• Keine Ergebnisse gefunden

Nach der „Deutschen Einheit“: Wiederaufstieg und Abschied vom „Modell Deutschland“?

5. Struktur- und Prozessanalyse: Deutschland, Frankreich und die EU

5.1 Genese und Transformation des „Modells Deutschland“

5.1.3 Nach der „Deutschen Einheit“: Wiederaufstieg und Abschied vom „Modell Deutschland“?

Die Existenz der DDR, die auch die BRD jahrzehntelang indirekt mitgeprägt hatte, endete am 3. Oktober 1990. Mit der Vereinigung der zwei deutschen Staaten endete der Systemkonflikt in Deutschland und die Ära der „Bonner Bundesrepublik“ – die Hauptstadt wurde wieder nach Berlin verlegt. Dass der Regierungssitz nun nicht mehr in einer zweitrangigen Stadt Nordrhein-westfalens lag, sondern in der alten Hauptstadt Preußens und des Deutschen Reiches, kann auch als Symbol für eine Abkehr von bisherigen bestimmenden Politikmustern und (beschränkten) Machtansprüchen interpretiert werden. Mittelfristig war die territoriale Ausgangsbasis für den Großmachtstatus der europäischen Mittelmacht Deutschland wiederhergestellt (Crome 2013).

Zunächst allerdings war die Eingliederung des Gebietes der ehemaligen DDR in den bun-desdeutschen Wirtschaftsverband mit bedeutenden Kosten verbunden18. 1991 fiel die

18 Das Produktivitätsniveau war in der DDR deutlich niedriger gewesen als in Westdeutschland, teils wegen ihrer eher ländlichen Prägung, teils weil sie als der kleinere Teil des geteilten Deutschlands von der Desintegration der bestehenden Wirtschaftsbeziehungen härter getroffen wurde und teils, weil sie die deutschen Reparationen für den Zweiten Weltkrieg zu etwa 98%, also fast vollständig, alleine schultern musste. Mit der Einrichtung der

120

Handelsbilanz seit 1981 erstmalig ins Minus, da ein Bevölkerungszuwachs von fast 30% nur mit einem Zuwachs der Produktion von etwa 8% einherging und daher die Importe nun viel stärker stiegen als die Exporte (Deubner 1998, 170; Bonder et al. 1992, 181). Zudem wurden die Stabilität des deutschen Kapitalismus und seine Leistungsfähigkeit kurzfristig durch stei-gende Inflation und langfristig durch eine neue Qualität sozialer und regionaler Disparitäten beeinträchtigt (Deubner 1998, 162, 171).

Die Befürchtungen mancher und die Hoffnungen anderer, dass damit die Führungsrolle Deutschlands in Europa auf Dauer infrage gestellt sei, bewahrheiteten sich indes nicht. Die negativen Auswirkungen auf die Geldwertstabilität hielten sich mittelfristig in Grenzen und die soziale Ungleichheit beschädigte die ökonomische Performanz des deutschen Modells nicht sehr schwerwiegend. Was blieb, war letztlich eine Steigerung des absoluten ökonomischen Ge-wichts der BRD und ein gewandeltes nationales Selbstverständnis, wonach die Zeit der relati-ven politischen und militärischen Zurückhaltung Deutschlands nun beendet werden müsse und Deutschland seine ihm zufallende Führungsrolle in Europa spielen müsse. Dies drückte sich zuerst in einem veränderten Selbstverständnis der Bundeswehr aus, dann 1999 und 2001 erst-malig wieder an deutschen Bundeswehreinsätzen in Jugoslawien und Afghanistan, denen wei-tere folgen würden, und schließlich im Management der Krise in der Eurozone, das an vielen Punkten deutschen Vorgaben folgte (Kronauer 2015).

Auch der 1992 beschlossene Maastrichter Vertrag über die Gründung der Europäischen Union und die Einführung der Gemeinschaftswährung trug stark die deutsche Handschrift (siehe Kapitel 4.4). Mit der Durchsetzung des 1986 als Einheitliche Europäische Akte beschlos-senen EG-Binnenmarktes mit seinen „vier Freiheiten“, mit den zahlreichen, vom EuGH voran-getriebenen Harmonisierungen nationaler Standards und schließlich dem Euro entfiel ein Groß-teil der Handelshemmnisse sowie das Wechselkursrisiko, wovon die Unternehmen der BRD als stärkster Exportmacht des Kontinents naturgemäß stark profitierten.

