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2 Wissenschaftliche Ausgangslage: Methoden, Theorien und Befunde

2.2 Die kognitive Neurowissenschaft sozialen Erlebens

2.2.2 Die Interpretation sozialer Stimuli

Nachdem soziale Reize wahrgenommen werden, sind sie der individuellen Interpretation zugänglich. Zahlreiche Studien widmen sich den neuronalen Grundlagen eines Verständnisses der physischen oder psychischen Zustände des Gegenübers. Laut der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung ist anzunehmen, dass es mindestens drei Hauptsysteme gibt, die dazu beitragen, dass Menschen andere Individuen verstehen können (Singer, 2006): Die Fähigkeit, Absichten und Handlungsziele aus Bewegungen abzuleiten (System der Spiegelneurone, s.u.), die Fähigkeit, sich die Überzeugungen und Gedanken anderer Menschen zu erschließen (Theory of Mind, kurz ToM; s.u.) und die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen (Empathie, s.u.).

Im tatsächlichen Erleben des Menschen gehen ToM und Empathie oft eng miteinander einher, aber Studienergebnisse an Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens legen nahe, dass dies tatsächlich zwei distinkte Fähigkeiten sind, die auf unterschiedlichen neuronalen Kreisläufen aufbauen: So zeigen Patienten mit autistischen Störungen oft Defizite in der kognitiven Perspektivenübernahme (Amaral, Schumann &

Nordahl, 2008; Sodian, 2007), während Psychopathen sehr gut darin sind, die Absichten Anderer zu erkennen und dementsprechend das Verhalten Anderer zu manipulieren (Yang

& Raine, 2008). Auf der anderen Seite fehlt es den Psychopathen - und nicht den Autisten - an Empathie, was ein Grund für ihr antisoziales Verhalten sein könnte (Singer, 2009).

2.2.2.1 Spiegelneurone

Eine Richtung neurowissenschaftlicher Forschung beschäftigt sich mit der Fähigkeit, die Absichten und Ziele anderer Menschen dadurch zu verstehen, indem ihre Handlungen beobachtet werden. Hier spielt die folgende Entdeckung eine große Rolle:

Neurone im prämotorischen Cortex von Makaken-Affen feuern sowohl dann, wenn der Affe eine Handbewegung selbst ausführt, als auch dann, wenn er beobachtet, wie ein anderer Affe oder Mensch dieselbe Handbewegung macht (Gallese, Fadiga, Fogassi &

Rizzolatti, 1996; Rizzolatti, Fadiga, Gallese & Fogassi, 1996). Diese von den Autoren mirror neurons (deutsch: Spiegelneurone) getauften Cortexareale waren der erste Hinweis auf einen Hirnmechanismus, der beides - die ´innere Welt´ des Individuums aber auch die

´innere Welt´ des Gegenübers - repräsentiert (Rizzolatti & Craighero, 2004).

Seit der Entdeckung der Spiegelneurone haben auch verschiedene bildgebende Studien an Menschen eine ähnliche Verbindung zwischen der Wahrnehmung und Ausführung von motorischen Handlungen nachgewiesen (Grezes & Decety, 2001).

Während manche Autoren daraufhin den Spiegelneuronen eine allgemeine Funktion in der sozialen Kognition - also über die Wahrnehmung von Bewegungsabsichten des Anderen hinaus - zuschrieben (Gallese, Keysers & Rizzolatti, 2004; Iacoboni, Molnar-Szakacs, Gallese, Buccino, Mazziotta & Rizzolatti, 2005), nehmen andere an, dass diese umfassende Interpretation der Daten zu weit geht. Danach helfen Spiegelneurone zwar einfache und beobachtbare Handlungsziele zu entschlüsseln, jedoch nicht, abstrakte Überzeugungen Anderer abzuleiten, wie das bei Theory of Mind (s.u.) der Fall ist (Saxe, 2005).

2.2.2.2 Neuronale Grundlagen von ´Theory of Mind´

Theory of Mind (ToM) beschreibt die Fähigkeit, richtige Einschätzungen der Überzeugungen, Absichten und Wünsche anderer Menschen zu treffen - es handelt sich also um die Repräsentation der mentalen Zustände einer anderen Person, oft als Mentalisieren oder kognitive Perspektivenübernahme, umgangssprachlich auch als Gedankenlesen bezeichnet (Förstl, 2007). In den 80er Jahren wuchs das Interesse von Entwicklungspsychologen daran, ab welchem Stadium der Kindheitsentwicklung sich ToM-Fertigkeiten einstellen (Sodian, 2007). Eine klassische Aufgabe zur Prüfung von ToM ist die false-belief-task (Wimmer & Perner, 1983). In dieser Aufgabe wird sinngemäß die folgende Geschichte erzählt:

Maxi hat Schokolade. Sie legt diese in den blauen Schrank. Maxi verlässt den Raum. Dann kommt ihr Vater herein und nimmt die Schokolade aus dem blauen Schrank. Er legt sie in den grünen Schrank. Maxi kommt zurück, um die Schokolade zu holen. Wo wird Maxi nach der Schokolade suchen?

