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4. Deutsch-französische Beziehungen und europäische Integration

4.5 Deutschland, Frankeich und die EU seit der Jahrtausendwende

Die Einführung des Euro als gemeinsamer Währung in den Jahren 1999-2002 veränderte ein weiteres Mal grundlegende Parameter des europäischen Regionalprojekts. Nicht nur beteiligte sich ein signifikanter Teil der EU-Mitglieder daran nicht, sodass ein Zustand abgestufter In-tegration entstand. Mit der Aufgabe der geldpolitischen Souveränität durch die nationalen Zent-ralbanken wurde zudem ein wichtiges Politikfeld weitestgehend supranationalisiert, wenn-gleich auch die Nationalstaaten weiterhin Feld der Auseinandersetzung um die Geldpolitik blie-ben. Es sollte sich erweisen, dass die damit verbundenen Hoffnungen auf eine symmetrischere Entwicklung der europäischen Volkswirtschaften sich auf Dauer nicht erfüllen würden. Zwar

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stellte sich, nachdem bereits in den ersten zwei Stufen der WWU durch nationale Austeritäts-programme auf Kosten breiter Schichten der Lohnabhängigen die Inflationsraten der meisten Länder erfolgreich nach unten gedrückt worden waren, mit dem Euro eine Konvergenz der Inflation (WKO 2016; Lapavitsas 2012, 15) und vor allem der Refinanzierungsbedingungen der öffentlichen Haushalte ein. Jedoch wurden die divergierenden und strukturell asymmetri-schen Strukturen von Produktion und Verteilung zwiasymmetri-schen den ehemaligen Hartwährungs- und Überschussländern einerseits und den Weichwährungs- und Defizitländern andererseits eher noch verfestigt. Die Deindustrialisierung und Auflösung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Südeuropa, die bereits seit den 1980er Jahren stattfand, wurde durch den Euro weiter be-schleunigt. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen fiel mit der Gemein-schaftswährung der Ausgleichsmechanismus kompetitiver Abwertungen weg, durch den die südlichen Volkswirtschaften, aber auch Frankreich immer wieder ihren Rückstand gegenüber Ländern wie der BRD teilweise kompensieren konnten. Zum anderen konnte die neu geschaf-fene EZB nun nur noch eine Geldpolitik für die gesamte Eurozone entwickeln, die sich an Durchschnittswerten orientierte, und damit die abweichenden geldpolitischen Erfordernisse von Ländern mit unterschiedlichen Preis- und Lohnentwicklungen nicht mehr berücksichtigen (Lapavitsas 2012; Johnston/Regan 2014).

Die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion kann als Teil eines umfassenderen Pro-zesses zur Integration der europäischen Finanzmärkte und damit einhergehend zur Transforma-tion des Kapitalismus in Europa betrachtet werden. Die europäische FinanzmarktintegraTransforma-tion war Ergebnis von diversen Initiativen seit den 1980er Jahren: dem White Paper of the Single European Market von 1985, der vorübergehenden Schaffung der Computerbörse EASDAQ, dem Financial Services Action Plan, der Lissabon-Strategie von 2000, dem Lamfalussy-Report und der Wirtschafts- und Währungsunion selbst (Bieling 2003, 209-214). Im Ergebnis entstand ein deutlich stärker transnational integriertes und in höherem Maße kapitalmarktbasiertes Fi-nanzsystem, das von der Mehrzahl der bestimmenden Akteure als effektiver gesehen wurde als die herkömmlichen, teilweise eher kreditbasierten nationalen Systeme. Damit einher ging eine stärkere Orientierung der Unternehmen auf den shareholder value und kurzfristigere Geschäfts-führungsstrategien sowie Druck auf Arbeitskräfte und Regierungen, um unternehmerfreundli-chere Regelungen in Fragen der Regulierung des Arbeitsplatzes, der Rentensysteme, der Steu-ersysteme und Staatsausgaben zu akzeptieren (ebd., 217). Während die Finanzmarktintegration in ihren verschiedenen Facetten anfänglich noch vor allem von der Europäischen Kommission,