Ab 2001 war die deutsche Leistungsbilanz als Ausdruck u.a. der Exportstärke deutscher In-dustriekonzerne wieder positiv, stieg bis zur Krise an und fluktuiert seitdem auf einem hohen Niveau zwischen fünf und acht Prozent. Gleichzeitig war das Wirtschaftswachstum in

Treuhandanstalt war 1990 die Richtungsentscheidung gefallen, die Staatsbetriebe der DDR unmittelbar der west-deutschen Konkurrenz auszusetzen, was für einen Großteil von ihnen den Bankrott und für das vereinigte Deutsch-land große volkswirtschaftliche Verluste bedeutete (Wenzel 2001).

121

Deutschland Anfang der 2000er Jahre jedoch im europäischen Vergleich niedrig, die Arbeits-losigkeit stieg von 7,9% 2001 auf 11,3% 2005, die Steuereinnahmen fielen entsprechend ab und das Haushaltsdefizit über oder in der Nähe der Maastrichter Defizitgrenze von 3% (Boyer 2015, 209f; Scharpf 2015, 87f). Der ökonomische Wiederaufstieg war damit wenig vom Bin-nenmarkt und den Konsumausgaben getragen, sondern stark von einer globalen Expansion der deutschen Konzerne: Die Industrie profitierte von den verbesserten Ausfuhrbedingungen unter der neuen Gemeinschaftswährung und von den Industrialisierungsprozessen in Schwellenlän-dern wie China, die als Abnehmer deutscher Investitionsgüterexporte immer wichtiger wurden.

Deshalb sank der Anteil der EU am deutschen Export von 52% 1991 auf 42% 15 Jahre später (Bastasin 2013, 12). Infolge dieser Erfolge der deutschen Konzerne konnten diese ihre interna-tionale Gläubigerposition bedeutend verstärken, sodass die deutschen Nettoauslandsvermögen 2000-2008 von ca. 3% des BIP auf 25% anstiegen (Becker/Weissenbacher 2014).

Laut einer Untersuchung der Personalverflechtungen zwischen den Aufsichtsräten der gro-ßen Konzerne drückte sich dieser Wiederaufstieg der deutschen Konzerne auch in Form einer immer zentraleren Stellung des um die Deutsche Bank und die Allianz gruppierten deutschen Konzernnetzwerks innerhalb des umfassenderen transatlantischen Netzwerks aus, was auf Kos-ten der früheren Zentralstellung des US-amerikanischen Kapitals ging. Da viele Aufsichtsrats-mitglieder weniger als Manager, denn als Netzwerkspezialisten im breiteren zivilgesellschaft-lichen Sinne fungierten, sei dies empirischer Beleg für einen umfassenden Prozess der transna-tionalen Klassenbildung, wobei den deutschen Konzernen eine Schlüsselrolle zukomme (van der Pijl et al. 2011). Allerdings ist diese These umstritten. Eine andere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass nicht die deutschen, sondern die französischen Firmen im Zentrum des Netzwerks stehen (Heemskerk 2013, 91ff).

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Probleme der 1990er Jahre äußerten immer mehr führende Politiker, Medien und Industrieverbände sich im Sinne einer Abkehr von den Struk-turen des „Modells Deutschland“ und einer stärkeren Orientierung am angloamerikanischen Modell. Dessen Überlegenheit wurde damals scheinbar durch den „New Economy“-Boom, der durch billige Refinanzierungsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten weiter angeheizt wurde, belegt (Beckmann 2007, 104f). Banken und Industrie hatten an typisch „angloamerikanischen“

Finanzaktivitäten wie dem Investmentgeschäft zuvor nur geringes Interesse gehabt und zwi-schen den 1960er und 80er Jahren war die Zahl der börsennotierten Firmen in Deutschland sogar deutlich gesunken. Als ab den 1970er Jahren aber die Profitabilität des konventionellen

122

Kreditgeschäfts abnahm und die Finanzmärkte international rapide expandierten, wurde das Investmentbanking auch für deutsche Banken interessanter (Sablowski 2008, 147). In besonde-rem Maße waren es daher die großen Finanzmarktakteure wie Großbanken und Versicherungs-konzerne, die in den 1990er Jahren Lobbyarbeit für eine Liberalisierung des Finanzsystems betrieben, um sich leichter aus den Verflechtungen der „Deutschland AG“ lösen und an inter-nationalen Finanzgeschäften beteiligen zu können (Junne 1998, 46; Zimmermann 2012, 488).

