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3. Theorie

3.3 Internationalisierung und nationale Bindung des Kapitals

Die Expansion über nationale Grenzen hinweg liegt in der grundlegenden Logik des Kapitals begründet. Die Akkumulation des Kapitals ist ihrem Wesen nach schrankenlos, sie kennt weder einen Endpunkt, noch Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die ihr aus Prinzip verschlossen bleiben. Dasselbe gilt auch in geografischer Hinsicht. Die internationale Expansion des Kapitals in Form grenzüberschreitendenden Handels und Investitionen hat mit der Entwicklung des Ka-pitalismus immer weiter zugenommen. Umstritten ist dabei vor allem die Frage, ob und inwie-fern das Kapital dabei auch seine Bindung an sein Herkunftsland abgelegt oder zumindest ab-geschwächt hat.

William I. Robinson geht beispielsweise von einer sehr weitgehenden Auflösung des natio-nalen Charakters des Kapitals aus. Dem zufolge hat sich ein wahrhaft transnationales Kapital herausgebildet, indem jedes Land in ein globales Produktions- und Finanzsystem integriert wurde und eine transnationale Kapitalistenklasse entstanden ist, die sich nicht mehr primär auf nationale Märkte und Akkumulationskreisläufe stützt, sondern auf globale. Gleichzeitig seien transnationale Staatsapparate oberhalb der Nationalstaaten entstanden. Robinson behauptet

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zwar keine Auflösung des Nationalstaats, aber er sieht das System der Nationalstaaten als ab-getrennte interagierende Einheiten nicht mehr als das organisierende Prinzip der kapitalisti-schen Entwicklung (Robinson 2007, 7f). Selbst der Nationalstaat der USA vertrete nicht mehr die Interessen des US-amerikanischen Kapitals, sondern verfolge global, auch mit militärischen Mitteln, das Ziel der Schaffung möglichst günstiger Bedingungen für die Vorherrschaft der transnationalen kapitalistischen Interessen (Robinson 2007, 19f). Eine ähnliche Position wird auch von Sklair vertreten: Demnach gibt es eine transnationale Kapitalistenklasse, die global vernetzt ist und deren Mitglieder sich zunehmend als Weltbürger verstehen, die durch einen ähnlichen Lebensstil, Bildungsweg und Konsummuster geprägt sind (Sklair 1997, 522).

Autoren der „Amsterdamer Schule“ (s.u.) vertreten eine zurückhaltendere Variante dieser These, wonach sich durch die Entstehung gemeinsamer Sichtweisen in den weltweiten Ge-schäftseliten eine transnationale Klasse herausbilde (van der Pijl/Yurchenko 2014, 16). Die Herausbildung dieser transnationalen Kapitalistenklasse wird ökonomisch vor allem auf die starke Zunahme von ausländischen Direktinvestitionen, auch relativ zum globalen BIP, und die Liberalisierung des Welthandels zurückgeführt. Politisch wird sie an gemeinsamem strategi-schem Handeln der europäischen Großkonzerne festgemacht, wie beispielsweise der Rolle des European Roundtable of Industrialists bei der Initiierung des EG-Binnenmarktes (van Apel-doorn 2002, 58; 115ff). Als wesentlicher Indikator für die Herausbildung einer transnationalen Kapitalistenklasse in Europa werden die Netzwerke aus personellen Verflechtungen der Auf-sichtsräte zwischen den größten europäischen (und nordatlantischen) Konzernen herangezogen.

Dabei wird konstatiert, dass die Netzwerke zwischen Konzernen derselben Nationalität tenden-ziell ausgedünnt werden, während die transnationalen Verbindungen im Vergleich dazu an Be-deutung gewinnen (Heemskerk 2013, 81; 85). Dennoch werden die nationalen Netzwerke wei-terhin als die vorherrschenden gesehen und auch die transnationalen Netzwerke sind keines-wegs global, sondern unterliegen einer starken regionalen Clusterbildung. Es gebe international aufgrund der Reformen der corporate governance in Richtung „schlankerer“ Vorstände eine Ausdünnung des Netzwerkes, die aber bisher zu keiner Auflösung des europäischen Netzwerks geführt habe (Carroll et al. 2010, 831ff; Carroll 2013, 175f).