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den Regierungen und Zentralbanken vorangetrieben wurde, bildete sich im Verlauf weniger Jahre eine transnationale Akteurskonstellation heraus, die sich auf die privaten Finanzinstitute, aber auch nichtfinanzielle Großunternehmen, ihre transnationalen Lobbyvereinigungen wie AMUE und ERT sowie entsprechend orientierte Netzwerke der Wissens- und Ideologieproduk-tion stützte, aber auch von kleineren Geschäftsleuten und den bessergestellten Teilen der Ar-beiterschaft mitgetragen oder akzeptiert wurde (Bieling 2006, 426ff).

In den ersten Jahren der WWU stimmten die deutschen und französischen Präferenzen in Bezug auf die europäische economic governance somit für einen gewissen Zeitraum überein.

Frankreich nutzte dieses Zeitfenster, um den Stabilitäts- und Wachstumspakt im Sinne seiner traditionellen Vorstellungen zu reformieren. Der französische Premierminister Jean-Pierre Raf-farin sowie Präsident Jacques Chirac setzten sich für eine flexiblere Zielmarke ein, wonach ausgeglichene Haushalte nicht mehr zwangsläufig das unmittelbare Ziel sein sollten und die Länder eher mit mittelfristigen Zielen und einem gewissen haushaltspolitischen Spielraum ar-beiten sollten. 2005 gab es eine Einigung zur Lockerung des Vertrags: Die offizielle Defizit-grenze blieb zwar bestehen, es wurde aber eine Ausnahmeregelung eingeführt, nah der man sie temporär und in einem bestimmten Umfang überschreiten durfte, wenn das Wachstum niedrig war – in diesem Fall hätte man nun bis zu drei Jahren Zeit, um die Defizitgrenze wieder zu unterschreiten. Des Weiteren galt nun ein Defizit nicht mehr als übermäßig, wenn ein bedeu-tender Teil der Staatsausgaben in Investitionen, Forschung- und Entwicklung, Ziele der EU-Politik, Militär und weitere festgelegte Posten geflossen war. Insgesamt wurde entsprechend den französischen Präferenzen der Stabilitäts- und Wachstumspakt damit deutlich gelockert, die Interpretationsspielräume ausgeweitet und die intergouvernementale Dimension gestärkt (Howarth 2007, 1068f). Mit Beginn der Krisenbearbeitung ab 2009/10 würde sich die Richtung der Reformen dann wieder grundlegend ändern.

In diese Zeit fällt auch die seit den 1990er Jahren diskutierte und 2004 schließlich vollzogene Osterweiterung der EU, die der Union zehn weitere Mitgliedsländer hinzufügte. Die Osterwei-terung wurde von vielen Beobachtern als ein Projekt gesehen, das vor allem im deutschen In-teresse war. Deutschland hatte enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu vielen der osteuropäischen Länder, gerade zu den wirtschaftlich bedeutenderen, wie Polen oder der Tsche-chischen Republik, die zudem in der direkten geografischen Nachbarschaft Deutschlands lie-gen. Im Jahr 2000 kamen deutsche Firmen allein für 18% der ausländischen Direktinvestitionen in Osteuropa auf. Kein anderes Land exportierte so viel Kapital in die Region (Kronauer 2015,

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64). In Frankreich war die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen die Erweiterung: Sechs Mo-nate vor dem Beitritt der zehn Staaten lehnten 55% der Franzosen den Schritt ab. Die französi-sche Regierung nahm aus verschiedenen Gründen eine ambivalente und schwankende Haltung ein. Erstens strebte Deutschland als Hauptbeitragszahler des EU-Haushaltes eine Senkung der Ausgaben der EU an, besonders was die kostenintensive Gemeinsame Agrarpolitik anging, de-ren Hauptprofiteur aber wiederum mit 21,6% des GAP-Budgets Frankreich war (Stand 2004).

