• Keine Ergebnisse gefunden

Allgemeine Entwicklungen in der lateinischen Kommentartradition zur Offenbarung des Johannes

Im Dokument Im Diesseits das Jenseits bereiten (Seite 70-81)

Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

2.3 Allgemeine Entwicklungen und Wendepunkte des eschatologischen Denkens im Mittelalter

2.3.2 Allgemeine Entwicklungen in der lateinischen Kommentartradition zur Offenbarung des Johannes

Apocalypsis Joannis tot habet sacramenta quot verba43

Auch heute wird es kaum jemanden geben, der dem Urteil des Kirchenvaters Hieronymus über die Komplexität der Johannesoffenbarung im Eingangszitat dieses Kapitels nicht zustimmt. Obwohl der Erzählstil der Johannesoffenbarung relativ leicht erscheint, ist sie wegen ihrer dichten Bildsprache nur für Eingeweihte verständlich. Aus diesem Grund zählen viele mittelalterliche Theologen die Johannesoffenbarung zur materia obscura, „zu den dunklen und geheimnisvollen biblischen Schriften“ (REDZICH2010, S. 1). Da die lateinische Kommentartradition zur Offenbarung des Johannes die Grundlage für alle volkssprachlichen Auseinandersetzungen mit derselben im Besonderen und das eschatologische Denken im Allgemeinen bildet, folgt eine kurze Übersicht über die wichtigsten Auslegungstraditionen.44

Bezüglich der lateinischen Kommentartradition zur Johannesoffenbarung kann man grundsätzlich zwischen einer allegorisierenden und einer (welt-)historischen Auslegungs-tradition sowie verschiedenen Grundformen des Umgangs mit dem Text unterscheiden: der symbolischen Lesart (auch allegorisch-spirituellen oder moralisierenden Lesart), der zyklisch-rekapitulierenden (geschichtsprophetischen) Lesart und der linear-chronologischen (historisch-chronologischen) Lesart.45 Diese Kategorisierung erleichtert die Besprechung der verschiedenen lateinischen Kommentartraditionen, sie ist jedoch nicht absolut, da Über-lappungen auftreten können (siehe EHRICH 2010, S. 30).

Die symbolische Lesart46

Bei der symbolischen (auch allegorisch-spirituellen, typologisch-allegorischen) Lesart findet die Bedeutungszuschreibung der Johannesoffenbarung außerhalb des Literalsinns und des apokalyptisch-zeichenhaften Sinns statt, das heißt unter Ablehnung jeder direkten

43 ‚Die Johannesoffenbarung hat so viele Geheimnisse wie Wörter‘. So lautet auch der Titel der umfangreichen Studie REDZICH 2010 zur deutschen Übersetzungstradition der Johannesoffenbarung nach einem Zitat des Kirchenvaters Hieronymus.

44 Die Literatur zur lateinischen Auslegungstradition ist sehr umfangreich. Wie in Kapitel 2.1 dieser Arbeit bereits angemerkt, wird in der Forschungsliteratur keine einheitliche Terminologie verwendet. Im Folgenden handelt es sich um eine Synthese der Darstellungen in GOW 1995, EHRICH 2010 und REDZICH 2010. Ihnen ist der Unterschied zwischen allegorischer (nicht-historischer) und historischer Auslegungstradition, der auch in Bezug auf den mittelniederländischen Korpus eine entscheidende Rolle spielt, gemeinsam. Die Apokalyptik ist eine Variante der historischen Lesart.

45 Die jeweils ersten Bezeichnungen sind der Studie REDZICH 2010 entnommen, die eingeklammerten Bezeich-nungen EHRICH 2010. GOW (1995, S. 93-113) unterscheidet zwischen allegorical und historical traditions.

46 Soweit nicht anders angegeben, beruht dieses Unterkapitel auf EHRICH 2010, S. 30-35.

2 Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

nahme auf geschichtliche Ereignisse oder Personen. Die johanneische Vision wird nicht als eine den Ablauf der Endzeit beschreibende Geschichtsprophetie betrachtet, sondern als die Beschreibung des spirituellen Weges der Kirche durch verschiedene Krisen bis zur eschato-logischen Gottesschau (siehe EHRICH 2010, S. 31).

