• Keine Ergebnisse gefunden

4. Deutsch-französische Beziehungen und europäische Integration

4.4 Das deutsch-französische Verhältnis zwischen Maastricht und Euro

Der Maastrichter Vertrag war das Ergebnis umfassender und historisch weit zurückgehender Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Interessen und Strategien der verschiedenen Kapitalfraktionen, zwischen auseinandergehenden Ideen und Ordnungsmodellen für den euro-päischen Kapitalismus.

Die französische wirtschaftspolitische Tradition war immer stark durch die Implikationen der republikanischen Tradition geprägt, mit dem Primat der souveränen Nation als Quelle der Legitimität. Diese Tradition legitimierte eine Zentralisierung politischer Macht und umfassende staatliche Interventionen in die Wirtschaft. Eine einzige vorherrschende wirtschaftspolitische Tradition wie es der Ordoliberalismus in der BRD darstellte, gab es indes nicht, was den fran-zösischen Eliten ab 1983 den Abschied von den keynesianischen Rezepten erleichterte, nach-dem man mit deren Ergebnissen unzufrieden war. Dennoch stand die Idee einer von allen poli-tischen Autoritäten unabhängigen Zentralbank im direkten Widerspruch zum republikanischen Politikverständnis Frankreichs. Im Mittelpunkt dieses Verständnisses steht der souveräne Na-tionalstaat, der sich auch gegen die Macht der privaten Wirtschaft durchsetzen kann (Dyson/Featherstone 1999, 66ff; 86). In der BRD hingegen war das ordoliberale Denken in den Ministerien für Wirtschaft und Finanzen und in der Bundesbank tief verankert und wurde auch von den wichtigsten Wirtschaftsverbänden wie dem BDI, dem Deutschen Industrie- und Han-delskammertag DIHT, dem Bankenverband und dem DSGV mitgetragen. Allerdings war das ordoliberale Lager in der Frage der WWU gespalten. Tendenziell waren die Verbände des deut-schen Kapitals eher für die Währungsunion als Mittel, um den erreichten Stand der Integration abzusichern, während die Bundesbank dem Ziel der Preisstabilität absolute Priorität einräumte (ebd., 277). Passend zu diesen unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Verständnissen diver-gierten auch die Vorstellungen der europäischen Einigung und die jeweiligen Ziele, die dabei von den deutschen und französischen Eliten verfolgt wurden, erheblich. Während die BRD die EG und spätere EU vor allem als Mittel sah, eine marktliberale Wirtschaftsintegration durch-zusetzen, waren die EG-Institutionen für Frankreich lange Zeit eher ein Mittel zur nationalen Machtpolitik, um die BRD unter Kontrolle zu halten, die Unabhängigkeit gegenüber den USA zu wahren und mit der Gemeinsamen Agrarpolitik einen ständigen Transfer von Ressourcen zu erhalten, mit denen die französische Landwirtschaft gestärkt werden konnte. Gerade letztere

95

wurde von den westdeutschen Eliten hingegen als Last empfunden, da sie alleine etwa zwei Drittel des EG-Haushaltes in Anspruch nahm (Ziebura 1997, 276, 360f).

Der Haltung der Regierungen entsprach ungefähr auch die Haltung der Unternehmen. Das Projekt der Gemeinschaftswährung wurde von den französischen Konzernen deutlich stärker vorangetrieben als von den deutschen. Überhaupt bildeten die französischen Großkonzerne in den späten 1980er Jahren die Vorhut des Engagements für den Euro. Weil die deutschen und britischen Konzerne in ihrer großen Mehrheit weitaus skeptischer waren, konnte sich im ERT keine klare Haltung für eine schnelle Umsetzung des Euro durchsetzen. Einer Umfrage zufolge lag unter den französischen Unternehmen 1988 die Unterstützung dafür bei 80-90%, während die BRD mit etwa 60% das europäische Schlusslicht bildete. Anfang 1989 fürchteten noch 80%

der deutschen Unternehmen, dass die neue Währung weniger stabil sein werde als die DM, die 35% für unersetzbar hielten. Der DIHT unterstützte die Währungsunion unter der Vorausset-zung, dass Geldwertstabilität höchste Priorität sei, während der BDI Mitte der 1980er Jahre dagegen war und Ende des Jahrzehnts die Gemeinschaftswährung nur als längerfristiges Ziel für vorstellbar hielt. Aus Sicht des BDI drohte mit der Währungsunion die Gefahr, dass der französische Einfluss die Autonomie der Bundesbank schrittweise aushöhlen und am Ende der Entwicklung eine europäische Zentralbank mit weicher Geldpolitik stehen könnte.