An der Argumentation dieser Arbeiten ist problematisch, dass sie von der Herausbildung eines personellen Netzwerks zwischen den Aufsichtsräten auf die Herausbildung einer wirkli-chen transnationalen Klasse schließen. Eine Klasse ist jedoch weit mehr als ein solches Netz-werk, auch wenn es sicherlich überzeugend ist, dass sich über die transnationalen

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Netzwerkverbindungen Werte und Diskurse verbreiten und aneinander angleichen können.

Eine transnationale Kapitalistenklasse würde aber voraussetzen, dass der entscheidende insti-tutionelle und ökonomische Rahmen, in dem die Eigentumsverhältnisse und Akkumulations-bedingungen reproduziert werden, nicht mehr national sondern transnational (also z.B. die EU oder Eurozone) wäre. Es würde zudem bedeuten, dass das Kapital nicht mehr vor allem national strategisch die Politik mitbestimmt, sondern auf transnationaler Ebene. Diese Voraussetzungen sind allerdings weder in Europa, noch sonst irgendwo gegeben und es ist auch fraglich, ob eine transnationale Kapitalistenklasse in diesem Sinne je entstehen wird.

Dieser Arbeit liegt die Einschätzung zugrunde, dass von einer wirklichen Transnationalisie-rung des Kapitals im Sinne der Auflösung nationalen Bindungen bisher nicht die Rede sein kann. Vieles spricht dafür, dass der Nationalstaat immer noch der entscheidende politische Be-zugs- und Handlungsrahmen des Kapitals ist. Die Kategorie des Transnationalen Konzerns (TNK) beschreibt lediglich einen Konzern, der grenzüberschreitende Direktinvestitionen tätigt.

Über die Stärke oder Schwäche der Bindungen zum Ursprungsland ist damit noch keine Aus-sage getroffen. Tatsächlich hängen die TNKs jedoch in der Regel stark mit dem Nationalstaat zusammen, aus dem sie kommen. Ihre Entwicklung ist durch national spezifische Faktoren wie dem Währungskurs und Wechselkursrisiken, Preiskontrollen, dem Kreditsystem, der Gesetzes-lage, dem Konjunkturverlauf usw. bestimmt. Das Rating eines Konzerns durch die Ratingagen-turen ist faktisch stark von der ökonomischen Situation des Heimatlandes und dessen Rating bestimmt. Auch wenn durch die Internationalisierung des Austausches der nationale Binnen-markt des Herkunftslandes bei den großen Konzernen an Bedeutung eingebüßt hat, spielt er immer noch eine erhebliche Rolle. So tätigten die 100 größten TNKs 2011 durchschnittlich immer noch 35% der Verkäufe auf ihrem Heimatmarkt (Serfati 2013, 147). Im Heimatland sind die TNKs in ein Geflecht von kommerziellen und anderen Beziehungen eingebunden, das auf genauer Kenntnis der kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen beruht und es für ausländische Firmen schwieriger macht, Fuß zu fassen (Serfati 2006, 82).

Das Management ist weiterhin nicht in entscheidendem Maße national diversifiziert, da diese Diversität zusätzliche Kosten verursacht und weil die ökonomischen Eliten sich auch über nationale Bildungsinstitutionen reproduzieren. Soziale und kulturelle Fähigkeiten und Stärken, die für den persönlichen Aufstieg genutzt werden können, sind zu einem großen Teil national spezifisch (Serfati 2013, 149). Eine Untersuchung der nationalen Bindung des Managements der multinationalen Konzerne kommt zu dem Ergebnis, dass nur jeder zwanzigste

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Spitzenmanager aus dem Ausland kommt und nur jeder siebte überhaupt länger als zwei Jahre seiner Laufbahn im Ausland verbracht habe (Hartmann 2009, 299). „Der entscheidende Grund für das geringe Ausmaß an Inter- und Transnationalität ist die ungebrochene Dominanz traditi-oneller nationaler Karrieremuster“, die gerade in Frankreich aufgrund der hohen Bedeutung von Elite-Hochschulen und enger Verflechtungen zwischen wirtschaftlichen und Staatseliten besonders ausgeprägt sind (ebd., 300). Die Schlussfolgerung: „Das Spitzenmanagement der führenden multinationalen Konzerne ist weder inter- noch transnational.“ (ebd., 299).