Entsprechende Reformen wurden in den folgenden Jahren dann auch umgesetzt. Dies um-fasste zum einen eine Reihe von Gesetzesänderungen (KonTraG 1998, KapAEG 1998, TransPuG 2002, Übernahmegesetz 2002, Maßnahmenkatalog 2003), deren Inhalt die Stärkung der Übereinstimmung von Stimm- und Cashflowrechten, die Legalisierung neuer Finanzmarkt-operationen wie Aktienrückkäufe, die Anpassung an internationale Bilanzierungsstandards, Transparenz und Investorenschutz umfassten. Hinzu kamen zwei Regierungskommissionen zur Reform der corporate governance durch die Unternehmen 2000 und 2002 mit unverbindlichen Empfehlungen, die jedoch von den Großunternehmen weitestgehend befolgt wurden (Beck-mann 2007, 110ff; Ringe 2015, 518ff).

Damit wurden die rechtlichen Bedingungen zu einem gewissen Grad an die der liberaleren angloamerikanischen Finanzsysteme angepasst. Das erleichterte die strategische Umorientie-rung der deutschen Finanzakteure und die LockeUmorientie-rung der engen Beziehungen zur Industrie.

Auslöser dieses Prozesses, der ohnehin bereits zuvor begonnen hatte, waren sie jedoch nicht, eher war der Prozess einer der wechselseitigen Verstärkung. Die Finanzunternehmen im Kern der Deutschland AG, besonders die Deutsche Bank und die Allianz, verkauften immer größere Teile ihres umfangreichen Beteiligungsbesitzes an deutschen Industrieunternehmen, um mit den Veräußerungsgewinnen ausländische Aktien und andere Wertpapiere zu kaufen, aber auch, um international neue Geschäftsbereiche wie das Investmentbanking, Consulting und Vermö-gensverwaltung zu erschließen. (Beckmann 2007, 105f). Nachdem bereits seit den 1970er Jah-ren eine Tendenz zur langsamen Ausdünnung der immer noch engen Kapitalverflechtungen zu beobachten war, beschleunigte sich der Prozess in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre stark, sodass zwischen den 100 größten deutschen Unternehmen die Zahl der Kapitalbeteiligungen untereinander von 169 im Jahr 1996 auf 80, also weniger als die Hälfte im Jahr 2000 fiel. Pa-rallel zur Auflösung der Kapitalbeteiligungen lockerten sich auch die personellen Verflechtun-gen: Die Deutsche Bank als Knotenpunkt der Deutschland AG hatte 1980 noch 40 Aufsichts-ratsmandate in den 100 größten Aktiengesellschaften mit ihren Vertretern besetzt, 1998 waren

123

es nur noch 17 und 2001 kündigte sie an, künftig in keinem Aufsichtsrat mehr den Vorsitz zu übernehmen (ebd., 108; für weitere Daten vgl. Bastasin 2013, 22ff). Als ein Meilenstein der Neuausrichtung der corporate governance gelten aus der Retrospektive auch die Fusion von Thyssen und Krupp-Hoesch 1997 sowie die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone – zum einen, weil feindliche Übernahmen im deutschen System bisher nur selten erfolgreich ge-wesen waren, zum anderen aber, weil in beiden Fällen die Deutsche Bank trotz ihren engen Beziehungen zu Thyssen und Mannesmann Partei für die Übernahmebestrebungen des jeweils anderen Unternehmens ergriff (Beckmann 2007, 106). Darin zeigte sich eine grundlegend ge-wandelte Herangehensweise, da der Schutz des Netzwerks, in dem die Deutsche Bank ja eine zentrale Rolle spielte, in den strategischen Kalkulationen des Finanzkonzerns offensichtlich nur noch als nachrangiges Kriterium gehandelt wurde.