Die überwiegend „europäistisch“ ausgerichteten Konzerne aus Frankreich und Italien ver-suchten, im ERT eine Position der Unterstützung für den Euro durchzusetzen, während die

„globalistischen“ Konzerne aus der BRD und Großbritannien in der Phase 1988-1992 überwie-gend skeptisch gegenüber dem Euro waren. Die französischen Unternehmen, die in dieser Frage mit ihrer Regierung und den französischen Medien und Parteien auf einer Linie lagen, strebten eine stärkere politisch eingebundene und gelenkte Zentralbank an, die mit ihrer Geldpolitik das Wachstum fördern sollte. Italienische und französische Konzerne versuchten Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre im European Roundtable of Industrialists eine Position der massi-ven Unterstützung für den Euro durchzusetzen, was jedoch an der wesentlich skeptischeren Haltung der britischen und deutschen Großkonzerne scheiterte. Die „globalistische“ Ausrich-tung der deutschen Konzerne hatte sich bereits lange abgezeichnet, so hatte der BDI lange Zeit die EWG nur als einen Schritt hin zu einer euroatlantischen Wirtschaftsgemeinschaft unter Ein-schluss der OEEC angestrebt (Bührer 2008, 57). Da sich aufgrund dieser Konstellation im ERT keine klare Linie für den Euro herausbilden konnte, gründeten die „europäistischen“ Konzerne die AMUE als Lobbyverband der Großkonzerne, der sich speziell für die Einführung des Euro

96

einsetzte. Der Sitz der AMUE war Paris, ihre Hauptakteure waren französische und italienische Konzerne. Darunter vertreten waren die Spitzen des französischen Kapitals wie beispielsweise Total, Rhône-Poulenc, Aventis, Axa, BNP, Saint-Gobain, Elf, Paribas, Crédit Lyonnais, Renault und L’Oréal. Erst nach dem in Maastricht beschlossenen Kompromiss änderten auch die deutschen und britischen Konzerne ihre Haltung zum Euro. Die AMUE gewann nun viele Mitglieder aus diesen Ländern und der ERT änderte seine Position entsprechend. Er trat nun ebenfalls geschlossen für den Euro auf und arbeitete eng mit der AMUE zusammen (Georgiou 2014, 171ff).

Vor dem Gipfel in Madrid 1995 schickte der ERT dann einen Brief an die Staats- und Re-gierungschefs mit dem Aufruf, sich unwiderruflich für den Euro zu entscheiden. In den 1990er Jahren waren auch die deutschen Spitzenverbände des Kapitals geschlossen für den Euro, be-tonten aber auch, der Stabilität den Vorrang zu geben, selbst wenn dies mit einer kleineren Eurozone einhergehen würde. Im Gegensatz dazu forderten die meisten französischen Unter-nehmen vor allem die strikte Einhaltung des Zeitplans der Einführung des Euro, auch wenn nicht alle der vereinbarten Kriterien erfüllt seien. 1998 ergab eine Umfrage unter den Geschäfts-führern französischer Unternehmen, dass unter diesen ein universeller Konsens von 98% der Befragten für die Einführung des Euro herrschte. Eine Spaltung der Währungsunion durch die verschärfte Konkurrenz – und damit die Option einer kleineren Eurozone – wollte das franzö-sische Kapital verhindern und dafür einen Transfermechanismus einrichten. Ähnlich wie die französische Regierung forderte der Spitzenverband des französischen Kapitals CNPF 1991 auch noch, dass die Geldpolitik im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik stehen müsse und daher eine Koordination zwischen dem Europäischen Rat und der EZB stattfinden solle. Ein absolutes Primat der Geldwertstabilität wollte das französische Kapital somit eher nicht (ebd., 385ff; Stützle 2013, 253ff; Pistor 2002, 260; 270ff). Letztlich war der Maastrichter Vertrag also ein Kompromiss zwischen diesen beiden Grundtendenzen, die von den französischen und deut-schen Konzernen sowie politideut-schen Führungen vertreten wurden. Im Ergebnis fanden sich For-derungen beider Seiten wieder. Der Grundkonflikt, der sich in den Auseinandersetzungen um Maastricht zeigte und der seine Wurzeln bereits Jahrzehnte zuvor hatte, wurde mit dieser Über-einkunft aber keineswegs gelöst, sondern nur in neue Bahnen gelenkt. Fortan ging es nicht mehr um die Frage, ob es eine Gemeinschaftswährung geben solle und wann bzw. unter welchen Voraussetzungen diese umzusetzen sei, sondern um ein breites Spektrum an neuen Streitpunk-ten, die aber mit der Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion eng zusammenhingen:

97

Die Ausgestaltung der Geldpolitik der EZB, weiterhin die Frage nach einem institutionellen Gegengewicht zur EZB in Form einer Wirtschaftsregierung, um die Frage von europäischen Transferleistungen, die Fragen der Haushaltsdisziplin, der Wachstums- und Industriepolitik usw. usf.

Dass sich die Widersprüche im deutsch-französischen Verhältnis trotz der wirtschafts- und geldpolitischen Konvergenz, der seit Mitte der 1980er Jahre von der Banque de France ver-folgten Hartwährungspolitik und auch der Vereinbarung zum Aufbau einer Währungsunion nicht in Luft aufgelöst hatten, zeigte u.a. die Krise des EWS 1992-93. Schon am „schwarzen Mittwoch“, dem 16. September 1992 hatte es Spekulationen gegen das britische Pfund und in geringerem Maße gegen die italienische Lira gegeben, die den Wechselkursmechanismus in Schwierigkeiten gebracht hatten.

Am 29. Juli 1993 traf sich der Zentralbankrat der Bundesbank und es wurde in der Presse allgemein erwartet, dass die Bundesbank die Zinsrate für kurzfristige Kredite senken würde, um den Abwertungsdruck auf die anderen Währungen abzumildern. Als jedoch bekannt wurde, dass der Zinssatz mindestens bis zum nächsten Treffen, das erst einen Monat später angesetzt war, unverändert bleiben würde, begannen umfangreiche Verkäufe von Francs, dänischen Kro-nen und anderen europäischen Währungen. Als die Banque de France nach größeren Stützungs-käufen diese schließlich einstellte, stürzte der Franc weiter stark ab und musste wiederum mit großen Interventionen aufgefangen werden. Schließlich einigten sich die Regierungen darauf, die Schwankungsbreite im EWS von 2,25% auf 15% in beide Richtungen zu erhöhen (Szasz 1999, 190ff). Damit war das EWS stark gelockert und in der Praxis nicht mehr bedeutsam, bis es durch die Einführung des Euro abgelöst wurde. Im Wesentlichen scheiterte somit auch das EWS, wenn auch immerhin erst nach über einem Jahrzehnt, an denselben Widersprüchen, an denen bereits die Währungsschlange gescheitert war. Für Frankreich (und auch für Großbritan-nien) war es nicht akzeptabel, auf Dauer eine Geldpolitik mitzutragen, die allein darauf ausge-richtet war, in Deutschland die Preisstabilität zu garantieren (ebd., 194).

Auch nach dem Maastrichter Vertrag gingen in den 1990er Jahren die Kontroversen um die genaue Ausgestaltung der WWU weiter. Dabei ging es im Wesentlichen um zwei Fragen: Ers-tens, ob und zu welchen Bedingungen alle ehemaligen EWS-Staaten Mitglieder der Eurozone werden würden. Und zweitens um die Frage, ob der EZB eine europäische Wirtschaftsregierung zur Seite gestellt werden würde.

