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Das christliche eschatologische Denken und die Offenbarung des Johannes

2.1 Terminologie: Apokalyptik – Eschatologie – apokalyptische Eschatologie?

2.1.1 Eschatologie

Der Begriff ‚Eschatologie‘, das heißt die Lehre der Letzten Dinge, ist eine Neuschöpfung.1 Im Mittelalter wurde in der lateinischen Literatur meist der Begriff novissima verwendet, im Mittelniederländischen oft übersetzt mit Utersten (siehe MNW Uterste). Meist bezog sich diese Bezeichnung auf vier Themengebiete, weshalb sowohl in der lateinischen als auch in der volkssprachlichen Literatur oftmals das einschränkende Zahlwort ‚vier‘ (lat. quatuor, mndl.

vier) zugefügt wurde. Die Themengebiete waren: der Tod, das Gericht, die Hölle und der Himmel.2 Diese so genannten Eschata gaben Anlass zu Betrachtungen über den Tod des Menschen, den Zustand der Seele nach dem unmittelbaren individuellen Urteil nach dem Tod, das zukünftige Jüngste Gericht gefolgt durch das Ende der Zeiten sowie die Jenseitsorte und waren im Mittelalter für Intellektuelle und Laien eng miteinander verbunden. In der Forschung der letzten Jahre werden sie jedoch oftmals voneinander getrennt betrachtet. Laut BYNUM & FREEDMAN(2000b) haben diese Detailstudien auf der einen Seite neue Erkenntnisse zu Einzelbereichen gebracht, auf der anderen Seite bestehe jedoch die Gefahr, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Themengebieten aus den Augen zu verlieren.

Aus dem folgenden Streifzug durch einige theologische Lehrbücher und Enzyklopädien geht hervor, dass die Analyse des eschatologischen Gedankenguts in den mittelnieder-ländischen Texten anhand der inhaltlichen Spannbreite des modernen Begriffs ‚Eschatologie‘

dem Konzept der Vier Utersten zu bevorzugen ist. Die Darstellung bietet keine umfassende Übersicht der teilweise kontroversen theologischen Ansichten zur Eschatologie, sondern dient dazu, aus der theologischen Spezialliteratur brauchbare Analyseansätze für eine mediä-vistische Studie herauszuarbeiten.3

Ein traditionelles Lehrbuch der katholischen Eschatologie ist RATZINGER 2007 (Joseph Ratzinger ist auch bekannt als Papst Benedikt XVI.). RATZINGER (2007, S. 17) stellt fest, dass die Eschatologie als Lehre von den Letzten Dingen in der Theologie lange Zeit am Ende der theologischen Gesamtdarstellungen angesiedelt war und kaum diskutiert wurde. Inzwischen

1 Laut BYNUM & FREEDMAN (2000b, S. 1, Anm. 1) wurde der Begriff 1804 durch Karl Gottlieb Brettschneider eingeführt.

2 Eine wichtige Rolle bei der Popularisierung der Vier Utersten hatte das Cordiale de quatuor novissimis (Ende 14. Jh.) des Deutschordensmanns Gerard van Vliederhoven, das um 1400 ins Mittelniederländische übersetzt wurde (Dit sijn die vier uterste). Vliederhoven hat das Konzept nicht erfunden, er selbst beruft sich auf Bernhard von Clairveaux. Aber erst dieser Text gab den Ausschlag für die großflächige Verwendung dieses Konzepts als Meditationsgrundlage im späten Mittelalter. Das Cordiale de quatuor novissimis war der wichtigste Text zu diesem Thema im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. Siehe OOSTERMAN 2000, S. 152f, vgl. DE VOS 1866 und DUSCH 1975. Die Vier Utersten werden als Analysegrundlage verwendet in OECHSLIN WEIBEL 2005.

3 Für die Diskussion von katholischer Seite siehe RATZINGER 2007. Auch in der evangelischen Theologie wird die Eschatologie diskutiert, vgl. zum Beispiel BULTMANN 1958 und MOLTMANN 1964. Siehe auch die Übersichtsdar-stellung in MCGRATH 1997, S. 541-552.