Als Begründer dieser exegetischen Richtung gilt Tyconius. Tyconius entwickelte diese Auslegungsmethode im vierten Jahrhundert als Gegenreaktion auf den Millenarismus, der frühchristlichen Herangehensweise an die Offenbarung (insbesondere an Offb 20:4-5), in der die Wiederkunft Christi zum tausendjährigen Friedensreich auf Erden in naher Zukunft erwartet wurde (siehe auch die Ausführungen unten zur zyklisch-rekapitulierenden Lesart).47 Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Verwerfung der millenaristischen Lesart der Offenbarung und der veränderten Stellung der Kirche im römischen Reich – dem Wandel von einer unterdrückten und verfolgten Sekte zur privilegierten Staatskirche (siehe REDZICH 2010, S. 67).

Vor Tyconius versuchte man millenaristischen Strömungen durch die Berechnung des Al-ters der Welt nach dem Konzept der kosmischen Woche den Wind aus den Segeln zu neh-men (siehe FREDRIKSEN 1991, S. 153).48 Die Vorstellung der kosmischen Woche beruht auf einer Analogie zur Gründung der Welt. So wie Gott die Welt an sechs Tagen erschaffen hat und am siebten Tag ruhte (vgl. Gen 1:3-2:3), würde die Welt sechstausend Jahre bestehen, bevor Christus für das tausendjährige Friedensreich der Heiligen auf Erden wiederkehrt (vgl.

Offb 20:4-5). Ein Tag Gottes gleicht somit tausend Erdjahren (vgl. Ps 90:4). Da in der zu dieser Zeit vorherrschenden christlichen Chronologie das sechstausendste Weltjahr auf das Jahr 500 nach der Geburt Christi fiel, wurde somit das Ende der Welt weit aus der eigenen Zeit verlegt (siehe FREDRIKSEN 1991, S. 153f). Andere exegetische Strategien waren die rein allegorische Auslegung der Offenbarung, das heißt die absolute Zurückweisung der Erwartung des tausendjährigen Reiches der Heiligen auf Erden und die Ablehnung jeglichen kanonischen Status für die Johannesoffenbarung (ebd., S. 154f). Nachdem die apokalyptische Erregung durch diese Strategien abgeebt war, verzeichneten ab Beginn des vierten Jahrhunderts apokalyptisch-millenaristische Strömungen erneut Zulauf, besonders unter den nordafrikanischen Christen. Auslöser waren zum einen die Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum im Jahr 312 – denn damit war Rom, das Tier aus Offb 19:19-20, Teil der Kirche geworden –, zum anderen das bedrohliche Näherkommen des als Welt-ende berechneten Jahres 6000 (siehe FREDRIKSEN 1991, S. 155-157).

Den Wendepunkt brachte die typologische Lesart des Donatisten Tyconius, in der die in der Johannesoffenbarung genannten Zahlen und Zeitspannen als spirituelle Wahrheiten betrachtet werden und nicht als chronologische Berechnungsgrundlage für das Ende der

47 In einigen Studien wird anstelle des Begriffs Millenarismus der Begriff Chiliasmus verwendet. Grundlegend für die Betrachtung des mittelalterlichen Millenarismus als Äußerung revolutionärer Stimmungen sind COHN 1962 und TÖPFER 1964.

48 Siehe LANDES 1988 zur christlichen Chronologie als „Dämpfmittel“ gegen eschatologische Erwartungen.

56

Welt.49 Tyconius entwickelte unter anderem als hermeneutisches Grundprinzip seiner Aus-legung das Prinzip der sieben Regeln. Diese sieben Regeln der spiritualisierenden Bibel-auslegung des Tyconius sind in seinem einzigen erhaltenen Werk, dem Liber regularum, der ersten lateinischen Hermeneutik, enthalten; der Inhalt seines Offenbarungskommentars lässt sich teilweise aus späteren Rezeptionsspuren rekonstruieren.50 Tyconius sieben Regeln ermöglichen die historische und allegorische Lesung ein und derselben Bibelpassage, ent-werten konkrete biblische Zahlenwerte, wie das Tausendjährige Reich (Offb 20:1-6), und machen durch die Rekapitulationsregel eine chronologische Lesung, zum Beispiel der Johannesoffenbarung, nicht zwingend (zu den sieben Regeln des Tyconius siehe FREDRIKSEN 1991, S. 157f):

„By […] complicating the biblical text, Tyconius gained a way to approach some of its most unabashedly apocalyptic and millenarian passages head-on, affirming their historical significance while obscuring their eschatological value. […] Tyconius’ reading of scripture thus emphasized the historical realization of prophecy while denying the sort of social and temporal transparency to the text that would allow for a millenarian interpretation.“ (FREDRIKSEN 1991, S. 158f).

