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3.3 Gemeinwesenbezogene Handlungsformen

3.3.2 Beispielhaft: Community Organizing

Die ursprünglich in Deutschland über Konzepte aggressiver bzw. katalytischer Gemein-wesenarbeit bestimmte politische Funktion und Zielsetzung der GemeinGemein-wesenarbeit, gesellschaftsverändernd zu wirken, trat in den 1990er-Jahren nahezu vollständig in den Hintergrund. Seit einiger Zeit werden diese Ansätze aber (wenngleich auch modifiziert und auf die heutigen Gegebenheiten angepasst) wiederbelebt, z. B. im Zusammenhang mit der „Wiederentdeckung“ des Community Organizing (CO).

Zu den Arbeitsprinzipien von Gemeinwesenarbeit (GWA) und Quartiersmanage-ment (QM) lesen Sie bitte im Lehrbuch „Methoden der Sozialen Arbeit“ S. 309 f.

Die Aspekte bürgerschaftliches Engagement und Selbsthilfe haben dabei eine besondere Bedeutung:

• Unter dem Begriff des bürgerschaftlichen Engagements wird „ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen des freiwilligen, überwiegend unentgeltlichen und ge-meinwohlorientierten Engagements in prinzipiell allen Bereichen der modernen Ge-sellschaft“ verstanden, z. B. in Sport, Freizeit, Kultur, Gesundheit und Soziales, be-rufliche Interessenvertretung (vgl. Olk, 2013, S. 195). Darin bildet sich der

Strukturwandel des Engagements ab, wonach im Verhältnis zu den traditionellen Formen Ehrenamt und Selbsthilfe weniger verbindlich organisierte und zeitlich be-fristete Formen (Projekte) und (einzelne) Themen des Engagements an Bedeutung gewonnen haben und den Anspruch der politischen Mitgestaltung zum Ausdruck bringt (was sich z. B. in den Protesten gegen Großprojekte wie den Hochspannungs-trassen zeigt).

Selbsthilfe steht „für unterschiedliche sozialpolitische Strömungen, Bewegungen“, d. h. „neue, eigene, den Menschen nahe Gestaltungs- und Selbstbestimmungsmög-lichkeiten“, und „gegen überkommene, einschränkende, unterdrückende, unzuläng-liche (öffentunzuläng-liche) Angebotsstrukturen“ (Mielenz, 2013, S. 744 f.). Selbsthilfeprojekte (z. B. Elterninitiativen zur Betreuung von Kindern oder die lokalen Tafeln, die ein-kommensarme Menschen mit billigen Lebensmitteln versorgen) stellen Engagement dar, das (organisatorisch selbstbestimmt/-verwaltet, d. h. ohne professionelle Lei-tung) bestehende Angebote ergänzt. Selbsthilfe zeichnet die Überzeugung aus, dass Menschen befähigt sind, sich selbst zu helfen, die eigenverantwortliche Entschei-dung über sich selbst zu treffen, sich aktiv an der Problembewältigung zu beteiligen und dafür die Kraft der Gemeinschaft zu nutzen.

Auf beide Aspekte nimmt CO Bezug, wenn davon ausgegangen wird, dass die Bereit-schaft zum persönlichen Engagement mit dem Maß persönlicher Betroffenheit punktu-ell zunimmt und Selbsthilfe eine Form ist, die eigenen Anliegen selbst in die Hand zu nehmen.

CO geht maßgeblich auf Saul Alinsky zurück (vgl. Alinsky, 2011), dessen in den 1940er-Jahren in den Vereinigten Staaten entwickeltes Verfahren vor allem der Durchsetzung benachteiligter Bevölkerungsgruppen (Afroamerikaner, Arme) dienen sollte.

Viele Menschen im zivilgesellschaftlichen Sinne zusammenzubringen, damit sie hand-lungsmächtig werden und gemeinsam Probleme z. B. in der Nachbarschaft lösen kön-nen, ist das Ziel des CO. Der Grundgedanke ist, dass Menschen sich insbesondere aus zwei Gründen zusammenschließen: Zum einen sind es Eigeninteressen, die in einem in-tensiven Prozess des Zuhörens ermittelt werden; zum anderen sind es Beziehungen, die auf Neugier, echtem Interesse und erlebtem Vertrauen zwischen Menschen begründet sind. Beides macht (ergänzt um die Erfahrungen gemeinsam durchgestandener Konflik-te) den Geist von CO aus. Dabei sind drei Grundprinzipien leitend: Die Bemächtigung machtloser Menschen, der Aufbau von Bürgerorganisationen und die Veränderung be-nachteiligender Strukturen.