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wäre die Eschatologie in den Brennpunkt heftiger theologischer Diskussionen geraten, wobei einige Auseinandersetzungen keine der traditionellen Themen der Lehre der Letzten Dinge berühren. Als essentielle Bestandteile einer katholischen Eschatologie betrachtet Ratzinger:

die Theologie des Todes, die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Toten, die zweite Wiederkunft Christi zum Gericht und das Jüngste Gericht sowie Himmel, Hölle und Fegefeuer (vgl. ebd., Inhaltsverzeichnis und S. 17-20).

Der in RATZINGER 2007 nur gestreifte Unterschied zwischen individueller und universaler Eschatologie wird in anderen Studien ausführlicher diskutiert. MCGRATH (1997), eine ein-flussreiche Einführung in die christliche Theologie aus dem englischsprachigen Raum, bespricht die Eschatologie unter der Überschrift „Last Things: The Christian Hope“. Die Eschatologie wird in dieser Studie im weitesten Sinn als Diskurs über das Ende betrachtet, wobei das Ende sowohl das Ende des Lebens eines Individuums sein kann, als auch das Ende des gegenwärtigen Zeitalters, das heißt das Ende der Geschichte (siehe MCGRATH 1997, S. 540). Dementsprechend wird zwischen gemeinschaftlichen Aspekten der Eschatologie („corporate understanding of eschatology“, ebd., S. 544) und individuellen Aspekten der Eschatologie („individualist dimensions of the Christian hope“, ebd., S. 544) unterschieden, wobei dieser Unterschied in der weiteren Besprechung einiger Eschata nicht weiter verfolgt wird. Grund dafür kann sein, dass nur ausgewählte Teilbereiche der christlichen Lehre von den Letzten Dingen besprochen werden: die Hölle, das Fegefeuer und der Himmel (unter letzterem Aspekt werden auch die Auferstehung von den Toten, der Glaube an das tausendjährige Reich Christi auf Erden und die seligmachende Schau Gottes (visio beatifica) betrachtet).4

Der Blick in theologische Spezialenzyklopädien bestätigt diesen Trend zur Trennung zwischen universaler und individueller Eschatologie. So bezeichnet die (inzwischen schon über hundert Jahre alte und teilweise überholte, aber immer noch brauchbare) Catholic Encyclopedia die Eschatologie als „that branch of systematic theology that deals with the doctrines of the last things“ (TONER 1909), wobei als Teilaspekte die Eschatologie des Individuums und die Eschatologie der Menschheit und des gesamten Universums unterschieden werden. In der Catholic Encyclopedia wird zum mittelalterlichen Konzept der Vier Letzten Dinge angemerkt, dass diese nur eine Zusammenfassung der christlichen Escha-tologie darstellen. Eine systematische Behandlung müsse sowohl Aspekte der individuellen Eschatologie, das heißt den Tod, das Individualgericht, den Himmel, das Fegefeuer und die Hölle sowie Aspekte der universalen oder kosmologischen Eschatologie, das heißt die Vorzeichen der Endzeit, die Auferstehung des Leibes, das Letzte Urteil und das Ende der Welt beinhalten. Auch im neueren Lexikon für Theologie und Kirche (kurz LThK) wird eine Unterscheidung in individuelle und universale Aspekte der Eschatologie vorgenommen. Als

4 In der deutschsprachigen Sekundärliteratur finden sich verschiedene Schreibweisen und Bezeichnungen für den Glauben an ein (tausendjähriges) Friedensreich auf Erden; in dieser Arbeit wird die im Duden verzeichnete Schreib-weise Millenarismus verwendet.

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Einzeleschata werden ähnliche Themen behandelt wie in der Catholic Encyclopedia, nämlich die Anschauung Gottes, die Auferstehung des Fleisches, der Auferstehungsleib, das Fegefeuer, die Gemeinschaft der Heiligen, das Gericht, der Himmel, die Hölle, die Seligkeit, der Tod und der Zwischenzustand nach dem Tod (siehe RAHNER 1957-1963, Sp. 1094).