Ein Kind, dass angibt, dass Maxi im blauen Schrank suchen wird, hat begriffen, dass Maxi dies aufgrund einer falschen Überzeugung macht. Eine große Anzahl von Studien, die diese oder abgewandelte Formen der Geschichte einsetzten, kommen zu dem Schluss, dass Kinder gewöhnlich erst ab einem Alter von vier Jahren in der Lage sind, falsche Überzeugungen zuzuschreiben (U. Frith & Frith, 2003). Mit fünf Jahren sind 90%

aller Kinder dazu in der Lage, mit sechs Jahren alle Kinder. Autistische Kinder hingegen haben in diesen Alterstufen sehr große Schwierigkeiten mit dem Mentalisieren.

Bildgebungsstudien, die ToM an Erwachsenen untersuchen, verwenden verschiedene Paradigmen. In einer frühen Studie mit Positronen-Emissions-Tomographie (PET) spielen die Probanden eine Version des Kinderspieles Schere-Stein-Papier abwechselnd mit einem menschlichen Mitspieler oder mit dem Computer (Gallagher, Jack, Roepstorff & Frith, 2002). Beim Vergleich beider Spielbedingungen zeigt sich, dass der mediale präfrontale Cortex (MPFC; Abbildung 6), beim Spiel gegen Menschen, denen eine absichtsvolle Strategie unterstellt wird, mehr aktiv ist.

Abbildung 6. Dorsaler anteriorer cingulärer Cortex und medialer präfrontaler Cortex (Abbildung erstellt nach Singer 2009 und Mansouri et al. 2009).

In anderen Studien werden den Probanden im fMRT-Scanner Geschichten erzählt - entweder anhand von Texten, bewegten Formen oder Cartoons - und die Versuchspersonen müssen sich die Absichten, Überzeugungen und Wünsche der Protagonisten in den Geschichten erschließen (Amodio & Frith, 2006; Fletcher, Happe, Frith, Baker, Dolan, Frackowiak & Frith, 1995; Gallagher & Frith, 2003). Solche Studien zeigen übereinstimmend, dass bei der Bearbeitung von ToM-Aufgaben ein Netzwerk aktiviert wird (siehe Abbildungen 5 und 6), das aus dem posterioren superioren temporalen Sulcus (pSTS) und dessen Ausdehnung in die temporoparietale Verbindung (engl.: temporoparietal junction, kurz TPJ), dem MPFC und manchmal auch dem temporalen Pol besteht (C.D. Frith & Frith, 2006; Meyer-Lindenberg, 2007; Mitchell, Mason, Macrae & Banaji, 2006; Newen & Vogeley, 2007).

Zu den speziellen Funktionen dieser Areale werden unterschiedliche Hypothesen vorgeschlagen. So könnte der MPFC - welcher Repräsentationen der angemessenen

Lösungen sozialer Aufgaben liefert - eine top-down Kontrolle über den pSTS - welcher mit der Analyse basaler sozialer Signale beschäftigt ist - ausüben (C.D. Frith & Frith, 2006). Das würde bedeuten, dass Aktivität im pSTS sich eher auf die Eigenschaften des Stimulusmaterials bezieht und Aktivität im MPFC eher mit den Bewertungen der Versuchspersonen in Zusammenhang steht.

Dagegen schlägt Rebecca Saxe vor (Saxe, 2006; Saxe & Powell, 2006), dass sich allgemeine und grundlegende Konzepte sozialer Kognition vermutlich ontologisch eher entwickeln und auf Funktionen des MPFC beruhen, während abstrakte Konzepte (wie Überzeugungen) erst später in der individuellen Entwicklung auftreten und mit Aktivierungen der TPJ und des pSTS assoziiert sind. Für diese Interpretation würde sprechen, dass bei der Bearbeitung von ToM-Aufgaben die Aktivierung des pSTS bei Erwachsenen stärker ausgeprägt ist als bei Adoleszenten (Blakemore, den Ouden, Choudhury & Frith, 2007).

Die Spezifizierung der genauen Beiträge der einzelnen Regionen ist gegenwärtig Gegenstand intensiver Forschung und Debatte. In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, hierzu einen Beitrag zu leisten.