Aufgrund der Rezeption der Schriften des Tyconius durch den Kirchenvater Augustinus bekam Tyconius’ spiritualisierende Auslegungsmethode großen Einfluss und dominierte die lateinische Kommentartradition beinahe siebenhundert Jahre lang.51 Augustinus schrieb zwar keinen selbständigen Kommentar zur Offenbarung, baut aber in De Civitate Dei auf der Auslegung des Tyconius auf, ohne jedoch dessen Naherwartung zu übernehmen (siehe REDZICH 2010, S. 68). Augustinus betrachtet die Zahl Tausend (Offb 20:3) als perfekte Zahl, die das gesamte sechste und letzte Zeitalter der Zeitgeschichte symbolisiert. Wie lang das letzte Zeitalter andauern wird, bleibt bei Augustinus offen.52 In dieser streng allegorischen Auslegung des Augustinus werden die Visionen des Johannes „als wiederholte symbolische Darstellungen der Kämpfe und Triumphe der Kirche (Corpus Christi) gegen die Gesamtheit der christusfeindlichen Weltmächte (Corpus Antichristi) in einem zeitlich nicht näher bestimmbaren Rahmen gedeutet, innerhalb dessen die ecclesia ihrer himmlischen Vollendung entgegenstrebt und der allem Irdischen inhärente Dualismus endgültig aufgehoben wird“

(REDZICH 2010, S. 69). An welchem Punkt innerhalb der Geschichte der Beobachter sich befindet, spielt bei der Auslegung keine Rolle (ebd.).

49 Dennoch ist bei Tyconius durchaus von einer Naherwartung die Rede. Bei ihm symbolisiert das tausendjährige Reich die Zeit der Kirche auf Erden, die er als bald abgelaufen betrachtet (siehe REDZICH 2010, S. 67).

50 Zum Beispiel bei Beatus Liébana (siehe FREDRIKSEN 1991, S. 157, Anm. 42, und DALEY 2000, S. 29).

51 Siehe FREDRIKSEN 1992 zum Einfluss des Tyconius auf Augustinus.

52 Vgl. REDZICH (2010, S. 69): „Die Hoffnung auf ein zukünftiges tausendjähriges Friedensreich auf Erden wird damit aus dem kirchlichen Denken verbannt. Die unmittelbare Zukunft wird bei Augustinus ins Unbestimmte – in die ‚lange Zeit‘ – gestreckt und metaphysisch gedeutet. An ihrem Ende werde eine Zeitspanne kommen, in der alle apokalyptischen Endzeitphänomene wie die Herrschaft des Antichristen ihren Ort haben.“

2 Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

Ein späterer wichtiger Vertreter dieser bis weit ins zwölfte Jahrhundert vertretenen Auslegungstradition ist Beda Venerabilis. Bei Beda ist der Text der Offenbarung in sieben Abschnitte unterteilt, die als Präfigurationen von sieben Zeitaltern der Zeitgeschichte aufgefasst werden. Das letzte, mit der Geburt Christi einsetzende Zeitalter, ist analog den sieben Siegeln in der Offenbarung in sieben kirchengeschichtliche Perioden gegliedert. Diese kirchengeschichtlichen Perioden sind nicht bezüglich ihrer Zeitdauer spezifiziert oder chronologisch zugeordnet. Erst durch spätere Exegeten wurde „die streng allegorische Lesart Bedas [...] durch die geschichtliche Identifizierung der Zeitperioden unterwandert“

(EHRICH 2010, S. 34). Schuld daran ist in gewissem Maße Beda selbst, denn seine Gliederung des Textes in sieben Visionen – parallel den sieben Schöpfungstagen – bot Potential für eine historisch-chronologische Ausdeutung (siehe REDZICH 2010, S. 70).

Weitere Vertreter der symbolischen Lesart der Offenbarung aus der karolingischen Periode sind Ambrosius Autpertus, dem die mariologische Deutung der Frau, die mit den Sonnen bekleidet ist (vgl. Offb 12:1-6, mulier amicta sole), zu verdanken ist, und Haimo von Auxerre. Von den späteren orthodoxen Kommentatoren soll an dieser Stelle noch Richard von St. Viktor genannt werden. Richard betrachtet „den modus descriptionis der Apokalypse im Sinne einer sozial-ethischen Verpflichtung“ und plädiert dafür „das in der Vereinzelung der contemplatio Geschaute in die Gemeinschaft der Lernenden zu integrieren“ (REDZICH 2010, S. 76) und betont besonders die Rolle des Johannes als Seelsorger und Lehrer (ebd., S. 77).

