ‚dem Teufel anbefohlen‘; es wurde anscheinend missverstanden und als Synonym für die Hölle gebraucht, 4) Ort der Dunkelheit oder Verdammung, 5) Ort des Schmerzes.240

Im Sidrac und im Lekenspiegel wird die Hölle meist als (afgrond van der) hellen bezeichnet. Als Variation auf ‚Abgrund‘ kommt in Wraken, Teesteye und bei Jan van Leeuwen die Bezeichnung

‚Höllengrube‘ vor (putte, Wraken, III, 3, V. 255, helschen putte, Teest., 3, V. 297, helschen putte, Tien gheboden, f. 9rb).241 Nur im Lekenspiegel findet sich die Bezeichnung die bittre helsche wal (Lsp., IV, 149, V. 48).242 Bemerkenswert ist im Lekenspiegel außerdem die Personifizierung der Hölle als

‚Frau oder Dame Hölle‘ (ver helle, Lsp., II, 85, V. 1643, V. 1648).243 In Wraken und bei Lode-wijk van Velthem haben die meisten Bezeichnungen der Hölle etwas mit dem Höllenfeuer zu tun. In Teesteye halten sich ‚Hölle‘ und ‚Höllenfeuer‘ die Waage. Jan van Leeuwen benutzt Bezeichnungen aus allen Gruppen ohne nennenswerte Unterschiede, verwendet aber selten den neutralen Begriff ‚Hölle‘. Auch hegt er eine besondere Vorliebe für die im untersuchten Korpus nur bei ihm auftretende Bezeichnung upten boert vander hellen (‚auf dem Rand der Hölle‘, z. B. Tien gheboden, f. 23ra), um anzudeuten, dass einige Menschen schon mit einem Fuß in der Hölle stehen. Nur bei Jan van Leeuwen finden wir die Bezeichnung ‚Höllenkessel‘

(ten helschen cauderone wart, Tien gheboden, f. 8rb, ten helschen ketel waert, Tien gheboden, f. 12rb). Das Motiv des Höllenkessels (vgl. Ijob 41:23) und andere vom mittelalterlichen Küchenbetrieb abgeleitete Strafmethoden wie Backen und Braten am Spieß waren ab dem zwölften Jahrhundert in Jenseitsvisionen und bildlichen Darstellungen der Hölle sehr beliebt (siehe MORGAN 1990, S. 13-21, vgl. DINZELBACHER 1999a, S. 139).244 So spielen Beschreibungen des Höllenkessels in der Visio Tnugdali und im Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii eine prominente Rolle und auch Dante benutzte dieses Motiv in der Commedia (Inferno XXI-XXIII). Ob Jan van Leeuwen eine Vorliebe für derartige Bezeichnungen wegen seiner Tätigkeit als Koch des Klosters Groenendaals hatte, lässt sich nur vermuten. Er verwendet aber auch an anderen Stellen Bildsprache aus der Küche und sie wurde sogar als

240 Einige Beispiele: 1) hellen, Sidrac, Frage, 3, S. 40, hellen, Lsp., I, 13, V. 2, hellen, Wraken, II, 12, V. 1083, hellen, Teest., Prolog, V. 59, Inder hellen, SH, V, VIII, 23, V. 1206, hellen, Tien gheboden, f. 15vb, hellen gront, Lsp., III, 134, V. 104, hellen gront, Tien gheboden, f. 16ra, dat afgrondeghe grondeloes abbis, Ghetuge, f. 160rb, 2) deweghe helsche gloet, Lsp., III, 131, V. 87, dewelike vier, Lsp., I, 19, V. 36, Inder hellen ewighen brant, Wraken, I, 3, V. 237, dat ewighe vier, Teest., 40, V. 3739, der hellen lichte, Teest., 43, V. 3983, Int ewelike vier, SH V, VIII, 23, V. 1173, hellschen viere, Tien gheboden, f. 17va, 3) duueluolen, Lsp., I, 26, V. 122, duvelvolen, Bedinghen, f. 52rb, 4) Inder demster hillen, Lsp., II, 85, V. 1356, ter verdoemenesse, SH V, VII, 19, V. 1587, ter helscher deemsterheit, Inval, f. 71rb, heelsche dooet, Tien gheboden, f. 3va, 5) in de pine, Sidrac, Frage 37, S. 56f, in dat helsche torment, Tien gheboden, f. 47vb.

241 Laut dem MNW-Lemma put stammt diese Bezeichnung von lat. puteus ab und bedeutet ‚abgegrenzte Grube‘,

‚Kerker‘ oder ‚Höhle‘.