Zweitens hatten französische Entscheidungsträger zwar zu Beginn der Erweiterungsdebatte ge-hofft, dass die Erweiterung eine Stärkung der EU und damit ein höheres Maß an Unabhängig-keit gegenüber den USA bedeuten würde. Die öffentlichen Kontroversen über den Irakkrieg, an dem Frankreich sich nicht beteiligte, während die meisten osteuropäischen Länder sich als starke Unterstützer der US-Außenpolitik profilierten, führten hier zu einer Verschiebung der Einschätzung: Nun befürchteten die französischen Eliten, dass durch den Beitritt der osteuro-päischen Länder der Einfluss der USA in der EU gestärkt und der Frankreichs marginalisiert würde. Drittens befürchtete man eine politische und ökonomische Dominanz Deutschlands in Osteuropa, bei der Frankreich nicht mithalten können würde. Und viertens schließlich befürch-teten die französischen Eliten, dass eine territoriale Erweiterung im Widerspruch zu einer Ver-tiefung der Integration stehen und diese also zumindest verlangsamen könnte. Dass die franzö-sische Regierung all diesen Gründen zum Trotz schließlich die Osterweiterung unterstützte, lag daran, dass sie grundsätzlich weiterhin ihre Interessen in der EU und dem Euro aufgehoben sah und zudem die deutsche Bundesregierung ein weiteres Mal Zugeständnisse bei der Agrarfinan-zierung machte (Dursun-Ozkanca 2013, 251ff).

Die Wirtschaft Frankreichs war seit jeher viel stärker auf die ehemaligen französischen Ko-lonien in Afrika und die südeuropäischen Mittelmeerländer orientiert. Dass die EU ihre Erwei-terungspolitik auf Osteuropa konzentrierte, war daher nicht im französischen Interesse. Die ver-schiedenen französischen Regierungen versuchten daher, Frankreichs wirtschaftliche Partner ebenfalls enger an die EU zu binden. Im November 1995 wurde auf dem Außenministertreffen in Barcelona ein Prozess zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den EU-Ländern und Nordafrika sowie dem Nahen Osten beschlossen. Dieser Barcelona-Prozess blieb jedoch ohne große Konsequenzen. Nicolas Sarkozy setzte sich in einem zweiten Anlauf nach seiner Wahl 2007 für die Schaffung einer „Mittelmeerunion“ ein, die an den Barcelona-Prozess anknüpfen und ihn fortsetzen sollte. Der ursprüngliche französische Plan, eine Union unter französischer Führung nur mit den Mittelmeerstaaten zu gründen, was Frankreich einen privilegierten Zugang

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zu den Märkten dieser Länder verschafft hätte, konnte sich nicht durchsetzen. Die Mittelmeer-union wurde im Juli 2008 in einer Form beschlossen, in der alle EU-Staaten Mitglieder werden können, sie blieb aber ebenfalls relativ wirkungslos (Kronauer 2015, 65; Schwarzer 2012, 365).

Es wurden zwar verschiedene Projekte lanciert, jedoch verhinderten die Konflikte unter den teilnehmenden Ländern (zwischen der Türkei, Zypern und Griechenland, zwischen Israel und den Palästinensern sowie zwischen einigen arabischen Staaten) eine engere Kooperation.

Insgesamt sah aber trotzdem in den ersten Jahren der 2000er Jahre die Bilanz für die franzö-sische Europapolitik eher positiv aus: Der Euro war Realität geworden, die südeuropäischen Länder waren beteiligt und die Dominanz der DM in der europäischen Währungspolitik gebro-chen. Zudem sahen die auf deutsches Drängen eingeführten stabilitätspolitischen Maßgaben in der Praxis weniger streng aus, als sie vereinbart worden waren.

Auf wirtschaftlichem Gebiet kam es ungeachtet dessen auch vor der großen Krise schon zu einer Divergenz der Entwicklung zwischen der BRD und Frankreich. Die Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Industrie verbesserte sich in dieser Zeit, während die französische zurückfiel.