Eine entscheidende Rolle für die Erhaltung der symbolischen orthodox-ekklesiologischen Lesart spielte die Glossa ordinaria (REDZICH 2010, S. 77). Die Glossa ordinaria war für das wis-senschaftlich-theologische Studium gedacht und neben den Sentenzen des Petrus Lombardus und der Historia Scholastica (entst. 1169 und 1173, siehe unten, S. 79) des Petrus Comestor ein wichtiger Vertreter der normativen Schultheologie (siehe REDZICH 2010, S. 73). Sie bildet ab dem dreizehnten Jahrhundert als Sammlung gekürzter und standardisierter Glossen der or-thodoxen patristischen und karolingischen Exegeten den autoritären Referenzrahmen für mittelalterliche orthodoxe Bibelkommentare (ebd.).53

Die zyklisch-rekapitulierende Lesart54

Im Gegensatz zur symbolischen Lesart der Johannesoffenbarung spielt die Kirchen- und Weltgeschichte bei der zyklisch-rekapitulierenden Lesart oder auch ‚geschichtsprophetisch‘

genannten Lesart der Johannesoffenbarung eine wichtige Rolle, denn der geschichtliche Bezug der in der Offenbarung beschriebenen Ereignisse ist ein signifikantes Kennzeichen dieser Lesart (siehe EHRICH 2010, S. 36). Ihre Wurzeln liegen im von Victorinus von Pettau im dritten Jahrhundert geschriebenen ältesten bekannten Kommentar zur Offenbarung.

53 Die Überlieferung der Glossa ordinaria war bis in die frühe Neuzeit relativ stabil. Siehe REDZICH 2010, S. 73, zur Glossa ordinaria und den wichtigsten Werken der scholastischen Schultheologie.

54 Soweit nicht anders angegeben, beruht dieses Unterkapitel auf EHRICH 2010, S. 36-42.

58

Darin wird die Offenbarung als Beschreibung der zukünftigen Ereignisse der Endzeit ausge-legt und die schrecklichen Visionen des Johannes als Beschreibung der zeitgenössischen Ver-folgung der Kirche unter dem römischen Kaiser Diokletian mit dem Versprechen des end-zeitlichen Sieges. Victorinus deutet die verschiedenen Bilder der Offenbarung jedoch nicht als lineare Beschreibung der Endzeit, sondern als sich wiederholende Beschreibungen ein und derselben Ereignisse (Rekapitulationslehre). Teile des Kommentars des Victorinus wurden in einer von jedem geschichtlichen Bezug gereinigten Version des Kirchenvaters Hieronymus auch in der orthodoxen symbolischen Auslegungstradition rezipiert.

Obwohl bis ins zwölfte Jahrhundert die symbolische Auslegungstradition dominierte, ging die geschichtsprophetische zyklisch-rekapitulierende Lesart nicht verloren und lebte Ende des elften Jahrhunderts mit dem Kommentar des Rupert von Deutz wieder auf. Als Gründe hier-für können die steigende Naherwartung im zwölften Jahrhundert und die daraus hervor-gehenden neuen geschichtstheologischen Ausdeutungen der zeitgenössischen Krisen, wie dem Scheitern der innerkirchlichen Reformbewegungen, angeführt werden (siehe RED

-ZICH 2010, S. 77). Bei Rupert von Deutz hat die Gegenwart zwar einen „moralischen Kor-rektivcharakter“ (EHRICH 2010, S. 37), denn einen direkten Bezug zwischen den Visionen der Offenbarung und seiner eigenen Zeit stellt er noch nicht her, wohl aber überschreitet er die Grenzen der orthodoxen Tradition, wenn er „die Repräsentanten des Corpus Antichristi einschließlich des Antichristen selbst in direkte Beziehung zu historisch-konkreten weltlichen und geistlichen Machthabern und Führungsgruppen setzt“ (REDZICH 2010, S. 78). Ähnlich gelagert wie Ruperts Deutungsmodell sind auch die zum kirchenreformierten Deutschen Symbolismus zählenden Schriften des Anselm von Havelberg und des Gerhoch von Rei-chersberg aus dem zwölften Jahrhundert, auch wenn hier schon eine „chronologische Präzi-sierung heilsgeschichtlicher Entwicklungsstufen und eine genauere Situierung und Analyse der als gegenwärtig begriffenen Epoche“ (EHRICH 2010, S. 37) stattfindet. Durch die Rezep-tion der welthistorischen Lesart des Deutschen Symbolismus in der Geschichtsphilosophie tendierte die Deutung der Johannesoffenbarung zunehmend zur Kirchengeschichtsschrei-bung, zum Beispiel bei Otto von Freising, einem bedeutenden aus dem deutschsprachigen Raum stammenden Historiographen des zwölften Jahrhunderts (siehe REDZICH 2010, S. 79).