Sehr theoretisch wird im Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart (kurz RGG) an die inhaltliche und begriffliche Klärung des Begriffs ‚Eschatologie‘ herangegangen. Laut RGG wird dieser Begriff in der „Metasprache der Religionswiss[enschaft]“ seit Mitte des neun-zehnten Jahrhunderts als übergeordneter Begriff für drei Konglomerate von Endzeitvor-stellungen verwendet: 1) die individuelle Eschatologie, das heißt das Ende des Individuums, 2) die kollektive oder universale Eschatologie, das heißt das Ende der Menschheit und 3) die kosmologische Eschatologie, das heißt das Ende der Welt (siehe FILORAMO 2007, Sp. 1542, Zitat ebd.). Laut RGG müssen in eine umfassende Betrachtung der Eschatologie Aspekte der Protologie (Lehre von den Anfängen), der Anthropologie (Lehre vom Wesen des Menschen und seiner Seele), der Ethik (der Zeitpunkt der Belohnung für gute Taten), die Vorstellungen über Zeit und Raum (lineare oder zyklische Zeit, Verfall oder Fortschritt, Jenseitsorte) und die Formen der Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten einbezogen werden (ebd.). Bei der dogmengeschichtlichen Behandlung wird im RGG herausgestellt, dass sich die Letzten Dinge oftmals auf „eine Folge von Endergebnissen definitiven Charakters“

(SAUTER 2007, Sp. 1561) beziehen. Damit sind gemeint: „Tod, Auferstehung, Jüngstes Gericht mit dem göttlichen Urteil über ewiges Leben oder ewige Verdammnis, Vollendung der Welt als neue Schöpfung“ (ebd.) sowie das dogmengeschichtlich junge Dogma des Fege-feuers. Auch im RGG spielt der Unterschied zwischen individueller und universaler Eschato-logie eine Rolle. Es wird betont, dass neben Reflexionen über den universellen Ablauf des Endes eine Darstellung der christlichen Eschatologie auch Reflexionen über den Tod als ethi-schen Bruchpunkt enthalten sollte. Beachtenswert ist die Feststellung, dass es sich als schwie-rig darstellt, ein allgemeingültiges Bild der Entwicklung eschatologischer Fragestellungen zu geben (ebd.). Aus der Behandlung der Eschatologie im RGG geht deutlich hervor, dass im Mittelalter die Klärung verschiedener Einzelfragen im Mittelpunkt stand und noch keine systematische Ausarbeitung einer Gesamteschatologie zustande gekommen ist.

Welche Eschata in der mittelalterlichen universitären Theologie der Scholastik zentral standen, zeigt beispielhaft ein Blick auf den eschatologischen Abschluss der Sentenzen (Quatuor Sententiarum Libri) des Theologen Petrus Lombardus. Der Aufbau seiner Abhandlung der Eschatologie im vierten Buch der Sentenzen wurde zur maßgeblichen Grundlage der mittelalterlichen theologischen Behandlung der Eschatologie (siehe WICKI 1999a). Bei Lom-bardus werden folgende Themen ausführlich behandelt: die allgemeine Auferstehung, das allgemeine Gericht, das ewige Leben und die ewige Verwerfung. Weniger ausführlich be-handelt werden das Gericht nach dem Tod, die Jenseitsorte und die Vollendung des Kosmos

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(ebd., Sp. 5f).5 Hieraus geht hervor, dass sich die mittelalterliche Theologie, mit den Sentenzen des Petrus Lombardus als vorläufigen systematischen Endpunkt, nicht auf die Vier Utersten beschränkte (vgl. auch die Behandlung der scholastischen Eschatologie in OTT 1990). Die Themengebiete in den Sentenzen entsprechen den in der Forschungsliteratur mehrfach vorzu-findenden übergreifenden Kategorien individuelle und universale Eschatologie.6 Spätestens ab Petrus Lombardus ist deshalb für die mittelalterliche systematische Theologie davon aus-zugehen, dass beide Aspekte eine Rolle gespielt haben, wenn auch in unterschiedlicher Ge-wichtung.