Während die deutsche Industrie hohe Exportüberschüsse verzeichnen konnte, war die französi-sche Handelsbilanz seit 2003 negativ. 1998 lagen die französifranzösi-schen Exporte noch bei 56% der deutschen, 2010 nur noch bei 40%. Die Wertschöpfung der französischen Industrie lag 2000 noch bei 50% des deutschen Niveaus und war 2010 auf 40% gesunken. Dies drückte sich auch in den Relationen der Sektoren der französischen Wirtschaft zueinander aus. Während trotz des Strukturwandels der Ökonomie in Deutschland die Industrie ihren Anteil am BIP fast behaupten konnte, sank dieser Anteil in Frankreich stark ab (Uterwedde 2013a, 4).

Während viele Autoren (z.B. ebd.) dieses Auseinanderklaffen der wirtschaftlichen Entwick-lung darauf zurückführen, dass in Frankreich „notwendige Reformen“ ausgeblieben wären, die in Deutschland mit den Agenda-2010-Reformen unternommen wurden, liegen die tatsächlichen Ursachen wesentlich tiefer. Wie in den Analysen der „Konstanzer Schule“ gezeigt wurde, ge-hen die Unterschiede zwiscge-hen dem deutscge-hen und französiscge-hen Wachstumsmodell auf lang-fristig voneinander abweichende sektorale Spezialisierungsprofile zurück, die ihren Ursprung bereits in der zweiten industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts haben (Ziebura 1997, 293). In Deutschland war es gelungen, in den damaligen modernen Wachstumsindustrien der Chemie und Elektrotechnik große Produktionskapazitäten aufzubauen. Aufgrund des seit Ende des 19. Jahrhunderts rapide angestiegenen Grads der Konzentration und Zentralisation des Ka-pitals bildeten sich in Deutschland große Konzerne heraus, deren Produktionskapazitäten das

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Volumen des nationalen Binnenmarktes schnell sprengten und die daher auch auf dem Welt-markt operierten und in vielen Bereichen führende Positionen erringen konnten. So war die Internationalisierung, der Waren- und Kapitalexport der deutschen Unternehmen auch damals schon von einer sehr geringeren Zahl großer Konzerne dominiert: 1954 hatten die 50 größten Industriefirmen der BRD einen Anteil von gut 25% am gesamten industriellen Umsatz, 1967 waren es schon 42,5%. Im Finanzsektor hatten unterdessen drei Universalbanken die Vorherr-schaft inne und waren über vielfältige Fäden mit den Industriekonzernen verbunden (Pistor 2002, 111ff). Die Expansion auf dem Weltmarkt beförderte dabei die Konzentrations- und Zent-ralisationsprozesse und diese schufen wiederum verbesserte Bedingungen für die globale Ex-pansion (Deubner et al. 1992, 160f). Diese grundlegende Internationalisierungsdynamik des Kapitalismus war auch der Hintergrund dafür, dass das Kapital überhaupt ein Interesse an einer Wirtschafts- und schließlich Währungsintegration gewinnen konnte. Frankreich lag im Ver-gleich zu Deutschland bei der Industrialisierung Endes des 19. Jahrhunderts weit zurück, sodass sich die französischen Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Herausforderung sahen, eine nachholende Industrialisierung zu bewerkstelligen, wenn Frankreich nicht dauerhaft in Abhän-gigkeit von dem übermächtigen Nachbarstaat geraten sollte. Doch auch wenn die staatlich ge-steuerte Industrialisierungsstrategie in vieler Hinsicht durchaus erfolgreich war, konnte sie das asymmetrische Verhältnis zur BRD nicht aufheben. Zwar konnten einige Spitzenkonzerne auf dem Weltmarkt eine starke Stellung und eine hohe Autonomie gegenüber dem ausländischen Kapital erringen, nicht jedoch die französische Wirtschaft als Ganze (ebd., 164f).