242 Laut dem MNW-Lemma wal bedeutet diese Bezeichnung entweder ‚Gracht‘, ‚Morast‘ oder ‚Abgrund‘.

243 Diese Bezeichnung tritt im Dialog zwischen dem Teufel und der Hölle im Evangelium des Nikodemus auf.

244 Das Kochen im Kessel war eine weltliche Strafmethode für Fälscher, Betrüger und Ketzer (siehe OHLER 1990, S. 222).

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Echtheitskriterium für seine Traktate betrachtet (siehe AXTERS 1943, S. liv). Anklänge an den im Mittelalter vereinzelt auftretenden Gegenentwurf der Hölle als Stadt – spezifisch als Höllenstadt Babylon mit Luzifer als Herrscher – als Kontrast zum himmlischen Jerusalem finden sich nur in der Höllenbeschreibung im Evangelium des Nikodemus im Lekenspiegel.245 Dort handelt es sich aber vielmehr um eine Burg, über die nicht Luzifer herrscht, sondern die personifizierte Hölle.246 In den anderen Texten des Korpus ist die Hölle ein relativ undefinierter unterirdischer Ort, an dem die Seelen gequält werden.

Der Ort der Hölle

Alle Autoren des Korpus stellen sich die Hölle als einen realen unterirdischen Ort vor. Das beweist die Analyse der im Korpus für die Hölle verwendeten Bezeichnungen, die eine Spannbreite von relativ neutralen Bezeichnungen wie afgront vander hellen (Sidrac, Frage 286, S. 172-174), bis zu sehr anschaulichen Bezeichnungen wie dat afgrondeghe grondeloes abbis (Ghetuge, f. 160rb) haben. Die unterirdische Situierung der Hölle entspricht der schon von Au-gustinus und Gregor dem Großen vertretenen und im Mittelalter als kirchliche Lehrmeinung akzeptierten Lokalisierung der Hölle in einem Abgrund oder im Erdinnern, die auf ver-schiedenen Passagen im NT beruht (vgl. u. a. Offb 20:1) und auch im Volksglauben rezipiert wurde (siehe DINZELBACHER 1999a, S. 129, OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 155). In einigen Texten, wie Wraken, Teesteye und der Fünften Partie, bleibt es bei der unterirdischen Situ-ierung der Hölle und konzentrieren sich die weiteren Ausführungen auf die Höllenstrafen.

Eine Besonderheit stellt die Höllenbeschreibung im zweiten Buch des Lekenspiegel dar, in dem die im Mittelalter äußerst populäre Geschichte von der Höllenfahrt Christi ausführlich erzählt und die Hölle wie eine mittelalterliche Burg mit starken Toren beschrieben wird (vgl.

Lekenspiegel, II, 85, V. 1349-2046). Die Hölle lässt bei der Ankunft Christi von ihren Helfern das Tor mit einem Balken und einem Fallgitter verriegeln, damit ihre Gefangenen nicht entkommen können (vgl. Lsp., II, 85, V. 1609-1615). Bei der Höllenfahrt Christi (Descensus Christi ad Infernos) handelt es sich um eine apokryphe Legende, deren große Popularität im Mittelalter sich auch in den Texten des Korpus widerspiegelt.247 Die Höllenfahrt Christi ist eine Weiterentwicklung der Vorstellung Christi als Sieger, in der die Folgen des Sieges Christi am Kreuz physisch bis in die Unterwelt verlängert werden (siehe MCGRATH 2003, S. 88). Sie

245 Die Vorstellung der Höllenstadt findet sich u.a. bei Berthold von Regensburg (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 153).

246 Vgl. OHLER (1990, S. 173) zur bildenden Kunst: „Die Behausung Luzifers, des Höllenfürsten, wurde wie eine Burg dargestellt – Gegenstück zum himmlischen Jerusalem (Offb 21, 10-14). Gelegentlich ist das von Teufeln be-wachte oder durch Schlösser und Riegel verbarrikadierte Gebäude in Räume gegliedert, in denen einzelne Strafen vollzogen und zur Schau gestellt werden.“

247 Weitere Anspielungen auf Christi Höllenfahrt im Korpus: Sidrac, Frage 13, S. 45f, Sidrac, Frage 179, S. 125f, Sidrac, Frage 375, S. 205f, Sidrac, Frage 379, S. 206f, Sidrac, Frage 380, S. 207, Lsp., I, 13, V. 14-20, Wraken I, 20, V. 1804-1815, Teest., 4, V. 438-441, Teest., 21, V. 1888-1899, Ondersceyt, f. 187va.