Das deutsche Unternehmensnetzwerk war Mitte der 1990er Jahre noch um die beiden Pole Deutsche Bank und Allianz gruppiert gewesen, die sowohl miteinander verbunden waren als auch jeweils einige der zentralen Konzerne um sich scharten: So war die Deutsche Bank bei-spielsweise eng mit DaimlerBenz verbunden, die Allianz dagegen mit MünchenerRück, der Dresdner Bank, BASF und anderen. Mitte der 2000er Jahre hatte sich das Bild aber bereits merklich verändert: Die Deutsche Bank hatte kaum noch Verbindungen zur Großindustrie und stand somit nur noch am Rand des Netzwerkes, während das Zentrum seit einigen Jahren von der Allianz besetzt war. Zudem waren die Kerngruppen des Netzwerks kleiner geworden und die Verknüpfungen insgesamt lockerer und weniger zahlreich (Höpner/Krempel 2006). An-stelle der strategischen Anleger mit ihren großen, langfristigen Anteilen sind zu einem bedeu-tenden Teil institutionelle Investoren wie Investmentfonds und Versicherungen sowie generell ausländische Investoren getreten (Deeg 2010, 123). Auch in Deutschland machte sich in den vergangenen Jahrzehnten die allgemeine Tendenz zur Internationalisierung des Eigentums be-merkbar. So stieg zwischen 2001 und 2013 der Anteil des ausländischen Eigentums an den Unternehmen des Deutschen Aktienindex DAX von 36% auf 55%, befördert auch durch den Auftrieb der deutschen Aktienpreise (Ringe 2015, 525f).

Grundlage dafür war nicht zuletzt auch eine immer stärker globale Orientierung der großen Konzerne, die aufgrund hoher Produktivität, wettbewerbsfähiger Produkte und Auslagerung von Komponenten ihrer Produktion in Niedriglohnländer erfolgreich auf dem Weltmarkt agie-ren konnten. Auch kleinere, mittelgroße Firmen tätigten Direktinvestitionen im Ausland,

124

sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU. Die Exportquote der Bundesrepublik stieg von 21% im Jahr 1970 auf 47% im Jahr 2008 an (Bastasin 2013, 13ff).

Auf dem Gebiet der corporate governance verschob sich der Schwerpunkt weg vom lang-jährigen Stakeholder-Konzept, wonach nicht nur unmittelbare Profitinteressen, sondern auch strategische und kooperationsbasierte Beziehungen zwischen Industrie und Banken, Zulieferern und Endproduzenten sowie Arbeit, Kapital und Staat verfolgt wurden. Stattdessen wurde ent-sprechend der institutionellen Anpassung an das angloamerikanische Modell zunehmend der shareholder value als Zielgröße gesetzt. Damit einher gingen Veränderungen in der Verwaltung der Unternehmen, die die Transparenz und Zugänglichkeit für Anleger und die Rechte von Minderheitsaktionären auf Kosten der Inhaber von strategischen Stimmblöcken und Aktien-mehrheiten stärken sowie die Anpassung der Rechnungslegung an internationale Standards för-dern sollten (Beckmann 2007, 108f). Dabei ging es weniger um die Interessen von Kleinanle-gern gegenüber der Übermacht der Familiendynastien und anderer Großaktionäre, als um eine strategische Umorientierung der Spitzen des deutschen Kapitals, die den strategischen Beteili-gungsbesitz zurückfahren wollten, um zum Zwecke einer konsequenteren Maximierung der Renditen ihre Investitionen diversifizieren und internationalisieren zu können.

Die Transformation betraf sowohl die Industrie- als auch die Finanzkonzerne: Erstere ent-fernten sich von dem Ziel möglichst umfassender Kontrolle aller Bereiche der Produktion und konzentrierten ihre Geschäftstätigkeit zunehmend auf die profitabelsten Bereiche. Das führte zur grundlegenden Umstrukturierung ganzer Branchen, wie sich beispielhaft an der deutschen Großchemie nachverfolgen lässt: Diese war Anfang der 1990er Jahre von den „Großen Drei“

Hoechst, Bayer und BASF dominiert gewesen. Im Verlauf einiger Jahre wurde der ehemals größte deutsche Chemiekonzern Hoechst im Rahmen einer Strategie zur Maximierung kurz-fristiger Renditen vollständig liquidiert; Bayer vollzog eine strategische Neuorientierung im Sinne des shareholder value, was zum Ausstieg aus der Verbundchemie und der Fokussierung auf die profitträchtigsten Teilbereiche führte; nur BASF hielt an der industriellen Chemie als Kerngeschäft fest und war damit erfolgreich (Kädtler 2012).