Damit war es nur noch ein kleiner Schritt zur vollständigen Trennung von der symbolischen Auslegungstradition und dem Versuch, den Bibeltext zur Welterklärung zu gebrauchen (ebd.).

Als wichtigster und kontroversester Neuerer innerhalb dieser Auslegungstradition – mit einem entscheidenden Einfluss auf das mittelalterliche Geschichtsdenken – gilt zu Recht Joachim von Fiore (siehe MCGINN 1998, S. 126). Joachim von Fiore stammte aus Kalabrien und war zunächst Beamter am sizilianischen Hof. 1171 bekehrte er sich zum geistlichen Leben, trat in ein Zisterzienserkloster ein und wurde nach kurzer Zeit zu dessen Abt gewählt.

Ab sofort strebte er nach der spirituellen Erneuerung und Perfektionierung des Klosterlebens (siehe MCGINN1998, S. 126). Um das Jahr 1183 offenbarte sich ihm ein neues Auslegungssystem zur Erklärung der Heiligen Schrift, auf dessen Ausarbeitung und Vervoll-kommnung er sich fortan richtete (zu den Kernpunkten seiner Lehre, siehe unten). Wegen seiner wachsenden Unzufriedenheit mit seinem Heimatorden gründete er um das Jahr 1190

2 Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

einen neuen Orden, die Floriazenser – benannt nach dem ersten Ordenshaus im kalabrischen Fiore. Joachim von Fiore war nicht zuletzt aufgrund seines Rufes, besondere prophetische Gaben zu besitzen, eine wichtige öffentliche Persönlichkeit und genoss das Wohlwollen und den Schutz verschiedener pro-imperial gesinnter Päpste.55 Im seine Zeit prägenden Konflikt mit dem römisch-deutschen Kaiserreich sprach sich Joachim von Fiore für die Unterordnung der Kirche als Kompromisslösung aus, anstatt auf der Vorrangstellung des Papsttums zu beharren (siehe MCGINN 1998, S. 127). Nach dem Sieg der anti-imperialen Partei, die sich in der Wahl Innozenz III. im Jahr 1198 zum Papst manifestierte, sank Joachims Ansehen an der Kurie, wie die Verurteilung seiner Trinitätslehre beim Vierten Laterankonzil (1215) zeigt. Es ist wichtig festzuhalten, dass nur einige Punkte seiner Lehre als häretisch verurteilt wurden, nicht Joachim als Person selbst.

Durch die Verurteilung seiner Trinitätslehre war Joachims Ansehen umstrittener als zum Beispiel das Ansehen der einflussreichen mittelalterlichen Prophetin Hildegard von Bingen.

Dennoch verbreitete sich Joachims Ruhm innerhalb nur einer Generation nach seinem Tod weit über die Grenzen Kalabriens.56 Man kann jedoch davon ausgehen, dass nur wenige seiner frühen Rezipienten seine Werke vollständig gelesen haben, oftmals wurden nur verein-zelte Zitate oder figurae rezipiert (siehe REEVES 1993, S. 38-40). Auf der einen Seite galt Joachim als ein großer Gelehrter und als Prophet, der das Kommen der Mendikanten und des Antichrist vorhergesagt hatte, auf der anderen Seite haftete seiner Lehre etwas Gefähr-liches, beinahe Ketzerisches, an.57 Obwohl eine ausführliche Darstellung der komplexen und nicht nur im Mittelalter oft missverstandenen Geschichtstheologie Joachims von Fiore den Rahmen der vorliegenden Arbeit übersteigen würde, erscheint es sinnvoll, auf Joachims von Fiore Geschichtstheologie der drei status und seine Auslegung der Offenbarung einzugehen.58 Die komplexe exegetische Methode Joachims von Fiore beruht auf zwei grundlegenden Denkfiguren: dem Prinzip der concordia zwischen den prophetischen und historischen Büchern des Alten und des Neuen Testaments, das heißt auf Parallelen zwischen dem

55 Siehe MCGINN (1998, S. 126): „His meetings with the popes of the time and the undoubted approval of his works by several pontiffs argue that he served as something like an apocalyptic adviser to the peace party in the Roman curia (the group seeking compromise with the empire) in the period between the death of Alexander III in 1181 and the accession of Innocent III in 1198.“

56 Gebeno von Eberbach scheint schon im Jahr 1217 darüber informiert gewesen zu sein, dass Joachim das baldige Erscheinen des Antichrist vorausgesagt habe, was ihn seinerseits dazu brachte, Hildegards von Bingen

Prophezeiungen diesbezüglich zu untersuchen und das Pentachron zusammenzustellen (siehe REEVES 1993, S. 39).

