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2.2 Das Arbeitsbündnis

2.2.3 Im Arbeitsbündnis: Beschreiben, Deuten und Verstehen

Jede methodisch begründete Bearbeitung eines Anlasses (Anliegen oder Notlage) stellt ein Unikat dar, da sie auf einen Menschen in seiner Einzigartigkeit und dessen individu-elle Ressourcen bezogen ist. Am Fall zu arbeiten bedeutet, dass es sich um einen nicht schematisierbaren Prozess handelt, der immer wieder (von Fall zu Fall) neu beginnt und anders ist, da keine der je gegebenen (Ausgangs-)Bedingungen und der Verlauf der Be-arbeitung wiederholbar sind. Dabei werden Prozesse des Beschreibens, Deutens und des Verstehens wichtige Voraussetzungen, einen Menschen und dessen Anlass im Einzelfall zu verstehen. Fall meint in diesem Sinne nicht die Person, die als Mensch (z. B. durch ihr wahrnehmbares Verhalten) in Erscheinung tritt, sondern den Sachverhalt (die im Ver-halten als Kommunikation eingeschlossene Nachricht), der für diesen Menschen von Be-deutung ist.

Hans Thiersch spricht deshalb von der „detektivischen Kunst, die Wahrnehmungsmo-mente im Alltag – die MoWahrnehmungsmo-mente gelingenden Lebens (…) – zu entdecken, bewusst und wach zu halten, zu stärken und zu mehren“ (Thiersch, 1986, S. 39). An Fachkräfte wird damit die Anregung ausgesprochen, Fantasie zu zeigen, sich in der Einzelfallarbeit an-dere Zustände vorstellen zu können, und Flexibilität, situatives Geschick und einen mehrdimensionalen Blick zu entwickeln, um sich in Menschen hineinzuversetzen. Es ist wichtig, zu beobachten, sich Zeit zu nehmen (und zu geben), gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen, Grenzen zu setzen, an „gesehene“ Möglichkeiten anzuknüpfen, Interessen zu wecken, „Räume“ in der Lebenswelt zu öffnen und zu erweitern, Konflikte anzugehen und Stärken zu stärken.

Professionell wird das soziale Handeln von Fachkräften aber erst dann, wenn es um die Deutung des Falles geht. Die hierfür erforderliche Klärung erfolgt formal als Prüfung der Zuständigkeit, ob der Fall (hier) zu bearbeiten ist, und sachlich, fachlich, d. h. substan-ziell als Exploration des Anlasses, der zum Fall führte:

• An Fachkräfte werden durch die Adressaten (ausdrücklich wie unterschwellig) im-mer wieder unterschiedliche (z. T. widersprüchliche) Interessen, Wünsche oder Be-dürfnisse herangetragen, die sie am besten alle auf einmal lösen sollen. Neben dem Anliegen, die Erziehung der eigenen Kinder besser bewältigen zu können, kann es z. B. eine akute Notlage geben, wenn die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB II („Hartz-IV-Geld“) nicht mehr ausreicht. Eine Prüfung der Zuständigkeit klärt rasch, dass die Mitarbeiter im Jugendamt für das Anliegen zuständig sind, nicht aber für die wirtschaftliche Notlage. Hier sind andere Fachkräfte, z. B. die örtliche Schuldner-beratung, die richtigen Ansprechpartner.

Zur anlassangemessenen Gesprächsführung lesen Sie weiter im Lehrbuch „Metho-den der Sozialen Arbeit“ S. 94–112.

im subjektiven Lebensraum bekannt machen“ (Northoff, 2012, S. 29). Dabei nähert sich eine Fachkraft dem Fall mit ersten Annahmen (z. B. zum gegebenen Anliegen oder der Notlage), die sich erst noch bestätigen müssen (Hypothesenmodell).

Die Deutung des Falls muss 1. zu einem Dialog zwischen Fachkraft und Adressat führen und 2. als stets vorläufig angesehen werden, denn im weiteren Dialog können sich im-mer wieder neue Aspekte ergeben, die die subjektive Konstruktion in einem neuen Licht erscheinen lassen. Jedenfalls wird eine systematische Exploration erforderlich, um ei-nerseits die Oberflächenstruktur (Anamnese) und andererseits die Tiefenstruktur (Deu-tung, oft auch als Diagnose bezeichnet) des Falles aufklären zu können.