5 Individualeschatologie

hat nur eine schmale biblische Basis (vgl. 1 Petr 18-22), ausschlaggebend war der Einfluss des apokryphen Evangelium des Nikodemus (siehe oben, S. 66). Im Evangelium des Nikodemus tritt Hades (= die Hölle) als sprechende Person auf, die mit ihren Dienern und Christus konver-siert. Christus gelingt es allein durch die Kraft seiner Stimme, die starken Verteidigungsan-lagen zu zerstören und die Verdammten zu befreien. Diese dramatische Darstellung erlangte trotz ihrer zweifelhaften theologischen und literarischen Qualität schnell hohe Beliebtheit, sie wurde in viele populäre Darstellungen aufgenommen und zu einem festen Bestandteil der Ostergeschichte (siehe MCGRATH 2003, S. 88f). Sie fand auch Eingang in literarische Werke wie das mittelenglische Gedicht Piers Plowman (14. Jh.), in dem der Erzähler von Christi Höllenfahrt träumt (ebd., S. 91f).248 Auch Jan van Boendale fand diese Geschichte attraktiv für seine Leser, wie seine Nacherzählung im Lekenspiegel (II, 85) zeigt, er scheint sich jedoch vor allem für die christologischen Aspekte der Geschichte interessiert zu haben, nicht nur für die Höllenbeschreibung. Das zeigt der Vergleich mit einer anderen mittelniederländischen Verarbeitung dieser Legende in Vanden Levene ons Heren (vgl. V. 3929-4503, siehe oben, S. 82).

In Vanden Levene ons Heren werden die untere Hölle und die verschiedenen Höllenstrafen viel ausführlicher und eindringlicher als im Lekenspiegel beschrieben und die Hölle tritt im Gegensatz zum Evangelium des Nikodemus nicht mehr als sprechende Person auf, auch der Zwischenaufenthalt Christi im Paradies ist weggefallen. Der Schwerpunkt in Vanden Levene ons Heren liegt auf der Warnung vor der Hölle.

Auf die Größe und das Aussehen des Höllenraumes wird nur in den beiden enzyklo-pädischen Texten, Sidrac und Lekenspiegel, sowie in den Traktaten Jans van Leeuwen einge-gangen. In diesen Texten wird zwischen einem oberen Bereich der Hölle, der meist als Vor-hölle bezeichnet wird (u. a. voirboech, Sidrac, Frage 135, S. 104f, voerhelle, Lsp., I, 37, V. 107, voorbouch der hellen, Tien gheboden, f. 50va), und der unteren – eigentlichen – Hölle unterschieden (vgl. u. a. Sidrac, Frage 37, S. 56f, Sidrac, Frage 135, S. 104f, Sidrac, Frage 250, S. 160f, Sidrac, Frage 286, S. 172-174, Lsp., I, 13, V. 14-20, Lsp., I, 37, V. 105-108, Tien gheboden, f. 50va).249 Die Vorhölle wird in diesen Texten mit dem Limbus patrum, dem seit der Höllenfahrt Christi leer stehenden zeitlichen Aufenthaltsort der vorchristlichen Gerechten, identifiziert.250 So wird sie im Sidrac und im Lekenspiegel als ein über der eigentlichen Hölle befindlicher unab-hängiger Bereich beschrieben, in den bis zu Christi Höllenfahrt die mit der Erbsünde bela-denen Seelen der vorchristlichen Gerechten eingegangen sind, während die Bösen sofort in die untere Hölle verbannt wurden (vgl. Sidrac, Frage 135, S. 104f, Lsp., I, 13, V. 12-24, Lsp., I,

248 MCGRATH (2003, S. 92) bemerkt hierzu, dass die dramatische Darstellung des Sieges Christi über Tod und Hölle

„made a potent appeal to the readers of Piers Plowman“.

249 Zu dieser im mittelniederländischen geläufigen Bezeichnung der Vorhölle, siehe MNW voreborch. Dieser Begriff bezeichnet eigentlich das Vorwerk, die äußere Verteidigungsanlage einer Stadt oder einer Festung.

250 Die Bezeichnung Limbus o. ä. wird im untersuchten Korpus nicht verwendet. Berthold von Regensburg verwen-det sie zwar, identifiziert aber auch den Limbus patrum mit der Vorhölle und schenkt ihm keine besondere Aufmerk-samkeit (siehe OECHSLIN WEIBEL 2005, S. 213f).

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