Siehe auch unten, S. 91.

57 Vgl. REEVES (1976, S. 28): „Thus Joachim emerges as a man with two reputations. On the one hand, he was magnus propheta [...], the one who foretold the advent of the Mendicants. On the other hand, he was twice-condemned. When handbooks of saints and heretics began to appear in the fifteenth and sixteenth centuries, he found a place in both. The discussion as to whether he was orthodox or heretic has gone on ever since.“

58 Die Literatur zu Joachims Lehre und dem Nachleben seiner Lehre ist äußerst umfangreich. Grundlegend sind:

REEVES 1976, REEVES 1993 und POTESTÀ 2004. Die folgende Zusammenfassung der Kernpunkte seiner Lehre beruht auf MCGINN 1998, S. 126-130, und EHRICH 2010, S. 38f.

60

Personen- und Ereignisgefüge beider Bücher, und der Unterteilung der Heilsgeschichte in drei status. Die Unterteilung in drei status, die so genannte Drei-Zeitalter-Lehre, ist eines der bekanntesten Elemente der Lehre Joachims. Die drei Zeitalter sind analog zur Dreifaltigkeit Gottes den drei Personen der Trinität (dem Sohn, dem Vater und dem Heiligen Geist) zugewiesen. Während der drei einander überlappenden Zeitalter erlangt die Menschheit ein immer besseres Verständnis von Gottes Wort, wobei der perfekteste status, das Zeitalter des Heiligen Geistes, noch bevorsteht.

Für Joachim von Fiore ist die Offenbarung des Johannes keine Endzeitprophezeiung. In seinen Augen beschreibt sie die gesamte Heilsgeschichte, das heißt, in der Offenbarung sind durch das Prinzip der Konkordanz alle drei status präfiguriert. Entscheidend ist, dass Joachim seine eigene Zeit, den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, als Schwelle zum dritten und letzten status der Weltgeschichte, dem Zeitalter des Heiligen Geistes, betrachtet, das durch eine höhere Form der Spiritualität gekennzeichnet sein würde und dessen hervorragendsten Vertreter (Bettel-)Mönche (homines spirituales) sein würden. Schon mit dem Ordensgründer der Benediktiner, Benedikt von Nursia, sah Joachim die Schwelle zum Dritten Zeitalter über-wunden. Weitere Neuerungen der Geschichtstheologie Joachims sind die Erwartung, dass zwei Antichristen auftreten werden, ein magnus oder maximus Antichristus vor dem tausend-jährigen Reich Christi und ein ultimus Antichristus danach, und die Erwartung der Geburt des ersten Antichrist aus der Mitte der westlichen Christenheit (vgl. LERNER 1985). Joachim selbst wähnte ersteres Ereignis schon eingetreten. Auch kehrte Joachim wieder zur Lehre vom tausendjährigen Reich Christi auf Erden zurück und deutete entgegen der offiziellen Lehrmeinung die letzten Kapitel der Offenbarung als eine lineare Beschreibung zukünftiger Ereignisse.

Joachim hinterließ ein umfangreiches Oeuvre, das nur vereinzelt in modernen Ausgaben verfügbar ist.59 Noch immer ist die Autorschaft Joachims einiger Schriften nicht endgültig geklärt.60 Bewegte sich Joachim mit einigen seiner Thesen an der Grenze zur Verwerfung als Häresie, waren seine Nachfolger weniger vorsichtig und gerieten in den Strudel der Auseinan-dersetzungen zwischen den kirchlichen Institutionen und den radikalen Anhängern des neuen franziskanischen Armutsideals.61 Schriften wie das Liber introductiorius in Evangelium aeternum (‚Ewiges Evangelium‘) des Gerardo von Borgo San Donnino und der Kommentar zur Offen-barung des Franziskaners Petrus Johannis Olivi wurden zusammen mit anderen Schriften,

59 Im ‚International Center for Joachimist Studies‘ (San Giovanni in Fiore, Italien) scheint eine Ausgabe seines Gesamtwerks geplant gewesen zu sein (siehe http://www.centrostudigioachimiti.it, Stand 20.02.2016), das Zentrum scheint seine Arbeit jedoch inzwischen eingestellt zu haben. Der Status der Edition ist undeutlich. Ich danke für diese Information Alfredo Cosco (SISMEL).