Solches Fallverstehen (gelegentlich auch als Kasuistik bezeichnet) hat „die Aufgabe, Welten zu erschließen, indem ein Fall aus den alltäglichen Routinen und Zwängen her-ausgelöst“ wird (Hörster, 2010, S. 679). Erforderlich dafür ist ein aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen sowie das Einnehmen einer Art Fremdheitshaltung: Die Fachkraft, der Adressat und die anderen am Fall Beteiligten sind sich fremd, denn sie kommen in der Regel aus unterschiedlichen sozialen Welten. Die Fachkraft weiß zunächst nichts über den Adressaten und dessen Anlass, d. h. warum er mit der Fachkraft in Kontakt treten will oder muss. Es bedarf dazu zunächst einer Anamnese.

Definition 2.3: Anamnese

Anamnese (griechisch für (Wieder-)Erinnerung) stellt (als strukturierte Exploration und Dokumentation) eine „Erfassung der Lebensgeschichte unter besonderer Be-rücksichtigung eventueller Ursachen eines störenden Erlebens und Verhaltens (dar).

Sie dient vor allem der Erkundung der Entwicklung und der Sozialisation, der fami-liären Eckdaten, der Konflikte und der Ressourcen (z. B. Sozialisation, Erkrankun-gen, TrennunErkrankun-gen, gute Phasen, besondere Ereignisse) der diagnostizierten Person“

(Northoff, 2012, S. 29).

Anamnese meint also, Transparenz herzustellen sowie einen Fall und den Menschen, der den Fall „mitbringt“, kennenzulernen (d. h. Beschreibungswissen zu erlangen). In diese Erfassung der Lebensgeschichte fließen subjektbezogene Informationen ein, z. B. zum biografischen Hintergrund, der schulischen bzw. beruflichen Situation oder zum phy-sisch-psychischen Status. Zum Beschreibungswissen gehören auch die Informationen, die das System transparenter machen, in dem der Adressat lebt, insbesondere die fami-liären und sozialen Beziehungen. Die Ermittlung dieser Informationen wird durch eine offene Fragehaltung (was weiß ich genau und was nicht?) gekennzeichnet, z. B. durch Fragen nach beteiligten Personen (wer?), Sachverhalten und Themen (was?), Zeitabläu-fen, Terminen (wann?), Orten (wo?) und Ereignissen, Geschehnissen oder Handlungen (was?). Erfahrungen im sozialen Umfeld und auch aus früheren Kontakten werden er-fasst, systematisiert und dokumentiert. Dazu gehört auch, zu ermitteln, welche anderen Professionellen mit dem Fall befasst waren; früher könnte die Schulpsychologin einbe-zogen gewesen sein, oder es könnte bereits ein Gespräch in der örtlichen Erziehungsbe-ratung stattgefunden haben. Die Informationen stammen in der Regel vom Adressaten selbst, und sie werden durch Einbeziehung Dritter (z. B. Familienangehörige) oder aus ggf. schon vorliegenden Unterlagen (Fallakten) gewonnen.

Verfahren der Einzelfallarbeit, z. B. die Biografiearbeit und das Genogramm, können die Analyse unterstützen. Lesen Sie dazu bitte im Lehrbuch „Methoden der Sozialen Arbeit“ S. 137–144.

Zwei Risiken sind mit dem anamnestischen Fallzugang verbunden, weshalb mit den er-langten Informationen vorsichtig umzugehen ist: einerseits in Bezug auf den Zugriff durch andere (Sind Vertraulichkeit und Datenschutz gesichert?) und andererseits im Hinblick auf die Bewertung, damit – z. B. unter Bezugnahme auf frühere, vielleicht vor-dergründig vergleichbar erscheinende Fälle – keine vorschnelle Einordnung bzw. Inter-pretation erfolgt. Eine Anamnese muss deshalb in jedem Fall neu erfolgen und kann nur die Grundlage für die Entwicklung des weiteren Vorgehens bilden (sie ist also prinzipiell unvollständig, weil sich in jedem weiteren Gespräch neue Informationen ergeben kön-nen). Das „Hinterkopfwissen“ (Müller, 2012, S. 29), das Fachkräfte aufgrund ihres Stu-diums mitbringen (z. B. pädagogisches Wissen über Kinder und die Bedingungen ihres Aufwachsens) muss in den Hintergrund treten, um offen für die besonderen Aspekte je-den einzelnen Falles sein zu können.

Auf der Grundlage der Anamnese geht es darum, den Fall in seiner Tiefenstruktur zu verstehen und zu deuten (Diagnose).

Definition 2.4: Diagnose

Diagnose „bedeutet: ‚unterscheiden‘, ‚durch und durch erkennen‘. Diagnose ist dem-nach ‚die unterscheidende Erkenntnis‘. Diagnostizieren verlangt von der Fachkraft, Informationen und Daten zu sammeln, die sich auf eigene Beobachtungen, aber auch auf Aussagen Dritter beziehen. Diese Informationen und Daten sind zu prüfen, zu vergleichen und schließlich zu bewerten. Hieraus werden Arbeitshypothesen gebil-det, die es ermöglichen, Aussagen bezüglich konkreter Hilfeformen zu treffen und entsprechende Entscheidungen in die Wege zu leiten. Diagnose ermöglicht ein struk-turiertes Fallverstehen“ (Weyrich, 2011, S. 188).