98

Die Stufe 3 der Währungsunion, also die Einführung des Euro, war zuerst für 1997 geplant, allerdings erfüllten zu diesem Zeitpunkt die meisten Kandidaten die Bedingungen nicht. Vor allem Belgien und Italien hatten mit jeweils über 120% eine viel zu hohe Staatsverschuldung, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Die italienische Regierung wollte jedoch auf keinen Fall ausgeschlossen werden und drückte daher gegen Widerstand eine Rentenreform und eine einmalige Steuer zur Senkung der Staatsverschuldung durch. Als 1997 in Frankreich Lionel Jospin die Präsidentschaftswahlen gewann, machte er deutlich, dass der Beitritt Italiens und Spaniens zum Euro eine zentrale Bedingung für Frankreich sei. Ein Euro ohne Italien hätte nicht nur die Kräfteverhältnisse in der Eurozone zugunsten der deutsch-niederländischen Prä-ferenz für „Stabilitätspolitik“ geneigt, sondern auch die französische Industrie belastet, weil die Lira dann gegenüber dem Euro unterbewertet gewesen wäre und Frankreich dementsprechend an Wettbewerbsfähigkeit verloren hätte. Der deutsche Finanzminister Theo Waigel und die Bundesbank äußerten sich in Frage des Beitritts der südeuropäischen Länder aber skeptisch und forderten einen Stabilitätspakt mit automatischen Sanktionen, falls die Kriterien nicht erfüllt werden. Frankreich konnte durchsetzen, dass der Stabilitätspakt, der 1997 beschlossen wurde, in Stabilitäts- und Wachstumspakt umbenannt wurde, was aber an seinem Inhalt nichts änderte.

Immerhin wurde das automatische Sanktionsverfahren, das Waigel gefordert hatte, nicht in den Pakt aufgenommen und das wesentliche französische Anliegen, die Stufe 3 der Währungsunion 1999 mit den südeuropäischen Ländern zu beginnen, wurde ebenfalls befriedigt (außer Grie-chenland, das 2001 dazukam) (Dyson/Featherstone 1999, 7f; 532f; Schwarzer 2015, 26ff). Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde dem deutschen Anliegen entsprochen, dass die Konvergenzkriterien, wonach 3% jährliche Neuverschuldung und 60% Schuldenstand die Obergrenze sein sollten, auch nach der Einführung des Euro verpflichtend bleiben. Andernfalls kann der Ecofin-Rat ein Verfahren wegen übermäßigen Defizits einleiten, zu dem auch Geld-strafen gehören können.

In den deutschen Staatsapparaten fand Ende der 1990er Jahre eine Auseinandersetzung um die Frage statt, ob die WWU wie geplant umgesetzt werden sollte. Die Bundesbank verfolgte weiterhin ein absolutes Primat der Preisstabilität und stellte sich gegen eine zeitnahe Umset-zung der Währungsunion. Der BDI, der bisher die Position der Bundesbank immer unterstützt hatte, änderte 1996 seine Position zugunsten einer schnellen Verwirklichung des Euro, wie sie auch der Bankenverband BdB bereits zuvor gefordert hatte. Die Positionsänderung des BDI lag zum einen daran, dass man es angesichts der laufenden Dynamik nicht mehr für realistisch hielt,

99

die WWU weiter hinauszuzögern, andererseits aber auch daran, dass die deutschen Konzerne sich bereits in ihrer Rechnungsführung an die WWU angepasst hatten und daher ein Interesse an der schnelleren Umsetzung gewannen. Nur die kleinen und mittleren Unternehmen sahen die Währungsunion weiterhin negativ, da sie aufgrund ihres niedrigeren Internationalisierungs-grades an einer Geldpolitik interessiert waren, die sich an den Erfordernissen der deutschen Wirtschaft orientiert (Pistor 2002, 218; 295). Damit war die Rückendeckung für die Bundes-bank zu schwach, als dass sich deren Position noch hätte durchsetzen können.

In der Frage der europäischen Wirtschaftsregierung setzte sich dagegen eher die deutsche Position durch. Ein entsprechendes Gremium wurde nicht eingerichtet. Lediglich die Euro-gruppe wurde als informelles Diskussionsforum der Finanzminister der WWU gegründet, aber ohne Entscheidungsbefugnisse und ohne Möglichkeit, effektiv die Geld- oder Fiskalpolitik zu bestimmen (Georgiou 2014, 383).

Sowohl Deutschland als auch Frankreich überschritten 2002 und 2003 die Verschuldungs-grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Es wurde allerdings kein entsprechendes Defi-zitverfahren eingeleitet. Hier zeigte sich deutlich, dass auch das Europarecht in seiner Anwen-dung nicht außerhalb der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse steht, sondern unmittelbar von ihnen abhängig ist – in diesem Fall von den Kräfteverhältnissen zwischen den Staaten. Denn Deutschland und Frankreich waren unübersehbar die führenden Staaten hinter der Wirtschafts- und Währungsunion, weshalb gegen ihren Widerstand nicht einmal solche Maßnahmen durch-setzbar waren, die auf Initiative eben dieser beiden Staaten eingeführt worden waren.