Weiterhin gelang es dem westdeutschen Kapital, seinen Vorsprung in den Bereichen auf-rechtzuerhalten und auszubauen, in denen es auch weltweit führen konnte: Das galt besonders für den Maschinenbau, also die Produktion von Investitionsgütern, die chemische und Elektro-industrie und die AutomobilElektro-industrie. Die besondere Position der BRD in der Produktion hoch-wertiger Investitionsgüter trug zum einen zu der besonderen Kohärenz des Produktionsappara-tes bei, sodass sich um die Produktionsstandorte der großen Industriekonzerne zusammenhän-gende Cluster aus Zulieferern bilden konnten; zum anderen wurde Frankreich abhängig von Importen genau dieser Investitionsgüter, um seine eigenen Industrialisierungsprojekte ausrüs-ten zu können. So betrug der westdeutsche Anteil an den weltweiausrüs-ten Exporausrüs-ten an Maschinen 1970 mit 17,7% fast das Dreifache des entsprechenden französischen Werts (6,6%). Während die Industrieproduktion in der BRD 1974 mit 64% zu einem hohen Anteil aus industriellen Fertigprodukten und zu 29% aus Investitionsgütern bestand, waren die entsprechenden Werte

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für Frankreich 50% und 18%, bei einer ohnehin insgesamt kleineren Industrieproduktion. Die französischen Exporte bestanden zu einem großen Teil aus Agrarprodukten und traditionellen Konsumgütern, während der Anteil an Investitionsgütern und langlebigen Konsumgütern unter dem EWG-Durchschnitt lag (Deubner et al. 1992, 148f). Zwar konnte die französische Industrie in den 1970er Jahren bei den Exporten etwas aufholen, was u.a. an einer Anpassung an inter-nationale technologische Standards lag, die umgekehrt auch den französischen Markt stärker der ausländischen Konkurrenz öffnete und einige Branchen ins Defizit trieb. Die Abhängigkeit von Investitionsgüterimporten aus der BRD blieb weiterhin bestehen (ebd., 151). Das westdeut-sche Kapital expandierte in dieser Zeit über grenzüberschreitende Direktinvestitionen auch er-folgreich in Westeuropa, einschließlich Frankreichs und konnte sich in den modernen Sektoren auch europaweit etablieren. Die französischen Unternehmen investierten in viel geringerem Maße in Westeuropa und konzentrierten sich eher auf die ehemaligen Kolonien der Franc-Zone und dort auf rohstoffbezogene Industrien wie Öl und Buntmetalle. Die BRD spielte für die französischen Direktinvestitionen eher eine nachgeordnete Rolle und in keiner deutschen Bran-che führte der französisBran-che Kapitalexport zu einer dominanten Stellung französisBran-cher Unter-nehmen (ebd., 154).

Diese grundlegende strukturelle Asymmetrie blieb also allen französischen Bemühungen zum Trotz bestehen – von den Bestrebungen zur politischen Marginalisierung der BRD, über die ambitionierten staatlichen Investitionsprojekte zum Aufbau ‚nationaler Champions‘ bis hin zur Deutschland abgerungenen Wirtschafts- und Währungsunion. Die im Großen und Ganzen erfolgreiche Industrialisierungsstrategie der Nachkriegsjahrzehnte und die hohen Wachstums-raten hatten den Rückstand gegenüber der Bundesrepublik nur begrenzt aufholen können. Dass die deutschen Eliten bei der Durchführung angebotsorientierter Reformen wie der Agenda 2010 zudem auf weniger Widerstand stießen und daher erfolgreicher waren als die französischen, hat die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie noch weiter verbessert. Wie noch gezeigt werden wird (vgl. Kapitel 5.1), war dieser Faktor jedoch nicht entscheidend. Entschei-dend für die über Jahrzehnte bleibende und sich reproduzierende Asymmetrie sind vielmehr die unterschiedlichen Ausgangspunkte der jeweiligen Industrialisierungspfade, die ins 19. Jahrhun-dert zurückreichen, möglicherweise auch noch weiter zurück in die Vergangenheit. In dieser Epoche haben sich bereits grundlegende Hierarchien, strukturelle Dominanz- und Abhängig-keitsverhältnisse im globalen kapitalistischen System herausgebildet, die bis heute ihre Aus-wirkungen haben, obwohl sich die geografischen Schwerpunkte der globalen industriellen