Der Begriff der Diagnose beschäftigt die Soziale Arbeit seit ihrer Begründung als Pro-fession. Nach Alice Salomon gehörte bereits in der Frühphase der Sozialen Arbeit in Deutschland die „Ermittlung aller Tatsachen“ aus dem Leben des Adressaten und dessen sozialem Umfeld zu einer „sozialen Diagnose, um die besondere Not oder das soziale Be-dürfnis der Betreffenden zu erklären und die Mittel zur Lösung der Schwierigkeit aufzu-zeigen“. Sie forderte, dass bei der Ermittlung des Notstands die Fürsorgerinnen der Au-ßendienste des Jugend- oder Sozialamts die Notlage von Familien im Kontext ihres Umfeldes deuten und bei der Entwicklung des „Hilfsplan“ auch die Betroffenen beteili-gen sollten (vgl. Salomon, 1926, S. 7). Als Standard gilt heute, dass durch

„fundierte Beurteilungen von Lebensumständen, Entwicklungspotentialen oder Gefährdungsmomenten (…) sowohl psychische und soziale Faktoren für Ent-wicklung und Gefährdung kenntnisreich erkundet als auch Vorstellungen, Wün-sche und Ängste der MenWün-schen selbst respektvoll berücksichtigt werden (sollen).

Ziel dieser durchblickenden Anstrengungen ist es, zu realisierbaren Vorschlägen für sozialpädagogisches Handeln, also z. B. für geeignete Hilfen oder notwendige Interventionen zu kommen“ (Müller, 2013d, S. 205 f.).

Eine Diagnose in diesem Sinne meint also die systematische Auswertung und Deutung der in der Anamnese gesammelten Informationen. Damit wird zunächst auf den Fall be-zogen Komplexität gewonnen, z. B. auch durch den Einbezug der Diagnosen anderer

die Bearbeitung des Falls und die Entwicklung geeigneter Hilfen notwendige Maß. Da-bei lassen sich grundlegend zwei Ansätze unterscheiden:

• einerseits der klassifizierende Ansatz, der sich durch den Einsatz weitgehend stan-dardisierter Erhebungs- und Auswertungsinstrumente (z. B. psychodiagnostische Testverfahren) auszeichnet. Klassifikationen sind „begriffliche Kennzeichnungen der Gemeinsamkeiten bestimmter Phänomene“ (Heiner, 2013, S. 20) und lassen sich auch als Zusammenstellungen von Wahrnehmungen und Deutungen nach typi-schen Merkmalen verstehen (ein Adressat kann z. B. als „hilfsbereit“ oder „selbst-süchtig“, „aggressiv“ oder „friedfertig“, „engagiert“ oder „desinteressiert“ klassifiziert werden). Klassifizierungen sollen erlauben, dass dies „systematisch und nachprüf-bar“ geschieht. Klassifizierende Ansätze des Fallverstehens deuten aber gegenwärtig allenfalls etwas an, was in der Sozialen Arbeit noch nicht Praxis ist. Die Kritik ist zudem nachhaltig: Ein erstes Problem stellt der Bezugspunkt dar, der Klassifizierun-gen ermöglicht, d. h. der Maßstab, der vorhanden sein muss, um klassifizieren zu können. Klassifizierende Verfahren sind darum bemüht, solche Maßstäbe von jeder Zufälligkeit zu befreien (vgl. Heiner, 2010, S. 48) und gleichsam „objektiv“ (Intersub-jektivität) und damit auch messbar zu machen (vgl. weiter im Lehrbuch, S. 129 ff.).

• andererseits der qualitative (rekonstruktive) Ansatz, d. h. eine auf das Gespräch mit dem Beratenen angelegte, wenig vorstrukturierte, situations- und interaktionsab-hängige Informationssammlung (im Rahmen der Anamnese). Ziel ist es, in Form möglichst offener, kaum oder nur zu zentralen Themen durch Fragen strukturierte Erzählungen „solche subjektiven Prozesse und Muster zu rekonstruieren, die im Ver-lauf der Lebensgeschichte eines Menschen seine Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsorientierungen geprägt haben“ (Schrapper, 2013, S. 200). Hierbei steht der Dialog zwischen Adressat und Fachkraft im Mittelpunkt. Solche Verfahren ten-dieren dazu, die Lebenswirklichkeit von Menschen durch einen lebensräumlichen Blick zu erschließen.