60 Siehe REEVES 1993, S. 511-535, für eine Übersicht aller (pseudo-)joachimitischen Schriften.

61 Joachim enthielt sich konkreter chronologischer Berechnungen und Spekulationen bezüglich der Gegenwart und Zukunft. Seine radikalen Nachfolger, insbesondere die Franziskaner-Spiritualen, utilisierten jedoch das in seiner Lehre angelegte Potential für Kirchenkritik und proklamierten das baldige Hereinbrechen des tausendjährigen Reiches Christi auf Erden (siehe REDZICH 2010, S. 82).

2 Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

wie dem Joachim fälschlich zugeschriebenen Jeremias-Kommentar (Super Hieremiam), als häretisch verurteilt.62 In gemäßigter Form, das heißt ohne apokalyptische Spekulationen, fand Joachims Gedankengut im vierzehnten Jahrhundert Aufnahme in den Gesamtbibelkommen-tar des Nikolaus von Lyra, die Postilla litteralis super totam Bibliam (siehe REDZICH 2010, S. 83).

Die linear-historische Lesart63

Während die Johannesoffenbarung in der zyklisch-rekapitulierenden Lesart als sich teilweise rekapitulierende Geschichtsprophetie gelesen wird, wird sie in der linear-historischen Lesart als lineare Prophetie des Schicksals der Kirche auf Erden gelesen:

Die als historisch begriffene Vision des Johannes bildet den Ausgangspunkt der Parallelisierung zwischen dem letzten Buch der Bibel und chronikalisch vermittelter Geschichte. Da die wesentlichen Prophezeiungen des Visionsbuches in Vergangenheit und Gegenwart bereits erfüllt erscheinen, bleibt der Zukunft nur noch das endgültige Ende der Geschichte im Jüngsten Gericht vorbehalten. (EHRICH 2010, S. 43)

Die linear-historische Lesart ist im dreizehnten Jahrhundert in franziskanischen Kreisen entstanden. Als ihr Begründer gilt der Franziskaner Alexander Minorita. In seinem Kommentar zur Offenbarung lässt er entgegen allen anderen Auslegungstraditionen das tausendjährige Reich mit dem ersten christlichen Kaiser im vierten Jahrhundert beginnen.

Das in der Offenbarung geschilderte Geschehen – der Sieg über den Drachen, seine tausendjährige Fesselung und seine Freilassung (Offb 20:1-3) – deutet er in Bezug auf die Spannungen zwischen der Kirche und dem römisch-deutschen Kaiserreich seiner eigenen Zeit. Bei Alexander erscheint die unmittelbare Zukunft viel deutlicher als Endzeit als bei Joachim. Zwar machte Alexander selbst keine Angabe zum Zeitpunkt des Erscheinens des Antichrist, aber das in seinem Kommentar das Ende des Islam markierende Jahr 1249 veranlasste einige Rezipienten zu endzeitlichen Spekulationen. Der linear-historischen Lesart war erst ein Jahrhundert nach Alexander Minorita einiger Erfolg beschieden. Sie fand im vierzehnten Jahrhundert Nachfolge in den Kommentaren von Petrus Aureoli und Nicolaus von Lyra.

62 Der Jeremias-Kommentar (Super Hieremiam) ist besonders erwähnenswert, weil er Lodewijk van Velthem eventuell als Quelle gedient hat (siehe unten, Kapitel 7.2).

63 Soweit nicht anders angegeben, beruht dieses Unterkapitel auf EHRICH 2010, S. 42-45.

62

Zwischenbilanz: Lateinische Kommentartraditionen zur Offenbarung des Johannes

Obwohl die Kommentartradition zur Offenbarung als welthistorische Deutung begann, war für die universitäre Theologie lange Zeit die patristische Tradition der symbolischen Auslegung bestimmend. Erst im zwölften Jahrhundert gewannen welthistorische Deu-tungsmodelle, wie die des Ruperts von Deutz oder Joachims von Fiore, im „Zuge einer stärker welthistorisch orientierten Theologie“ (REDZICH 2010, S. 65) wieder an Bedeutung.

Welthistorische Deutungsmodelle wurden innerhalb der kirchlichen Institutionen und durch die konservativen Strömungen innerhalb der Bettelorden überwiegend kritisch betrachtet (ebd.). Ab dem vierzehnten Jahrhundert ist die Zeit der Neuerungen vorbei. Ab diesem Zeitpunkt existieren die verschiedenen Traditionen nebeneinander, in manchen Fällen im buchstäblichen Sinn, wie in einigen frühneuzeitlichen Drucken, in denen aus der Glossa ordinaria und dem Kommentar des Nikolaus von Lyra entnommene Kommentarteile neben-einander stehen (ebd., S. 83).