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Produktion zwischenzeitlich zum Teil mehrfach verlagert haben, obwohl es zwischenzeitlich Krisen, Weltkriege, Aufstiegs- und Niedergangsprozesse von Großmächten sowie tiefgreifende Strukturveränderungen des globalen Kapitalismus wie das explosive Wachstum des Finanzsek-tors gegeben hat. Zwar handelt es sich dabei nicht um einseitige Abhängigkeiten, sondern viel-mehr um Interdependenzen, aber diese sind eben keineswegs symmetrisch ausgebildet und das strukturelle Übergewicht der einen Seite ist geblieben. Im volkswirtschaftlichen Wachstum drückt diese Asymmetrie sich nur unzureichend und indirekt aus. So wuchs beispielsweise in den zwei Jahrzehnten zwischen 1992 und 2012 die französische Volkswirtschaft um 35%, die deutsche hingegen nur um 28%. Besonders ab Ende der 1990er Jahre öffnete sich hier eine Schere zugunsten Frankreichs (RichesFlores Research 2013, 2). Wenn man die Wachstum-strends seit den 1970er Jahren vergleicht, liegt Frankreich ebenfalls etwas höher als die Bun-desrepublik (siehe Tabelle 1). Auch im Bereich der Produktivität pro Kopf entwickelten sich beide Länder ähnlich, ein klarer Vorteil für Deutschland war in dieser Phase nicht zu erkennen (ebd., 9).

1971-1980 1981-1990 1991-2000 2001-2010 2011-2017

Deutsch-land 2,9 2,3 2,0 0,9 1,8

Frankreich 3,6 2,5 2,1 1,2 1,1

Tabelle 1: Durchschnittliche Wachstumsraten des BIP von Deutschland und Frankreich Eigene Berechnungen; zugrundeliegende Daten: Eurostat.

Entscheidend für die Entwicklung in der Krise war jedoch, dass das Kapital der beiden Län-der zwei sehr unterschiedliche Akkumulationsmodelle verfolgte, die in unterschiedlicher Weise von der Krise betroffen waren. In Deutschland war der Beitrag des Konsums der privaten Haus-halte zum Wachstum seit der Jahrtausendwende sehr gering, der Beitrag der Exporte hingegen sehr hoch. Der Anteil der Exporte am BIP stieg von etwa 22% 1992 auf etwa 50% 2012 an.

Frankreich war hingegen, vor allem seit Ende der 1990er Jahre eine stark durch den Binnen-konsum getriebene Wirtschaft, deren Exporte in den Jahren vor der Krise stagnierten (ebd., 3).

Das Verhältnis Deutschlands und Frankreichs zueinander muss somit im Zusammenhang mit der Stellung der beiden Länder in Europa und der Welt betrachtet werden. Der französische Export hatte sich in den 1950er und 1960er Jahren von der Franc-Zone stark auf die