Das heißt jedoch nicht, dass sich die Analyse eschatologischen Gedankenguts auf die bei Petrus Lombardus und in der scholastischen Theologie behandelten Eschata beschränken sollte, da einige wichtige eschatologische Themen wie der Antichrist, der Endkaiser, die Vorzeichen der Endzeit und das tausendjährige Reich Christi auf Erden in der systematischen Theologie keine (nennenswerte) Rolle spielen (siehe WICKI 1999a, Sp. 5f).7 Deshalb ist es notwendig, auch diese Themen in die Analyse einzubeziehen. Somit ist zusammenzufassen, dass in der vorliegenden Arbeit der Begriff Eschatologie auf die Gesamtheit aller christlichen Vorstellungen des Endes, das heißt sowohl auf das individuelle Schicksal der Seele nach dem Tod, als auch auf das kollektive Ende der Welt beim Jüngsten Gericht und die damit verbundenen Themengebiete bezogen wird.8

Eine sich auf die Behandlung der wichtigsten Themen der individuellen und der universalen Eschatologie beschränkende Analyse läuft jedoch Gefahr, einer wichtigen Facette mittelalterlichen Endzeitdenkens nicht genügend Aufmerksamkeit zu widmen – der Apokalyptik. Verschiedene mediävistische Studien haben die Wichtigkeit apokalyptischen

5 Viele scholastische Theologen schrieben Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, wie zum Beispiel Bonaventura oder Thomas von Aquin. Laut BYNUM (1990, S. 53) hatte die Eschatologie in der scholastischen Theologie einen etwas unkomfortablen Platz, weil deren Behandlung an letzter Stelle bei Petrus Lombardus dazu führte, dass einige der Kommentare zu den Sentenzen die Eschatologie nicht erreichten. Im Verlauf des Mittelalters gewannen die Doktrinen des Fegefeuers und der visio beatifica, das heißt des Zustands der Seele in der Zeit zwischen dem Tod und dem Jüngsten Gericht, im Vergleich zur körperlichen Wiederauferstehung in universitären Behandlungen der Eschatologie an Bedeutung (ebd.). Für eine ausführliche Inhaltsangabe der Sentenzen siehe ebd., S. 54f, vgl. BALTZER 1902, S. 159-164.

6 So auch in HAAS (1989, S. 321), dort als „individuelle und allgemeine Eschatologie (Tod – Gericht)“.

7 Die fehlende Behandlung einiger dieser Themen ist wahrscheinlich auf die Abhängigkeit der Kommentare von den Sentenzen des Petrus Lombardus zurückzuführen, der laut BALTZER (1902, S. 163) Themen überging, die in der Patristik als Bestandteile der Eschatologie eingebürgert waren: „Manches, was z. B. H[ieronymus] hier behandelt, Endzeit, Antichrist, übergeht er ganz. Es ist schon ein Fehler, dass er mit dem jüngsten gericht beginnt. So wirft er die Beschreibung des Zwischen- und Endzustandes fortwährend durcheinander. Eine bestimmte dogmatische Formulierung war meist noch nicht vorhanden und L[ombardus] ist nicht der Mann, sie zu schaffen.“

8 In dieser Arbeit steht das eschatologische Denken im lateinischen Westen im Vordergrund. Soweit Vorstellungen der byzantinischen Ostkirche relevant sind, werden sie gesondert behandelt.

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Denkens und apokalyptischer Prophezeiungen im Mittelalter erwiesen.9 Deshalb wird im folgenden Abschnitt diesem Aspekt, vor allem seiner Abgrenzung vom allgemeineren Begriff

‚Eschatologie‘, Rechnung getragen.

Im Dokument Im Diesseits das Jenseits bereiten (Seite 52-56)