Wichtig für die Feststellung des „nationalen Charakters“ eines Unternehmens sind vor allem auch die Eigentümerstrukturen. Hier gab es in vielen Ländern eine Verschiebung hin zu mehr ausländischen Investoren. So stieg bei 22 der größten deutschen Unternehmen der Anteil aus-ländischer Anleger von 45% im Jahr 2005 auf 57% 2017. Bei den DAX-Unternehmen insge-samt lag der ausländische Anteil Ende 2017 bei mindestens 53,7%, wobei allerdings weitere 10,5% nicht eindeutig zugeordnet werden konnten (FAZ 25.4.2018). Diese und ähnliche Daten werden oft angeführt, um die These zu begründen, dass die nationale Verankerung der Eigen-tümerstrukturen der Konzerne sich verringert habe oder dass das Konzept der „Nationalität“

eines Unternehmens grundsätzlich nicht mehr sinnvoll sei.

Dies beruht jedoch auf einer fragwürdigen Interpretation der Daten über die Internationali-sierung der Eigentümerstruktur. Aus demselben Bericht geht hervor, dass durchschnittlich 63%

der Aktien der DAX-Unternehmen institutionellen Anlegern wie Versicherungen, Investment-fonds und Investmentbanken gehören (FAZ 25.4.2018). Seit den 1980er Jahren hat die Bedeu-tung dieser Akteure als Anleger auf den Finanzmärkten stark zugenommen. Ihre Anlegestrate-gien sind allerdings in aller Regel nicht auf langfristige Kontrolle und bestimmenden Einfluss auf die Geschäftsstrategie der Unternehmen ausgerichtet, sondern auf Spekulationsgewinne o-der die kurzfristige Maximierung von Renditen (Lazonick/O’Sullivan 2000). Die Anlagen ha-ben dementsprechend kurzfristigen Charakter, sie können also innerhalb kurzer Zeiträume wie-der umgeschichtet werden. Die durchschnittliche Dauer des Aktienbesitzes ist dementspre-chend in den letzten Jahrzehnten dramatisch gefallen: Von 9,7 Jahren 1980, was Ausdruck lang-fristig angelegter Strategien war, auf nur noch 1,6 Jahre 1990 und drei Monate im Jahr 2008.

Umgekehrt ausgedrückt: Die Umschlagshäufigkeit der Aktien wuchs von 0,1 Mal im Jahr 1980 auf 3,5 Mal 2008, also um den Faktor 35. Das Volumen der weltweiten Aktienumsätze erhöhte sich von 300 Mrd. US$ 1980 auf 114 Bio. US$ 2008, also um den Faktor 380, während der Aktienbestand in derselben Zeit nur um den Faktor 11 stieg (Goldberg/Leisewitz 2013, 174).

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Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für Frankreich: Die ausländischen Finanzinvestoren haben in Frankreich von den Unternehmen des Börsenindex CAC40 jeweils individuell nur kleine Anteile der Unternehmen, oft unter 0,5% übernommen, die zusammengenommen aber ein be-deutendes ökonomisches Gewicht haben. Institutionelle Investoren verfolgen dabei in der Regel eine passive finanzielle Strategie, die auf den Cashflow, nicht aber langfristige Kontrolle aus-gerichtet ist (Dietsch 2006, 57). Auch für die transnationalen personellen Verflechtungen der Aufsichtsräte gilt, dass diese keine strategische Kontrolle des Unternehmens ermöglichen und dies auch nicht angestrebt wird (Carroll 2013, 178).

Ausländische Übernahmen von Unternehmen wurden in der Vergangenheit durch zahlreiche Barrieren erschwert. Auch nach der Marktliberalisierung, die von der WTO gefördert wurde, wird oft das Argument der nationalen Sicherheit vorgebracht, um den nationalen Charakter von Unternehmen in strategisch wichtigen Branchen wie Energie, rüstungsrelevanten Bereichen o-der Infrastruktur zu bewahren (Serfati 2006, 84f). Der Staat ist somit oft selbst ein Faktor, o-der einer Lösung des Kapitals von seinen nationalen Bindungen entgegenwirkt. So beinhaltet die

„Nationale Industriestrategie 2030“ in Deutschland auch explizit die Möglichkeit, feindliche Übernahmen von Unternehmen durch staatliche Beteiligungen zu verhindern und mit Staats-hilfe „nationale wie europäische“ Champions zu schaffen, um der US-amerikanischen und asi-atischen Konkurrenz entgegentreten zu können (Wirtschaftswoche 5.2.2019).