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westeuropäischen Länder verlagert. Diese geografische Umorientierung ist im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben, sodass 2008 etwa die Hälfte des französischen Exports in die Eu-rozone ging und etwa ein Fünftel in die Krisenländer (Südeuropa und Irland). Deutschland ex-portierte dagegen zu 57% außerhalb der Eurozone. Osteuropa und die BRIC-Staaten spielten für den deutschen Export vergleichsweise eine deutlich größere Rolle, während die Exporte nach Südeuropa an Bedeutung verloren (Heine 2015, 14f; Simonazzi et al 2013, 660). Das deutsche Kapital war in Form von Direktinvestitionen auch stärker in diese Regionen expan-diert als das französische, während die französischen Konzerne in den 2000er Jahren eher ihre Investitionen in der Eurozone ausweiteten. Vor allem in den südeuropäischen Ländern eroberte Frankreich sich eine viel stärkere Investmentposition als Deutschland, allerdings überwiegend durch Portfolioinvestitionen (Heine 2015, 25). Diese Zuflüsse an Kapital, das oft spekulativen Charakter hatte, trug zum Nachfrageboom in den südeuropäischen Ländern bei, indem es durch die Banken in Hypotheken oder Kredite verwandelt wurde. Dadurch verstärkte sich die Ver-schuldung bei ausländischen Kreditgebern, was schließlich zur Verschärfung der Krisenent-wicklung in diesen Ländern beitrug. Zudem engte die verschärfte ausländische Konkurrenz auf dem Binnenmarkt die Spielräume der wirtschaftlichen Entwicklung in Südeuropa ein und be-günstigte die Entstehung von Akkumulationsmodellen, die sich wesentlich auf finanzielle Ak-kumulation stützten: In Griechenland stärker durch die Emission staatlicher Schuldtitel, in Spa-nien etwa durch eine immer exorbitantere Verschuldung der privaten Unternehmen und Haus-halte (Gambarotto/Solari 2015; Pelagidis 2010). Die deutschen Exporte in große und wach-sende Märkte wie die USA und VR China trugen während der Krise hingegen sehr zur Stabili-sierung des wirtschaftlichen Wachstums bei. Es erwies sich als großer Vorteil, dass die deutsche Industrie in den Investitionsgüterindustrien und anderen stark wachsenden Branchen (z.B. der Automobilindustrie) stark vertreten war und somit vom Nachfrageboom in diesen Bereichen, der vor allem von der Industrialisierung Chinas und anderer Länder getrieben war, profitieren konnte. Die Spezialisierung der deutschen Industrie auf qualitativ hochwertige und

westeuropäischen Länder verlagert. Diese geografische Umorientierung ist im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben, sodass 2008 etwa die Hälfte des französischen Exports in die Eu-rozone ging und etwa ein Fünftel in die Krisenländer (Südeuropa und Irland). Deutschland ex-portierte dagegen zu 57% außerhalb der Eurozone. Osteuropa und die BRIC-Staaten spielten für den deutschen Export vergleichsweise eine deutlich größere Rolle, während die Exporte nach Südeuropa an Bedeutung verloren (Heine 2015, 14f; Simonazzi et al 2013, 660). Das deutsche Kapital war in Form von Direktinvestitionen auch stärker in diese Regionen expan-diert als das französische, während die französischen Konzerne in den 2000er Jahren eher ihre Investitionen in der Eurozone ausweiteten. Vor allem in den südeuropäischen Ländern eroberte Frankreich sich eine viel stärkere Investmentposition als Deutschland, allerdings überwiegend durch Portfolioinvestitionen (Heine 2015, 25). Diese Zuflüsse an Kapital, das oft spekulativen Charakter hatte, trug zum Nachfrageboom in den südeuropäischen Ländern bei, indem es durch die Banken in Hypotheken oder Kredite verwandelt wurde. Dadurch verstärkte sich die Ver-schuldung bei ausländischen Kreditgebern, was schließlich zur Verschärfung der Krisenent-wicklung in diesen Ländern beitrug. Zudem engte die verschärfte ausländische Konkurrenz auf dem Binnenmarkt die Spielräume der wirtschaftlichen Entwicklung in Südeuropa ein und be-günstigte die Entstehung von Akkumulationsmodellen, die sich wesentlich auf finanzielle Ak-kumulation stützten: In Griechenland stärker durch die Emission staatlicher Schuldtitel, in Spa-nien etwa durch eine immer exorbitantere Verschuldung der privaten Unternehmen und Haus-halte (Gambarotto/Solari 2015; Pelagidis 2010). Die deutschen Exporte in große und wach-sende Märkte wie die USA und VR China trugen während der Krise hingegen sehr zur Stabili-sierung des wirtschaftlichen Wachstums bei. Es erwies sich als großer Vorteil, dass die deutsche Industrie in den Investitionsgüterindustrien und anderen stark wachsenden Branchen (z.B. der Automobilindustrie) stark vertreten war und somit vom Nachfrageboom in diesen Bereichen, der vor allem von der Industrialisierung Chinas und anderer Länder getrieben war, profitieren konnte. Die Spezialisierung der deutschen Industrie auf qualitativ hochwertige und