2.2.2.3 Neuronale Grundlagen von Empathie

Nach der Definition von de Vignemont und Singer liegt Empathie dann vor, wenn ein Mensch (a) sich in einem Gefühlszustand befindet, der (b) mit dem Gefühlszustand einer anderen Person übereinstimmt und (c) durch die Beobachtung oder die Vorstellung des Gefühlszustandes der anderen Person erzeugt wurde (de Vignemont & Singer, 2006).

Ein weiteres Kriterium ist, dass der betreffende Mensch weiß, dass seine Empathie durch den Gefühlszustand der anderen Person hervorgerufen wurde. Punkt (a) grenzt Empathie generell von der oben beschriebenen ToM ab, d.h. eine mentalisierende Person muss nicht zwingend auch emotional involviert sein.

Die neuronale Grundlage der Fähigkeit des Menschen, die Stimmungen und Gefühle von anderen Menschen zu verstehen, wurde mittlerweile ausführlich untersucht (Decety & Lamm, 2006). Dabei zeigt sich, ähnlich wie bei dem oben beschriebenen Spiegelneuronen-System für motorische Handlungen, dass die Hirnregion der anterioren Insula (Abbildung 7) - ein wichtiger Teil des Systems interozeptiver Wahrnehmung (Craig, 2009; Critchley, Wiens, Rotshtein, Ohman & Dolan, 2004) - sowohl aktiviert ist, wenn eine Person selbst ekelerregenden Geruch oder Geschmack wahrnimmt als auch

wenn sie jemand anderen dabei beobachtet, wie er einen angeekelten Gesichtausdruck während solcher Wahrnehmungen zeigt (Jabbi, Swart & Keysers, 2007; Wicker, Keysers, Plailly, Royet, Gallese & Rizzolatti, 2003).

Andere Studien zum Thema Empathie nutzen Schmerzstimulationen in ihren Forschungsparadigmen. So rekrutierten Forscher zum Beispiel Paare und erhoben die Hirnaktivität des weiblichen Partners, während schmerzvolle Stimulationen entweder dieser Versuchsperson selbst verabreicht wurden oder die Frauen per Video zusahen, wie ihr Partner die Schmerzapplikation erhält (Singer, Seymour, O'Doherty, Kaube, Dolan &

Frith, 2004).

Die Befunde zeigen, dass einige Teile der sogenannten Schmerz-Matrix (Craig, 2003) - also Hirnregionen, die an der Verarbeitung von Schmerz beteiligt sind - in beiden Situationen aktiv werden. Diese Regionen sind die bilaterale anteriore Insula (AI), der anteriore cinguläre Cortex (ACC) (Abbildungen 7 und 6), der Hirnstamm und das Kleinhirn. Besonders AI (Singer, Critchley & Preuschoff, 2009) und ACC scheinen daran beteiligt zu sein, die emotionale Komponente des Schmerzes zu verarbeiten - sie kodieren offensichtlich, wie unwohl sich die Versuchsperson bei der Schmerzempfindung fühlt, damit diese Information zur Handlungsteuerung eingesetzt werden kann. Dieses Netzwerk wird ebenso aktiviert, wenn Versuchspersonen sehen, wie einer ihnen unbekannten aber sympathischen Person Schmerz zugefügt wird (Singer, Seymour, O'Doherty, Stephan, Dolan & Frith, 2006), wenn Versuchspersonen sich Videos mit Körperteilen in schmerzhaften Stellungen ansehen (Jackson, Meltzoff & Decety, 2005), wenn sie schmerzverzerrte Gesichtsausdrücke erblicken (Lamm, Fischer & Decety, 2007; Lamm, Porges, Cadoppo & Decety, 2008) oder Hände, die mit Nadeln gestochen werden (Morrison & Downing, 2007).

Aus den zahlreichen Befunden, dass überlappende neuronale Schaltkreise die eigenen Wahrnehmungen und beobachtete Gefühlszustände kodieren, lässt sich schließen, dass das Gehirn die Repräsentationen der eigenen Empfindungen nutzt, um Vorgänge, die andere Personen gerade bewegen, zu erschließen - was den Kern von Empathie darstellt (Singer, 2009). Durch Empathie - die affektive Verbindung zwischen dem Selbst und den Anderen - wird es möglich, Informationen über zukünftige Handlungen von anderen Menschen aus dem Gesehenen abzuleiten. So entsteht effektive soziale Kommunikation und die Neigung zu kooperativem und prosozialen Verhalten wächst (Batson, 1991; de Vignemont & Singer, 2006).

Abbildung 7. Insula und, als Teil davon, die anteriore Insula (Abbildung erstellt nach Craig, 2009).