Bildlich gesprochen hat Fallverstehen etwas von einem Eisberg, der nur den kleinsten Teil oberhalb der Wasseroberfläche zu erkennen gibt: Zunächst wird nur eine erste Idee des Falles erkennbar. Die Tiefenstruktur des Falles (sozusagen „unter der Oberfläche“) ergibt sich erst in der Zusammenarbeit mit den Adressaten, im Prozess der Fallbearbei-tung, im kollegialen Austausch oder durch die Analyse der Netzwerke, in denen sich die Adressaten bewegen.

Allerdings hat dieses Verständnis von Fallverstehen durch Diagnose enge Grenzen:

Fachkräfte sind nicht kompetent, medizinische und/oder psychologische Diagnosen selbst anzustellen, sondern immer auf die Diagnosekompetenz von Medizinern und Psy-chologen angewiesen, was vor allem (sofern für das Fallverstehen erforderlich) durch die Hinzuziehung externer Gutachter erfolgt.

Beispiel 2.7:

Im Fall Anna könnte dies Frau Müller veranlassen, die Expertise eines Psychologen (z. B. aus der Erziehungsberatungsstelle des Jugendamtes) heranzuziehen, falls es im Gespräch mit Anna starke Hinweise geben sollte, dass die aktuellen Erziehungs-schwierigkeiten Folge selbst erfahrenerer (und erlittener) Zurückweisungen in der eigenen Kindheit sein könnten.

Das Fallverstehen kann neben der eingeschränkten psychologischen und/oder medizini-schen Diagnosekompetenz auch durch Wahrnehmungsprobleme der Fachkraft selbst nachhaltig beschränkt werden. Zu solchen Problemen zählen insbesondere:

Schematisierungen (oder Routinen) stellen für beide Ansätze eine besondere Gefahr im Prozess der sozialen Diagnose dar. Schematisierungen werden als Formen koor-dinierten Verhaltens mehrerer Fachkräfte, z. B. in einem Team, verstanden, die auf durch gemeinsame Erfahrung erlangten Wissensbeständen beruhen und der Bewäl-tigung der Arbeitsaufgaben dienen. Dazu zählen z. B. Verhaltensweisen, die in be-stimmten Situationen von Fachkräften für angemessen und notwendig gehalten werden und ihr Verhalten steuern. Auch die alltägliche (informelle) Kommunikation unter Teammitgliedern kann zur Herausbildung solcher Schematisierungen beitra-gen, wenn im Gespräch „zwischen Tür und Angel“ Fälle angesprochen, das Verhal-ten von AdressaVerhal-ten besprochen und unausgesprochen Schlussfolgerungen gezogen werden, die für künftige Einschätzungen und Vorgehensweisen von Bedeutung sein werden.

Blinde Flecken sind beunruhigend wirkende Beobachtungen (z. B. einer familiären Erziehungsüberforderung, die als Kindeswohlgefährdung gedeutet werden kann) in Bezug zu Vorerfahrungen, die ähnlich gelagert zu sein scheinen. Dadurch können wesentliche Informationen in den Hintergrund treten oder nicht mehr wahrgenom-men werden (vgl. Ader, 2006; Herwig-Lempp, 2009). Die Betrachtung der Adressa-ten wird auf spezifische Aspekte und die Wahrnehmung auf einen Ausschnitt ver-engt (vgl. Schmidt, 2013, S. 11 f.).

Bestimmte Verhaltensweisen bzw. mit Menschen verbundene Merkmale lösen z. T.

auch körperliche Reaktionen aus, z. B. Abneigung, Verärgerung oder auch Sorge.

Daraus können sich Fehlschlüsse und unzulässige Vermutungen ergeben, was es mit den Adressaten auf sich hat, da diese Annahmen nicht zwingend sind. Aber auch be-stimmte Verhaltensweisen des Adressaten, z. B. angepasstes Verhalten, das den Er-wartungen der Fachkräfte entsprechen soll, oder Motivationsstörungen bzw. Desin-teresse, können den Blick der Fachkraft beeinflussen (vgl. Northoff, 2012, S. 27).

Jedenfalls sind es die Fachkräfte selbst, die den eigenen Schematisierungen und blinden Flecken mit „sensibler Aufmerksamkeit“ begegnen und reflektieren müssen,

„mit welchen institutionellen und persönlichen Normen und Werten die Fach-kräfte ihren Fällen begegnen und welche eigenen Konflikte und Streitfragen die Helfer ‚auf dem Rücken‘ der Klienten ‚austragen‘“ (Schrapper, 2008, S. 201 f.).