Goldberg und Leisewitz kommen zu der Schlussfolgerung:

„Dass Finanzakteure wie Blackrock oder Blackstone zu einem bestimmten Zeitpunkt Mitei-gentümer der Deutschen Bank und anderer deutscher Unternehmen waren bzw. sind, d.h. dort Aktienanteile halten, heißt für sich allein genommen also noch nicht viel: Sie interessiert der

‚shareholder value‘, die Rendite, was nur heißt, dass die Bank eine entsprechende Geschäfts-politik betreiben soll, also Rendite bringen muss. Dadurch allein wird die Deutsche Bank noch lange nicht zu einem angelsächsisch dominierten Unternehmen“ (Goldberg/Leisewitz 2013, 175)

Entscheidend ist demgegenüber die Verbindungen des Kapitals zur nationalstaatlichen Poli-tik und die Verflechtung mit dem politischen und wirtschaftlichen Milieu eines bestimmten Landes (Crome 2013, 197). Dafür wiederum ist wichtig, wo ein Unternehmen seine zentralen Funktionen lokalisiert hat, in denen ein Großteil der Wertschöpfung stattfindet und angeeignet wird, selbst wenn im Extremfall dort gar keine Produktion im herkömmlichen Sinne mehr

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stattfindet. Der Standort für Forschung, Entwicklung, Marketing usw., aber auch der Sitz des Managements hängen weiterhin bei den meisten Konzernen von der Herkunft der Firma ab (Serfati 2006, 82).

Es ist also durchaus möglich, dass die Aktien eines Unternehmens mehrheitlich in ausländi-scher Hand sind, aber dennoch die strategischen Entscheidungen des Unternehmens aus einem Kreis getroffen werden, der im Milieu der nationalen politischen und ökonomischen Eliten des Herkunftslandes verwurzelt ist (Goldberg/Leisewitz 2013, 177). Hinzu kommt, dass sich die Kategorie der ausländischen Investoren natürlich in Wirklichkeit auf verschiedene Länder ver-teilt, sodass relativ gesehen der Block der Anleger des Herkunftslandes weiterhin der größte bleibt. Innerhalb dieses Blocks sind es besonders in Deutschland oft Familiendynastien, die als Ankeraktionäre einerseits nach langfristiger Kontrolle streben, während sie über den Börsen-gang gleichzeitig das Kapital des Unternehmens erhöhen wollen.

Schließlich sollte auch nicht vergessen werden, dass die Internationalisierung des Eigentums nur für eine kleine Minderheit der großen Konzerne gilt, nicht aber die Masse der kleinen und mittleren Unternehmen.

In diesem Sinne ist es auch weiterhin sinnvoll, von „deutschen“, „französischen“, „japani-schen“ oder „briti„japani-schen“ Konzernen zu sprechen. Das ist eine wichtige Annahme für diese Ar-beit. Die These einer alle nationalen Unterschiede nivellierenden Globalisierung und De-Terri-torialisierung der Wirtschaft führt dazu, dass die Brüche und Widersprüche innerhalb der immer noch weitgehend national verfassten Kapitalistenklassen aus dem Blickfeld geraten. Denn für deren Zustandekommen sind spezifische nationale Bedingungen wie die Einbindung in den in-ternationalen Handel, die internationale Vermögensposition eines Landes, die Form und Größe des Finanzsystems, die Rolle des Staates, die innere Schichtung zwischen großen, kleinen und mittleren Unternehmen usw. entscheidend. Eine der wichtigsten Fraktionierungslinien ist zu-dem nach wie vor die nationale Trennlinie selbst. Wie anhand der Positionierungen des deut-schen und französideut-schen Kapitals in Bezug auf das Management der Krise zu zeigen sein wird, sind hier nationale Unterschiede sehr relevant. Zu wichtigen Streitpunkten äußerten sich die dominierenden Kapitalfraktionen jeweils in demselben Sinne wie ihre nationalen Regierungen.

Die Krisendynamik in der Eurozone hat entlang nationaler Grenzen alte strategische Konflikte, z.B. über die Institutionalisierung innereuropäischer Transfers, wieder deutlich zutage treten lassen und neue hervorgebracht. Wer den Nationalstaat als den Rahmen, in dem sich gesell-schaftliche Kräfteverhältnisse kristallisieren und politische Entscheidungen zustande kommen,

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ausblendet, ist daher methodisch außerstande, die gesellschaftliche Einbettung der Politik zu untersuchen.

3.4 Die Formierung des Kapitals zum politischen Subjekt: Kapitalfraktionen und