Im vierzehnten Jahrhundert existieren demnach drei verschiedene Auslegungstraditionen, die sich bezüglich der Wertung der historischen Dimension des Offenbarungstextes unterscheiden: die symbolische, die zyklisch-rekapitulierende und die linear-historische Lesart. Die im Mittelalter dominierende symbolische Lesart legt den Schwerpunkt auf die Aussagen der Johannesoffenbarung zum Seelenheil des christlichen Individuums und zum Heil der Christenheit, nicht auf das historische Schicksal der Menschheit (siehe RED

-ZICH 2010, S. 84). In der zyklisch-rekapitulierenden und der linear-historischen Ausle-gungstradition wird die Johannesoffenbarung als Geschichtsprophetie mit einer historischen Dimension gedeutet. Im Fall der zyklisch-rekapitulierenden Lesart werden alle Visionen der Offenbarung als „Allegorien und als symbolische Wiederholungen ein und desselben zukünftigen Geschehens am unmittelbar bevorstehenden Ende der irdischen Zeit“ (ebd.) betrachtet, wobei offen gelassen werden kann, wie viel Zeit bis zum Ende verbleibt. Im Fall der linear-historischen Lesart wird die Offenbarung als eine lineare Beschreibung historischer Ereignisse betrachtet, die entweder die gesamte irdische Geschichte umfassen oder auf zukünftige Ereignisse verweisen. Keine der mittelalterlichen Auslegungstraditionen ist von Natur aus apokalyptisch, aber vor allem im Zusammenhang mit der linear-historischen Lesart treten verstärkt apokalyptische und/oder millenaristische Interpretationen auf.

Orthodoxe Auslegungen der Offenbarung haben gemeinsam, dass das „Erlösungs-potential der zweiten Parusie“ wichtiger ist als „die Schrecken der ‚letzten Dinge‘“ (beide Zitate REDZICH 2010, S. 96). Auch in der Offenbarung selbst ist der ewige Lohn wichtiger als die Schrecken der Endzeit, die vor allem als Warnung für diejenigen dient, die sich gegen Christus stellen (ebd.). Da sich die mittelalterliche Apokalyptik auf die Zeitspanne vor dem Jüngsten Gericht konzentriert, die in der Offenbarung keine besondere Rolle spielt, spielt die Offenbarung als Quelle nur eine Nebenrolle:

2 Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

Die mittelalterliche apokalyptische Literatur konzentriert sich [...] auf eine bestimmte Zeitspanne vor dem Jüngsten Gericht. Es handelt sich größtenteils um negative Gegenentwürfe zur orthodoxen, von Hoffnung geprägten (End-)Zeitdeutung, die den Feind (den Teufel, den Antichristen und seine Anhänger) zu identifizieren und zu personalisieren versuchen und die in aktuellen Not- und Krisensituationen politisch funktionalisiert werden. Apokalyptisches Sprechen meint in diesem Sinne kein exe-getisches Verfahren, sondern eine Form der politisch-weltanschaulichen Rede, die sich auf aggressive, spätestens seit der Frühen Neuzeit publizistisch wirksame Weise mit aktuellen politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Mißständen auseinandersetzt.

[...] Dazu bedient sie sich einer spezifischen Rhetorik, zu der ein Repertoire an Aus-drucksformen, Bildern, Motiven und Redestrategien gehört, das sich aus biblischen und apokryphen Quellen, aber auch aus der Mythentradition, aus der welthistorisch orien-tierten Exegese, aus der Historiographie und nicht zuletzt aus der mittelalterlichen Visionsliteratur speist. (REDZICH 2010, S. 96f)

Paradoxerweise kann die mittelalterliche Apokalyptik durchaus auf die Bildsprache der Apokalypse zurückgreifen, wurde aber aus anderen Quellen gespeist. Die Verwendung anderer Quellen zur Beschreibung der dem Jüngsten Gericht vorhergehenden Ereignisse gilt jedoch für viele mittelalterliche Texte, die nicht apokalyptisch im Sinne der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Definition sind, und in besonderem Maße für den in der vorliegenden Arbeit betrachteten mittelniederländischen Korpus.64 Dazu kommt, dass ursprünglich apokalyptische Quellen auch „entapokalyptisiert“ verwendet werden können.

64 In der vorliegenden Arbeit spielt der Aspekt der zeitlichen oder psychologischen Unmittelbarkeit der Erwartung des Jüngsten Gerichts eine entscheidende Rolle für die Definition von Apokalyptik (siehe oben, Kapitel 2.1.2).

Kapitel 3

Im Dokument Im Diesseits das Jenseits bereiten (Seite 70-81)