Die neue Ausrichtung wurde auch stark geprägt von einer neuen Generation von Managern, die von Erfahrungen auf den Finanzmärkten inspiriert sind und entsprechende Management-konzepte einbrachten (Bastasin 2013, 21)

125

Die Großbanken, mit der Deutschen Bank als ihrer Vorhut, reduzierten derweil das Gewicht der traditionellen Geschäftsbereiche Einlagenverwaltung und Kreditvergabe und weiteten ihre Tätigkeit im Investmentbereich immer weiter aus, weil dort viel höhere Renditen erzielt werden konnten (Vitols 2001, 533f). Zu den neuen Geschäftsfeldern gehören neben der Verwaltung von Vermögensanlagen auch solche Tätigkeiten wie die Beratung und Durchführung von Fusi-onen und Übernahmen. Für das Investmentbanking sind enge Beziehungen zur Industrie nicht vorteilhaft, sondern eher problematisch, weil sich Portfolios nach Renditekriterien schnell und unkompliziert umschichten lassen müssen und auch, weil über die engen Beziehungen leicht vertrauliche Informationen über Übernahmeabsichten an der falschen Adresse landen können (Höpner/Krempel 2006, 5; Ringe 2015, 517).

Im Ergebnis hat sich das deutsche Finanzsystem seit den 1980er Jahren von einem vorrangig bankenbasierten zu einem stärker kapitalmarktbasierten Finanzsystem hin transformiert, sodass bei den Großunternehmen der Anteil der Bankkredite an der externen Finanzierung zugunsten der Emission von Aktien und Anleihen zurückgegangen ist. Zugleich ist jedoch die Bedeutung der Eigenfinanzierung bei diesen Konzernen immer weiter gestiegen. Der Blick auf die großen Konzerne sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass für die überwältigende Mehrzahl der Unternehmen die Finanzierung über langfristige Kreditbeziehungen zu den Banken nach wie vor von großer Bedeutung ist (Deeg 2010, 120ff; Junne 1998, 46).

Auch auf anderem Gebiet machte das „Modell Deutschland“ während der letzten Jahrzehnte einen profunden Wandel durch. In den industriellen Beziehungen wurde die traditionell starke Rolle der Gewerkschaften und ausgehandelter Lohnkompromisse relativiert. Dahinter stand erstens der kontinuierliche Mitgliederschwund und Verlust an Verhandlungsmacht auf Seiten der Gewerkschaften sowie die strategische Neuausrichtung im Sinne eines Wettbewerbskorpo-ratismus, der sich nicht mehr an Produktivitäts- und Inflationsentwicklung orientierte, sondern an der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Auf Seiten der Unternehmerschaft war eine abnehmende Kompromissbereitschaft und deshalb Flucht aus den Arbeitgeberverbänden bzw.

dem Flächentarif zu verzeichnen. Im Ergebnis nahm die Deckung durch Flächentarifverträge stetig ab (Dörre 2011, 279; Deppe 2012, 62ff; Müller-Jentsch 2011, 132). Dadurch und mithilfe von Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, die von den Gewerkschaften akzeptiert wurden, gelang der Arbeitgeberseite zu einem hohen Grad die Aushöhlung der regulären Arbeitsver-hältnisse und die Ausweitung von oftmals gering vergüteten Teilzeit- und Leiharbeitsverhält-nissen. Dies wirkte im Sinne einer zunehmenden sozialen Spaltung, ebenso wie die

126

finanzmarktorientierten Rentenreformen (Riester- und Rürup-Rente 2002 und 2005) und die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die diese Tendenz zusätzlich verstärkten.

Die 1990er Jahre waren schließlich auch eine Phase beschleunigter Privatisierungen, die in Deutschland u.a. den Energiesektor, die Bahn, die Telekommunikation und die Post betrafen.

Teilweise wurde der Prozess durch die EU und ihre entsprechenden Richtlinien weiter voran-getrieben, allerdings ging der maßgebliche Impuls von den Bundesregierungen aus (Deckwirth 2008, 87f).

So lassen sich die dominanten Tendenzen in der Entwicklung des deutschen Kapitalismus-modells seit den 1990er Jahren zusammenfassen als Internationalisierung von Eigentum, Inves-titionen und Absatz, stärkere Rentabilitätsorientierung, verstärkte Konzentration und Zentrali-sation des Kapitals insgesamt (bei gleichzeitig sinkender Eigentumskonzentration innerhalb der großen Aktiengesellschaften), Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur, Abschwächung des Korporatismus bzw. Umwandlung in einen Wettbewerbskorporatismus, Entflechtung des Netz-werks, eine gestärkte Rolle der Finanzmärkte sowie eine entsprechende Anpassung des gesetz-lichen und regulatorischen Rahmens (Onetti/Pisoni 2009, 58ff).