Der Schlüsselbegriff im CO ist daher Macht, die sich als Macht der Beziehungen (die durch Zuhören, Einfühlen, Mitdenken und Rituale Solidarität schafft) und Fähigkeit zu

lation von Macht, was durch klassische, angebotsorientierte Sozialarbeit nur selten gelingt“ (Früchtel et al., 2007, S. 183); „klassischer“ Sozialarbeit gehe es um Fallbearbei-tung, nicht um Macht, lautet die Kritik. (Aktions-)Macht ist hier positiv besetzt; Macht ist die Fähigkeit, gemeinsam und öffentlich zu handeln. Bürger und ihre Organisationen brauchen Macht, um etwas verändern zu können, damit eine positive Weiterentwick-lung ihres Gemeinwesens möglich wird. Das heißt, es geht auch darum, Menschen, die keine Stärke haben, zu Macht zu verhelfen. Dazu bleibt oft nur die Entwicklung einer Bürgerorganisation, die den bestehenden Machtverhältnissen Gegenmacht entgegenset-zen kann.

Um dies zu erreichen, wird CO durch drei gleichberechtigte Schritte strukturiert (vgl.

Szynka, 2011, S. 15–19):

1. Es beginnt mit Zuhören, einer „kleinteiligen gesellschaftlichen Webarbeit, die aufsu-chend und kontaktschaffend face to face arbeitet“ (Penta, 2007, S. 105). Gespräche mit Menschen, die in der Nachbarschaft oder bei Stadtteilfesten getroffen oder bei Versammlungen gefragt werden, Gespräche in kleinen Gruppen und Organisatio-nen, die es bereits gibt oder Gespräche bei Treffen in der Nachbarschaft (sog. One-to-Ones bzw. Doorknockings) dienen als Basis, Themen zu identifizieren. Gesprächs-orte sind auch Bewohnerversammlungen und Runde Tische zu bestimmten Themen;

auch die aktivierende Befragung hilft, solche Themen herauszuarbeiten. Möglichst vielen Menschen soll zugehört werden, um herauszufinden, was ihre Anliegen sind und was sie wirklich bewegt, welche Schwierigkeiten sie sehen und welche Ideen und Visionen sie haben. Persönliche Themen oder Schwierigkeiten werden dann zu öffentlichen Streitthemen (sogenannte Issues), wenn sie Menschen bewegen (z. B.

der schlechte Zustand eines Kinderspielplatzes oder einer bestimmten Grünanlage).

Nach etwa acht Wochen werden allen Interessierten in einer Versammlung diese Is-sues vorgestellt und es wird demokratisch entschieden, welches die wichtigsten The-men sind. Die Information und die Einladung, sich an der Klärung der TheThe-men be-arbeitenden Gruppen zu beteiligen, lassen Bürger vielleicht aktiv werden, sofern es um Themen und Visionen geht, die sie persönlich teilen und für bedeutsam halten.

Die zahlreichen persönlichen Gespräche, die in dieser Phase geführt werden, bilden die Grundlage für die weitere Zusammenarbeit.

2. Sind die Issues identifiziert, schließt sich die Analyse der Machtstruktur in der Stadt an. Recherchiert wird, wer im Stadtrat, in Vorständen oder in Aufsichtsräten ist, welche Namen häufig in den Zeitungen genannt werden. Zugleich werden Nachfor-schungen angestellt, um Ideen zu den Issues und Visionen für ihre Bearbeitung zu erschließen (z. B. Beispiele oder Lösungsvorschläge aus anderen Städten). So werden Gruppen und Personen erkennbar, für die die Bearbeitung der Issues wichtig sind und die möglicherweise für eine Zusammenarbeit gewonnen werden können, und es werden weitere wichtige Schlüsselpersonen aus Politik, Verwaltung oder anderen wichtigen Institutionen/Organisationen entdeckt, die als Bündnispartner hilfreich sein können; sie haben „oft einen direkteren Draht zu ihren jeweiligen Bezugsgrup-pen“ (Rothschuh, 2013, S. 378).

Zu den Verfahren „Doorknocking“, „One-to-Ones“ und der „Aktivierenden Befra-gung“ lesen Sie bitte im Lehrbuch „Methoden der Sozialen Arbeit“ S. 338–341.

3. Dort, wo Lösungen in Selbsthilfe nicht möglich sind oder die eigenen (Macht-)Mittel (noch) nicht ausreichen, werden Politiker, private Institutionen oder andere einfluss-reiche Führungskräfte (sogenannte Leader) gebraucht, um Bewegung ins Thema zu bringen. Solchen Leadern folgen andere Menschen; sie sind in der Lage, ein Netz von Bekannten für Aktionen zu mobilisieren. Über Leader und Issues werden (Bür-ger-)Plattformen aufgebaut: Bürgergruppen, Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbän-de und örtliche Gewerkschaftsgruppen können vor Ort Organisationen sein, die sich zur Verbesserung der Lebensbedingungen als Katalysatoren anbieten, CO zu betrei-ben, aber auch Familien und Nachbarschaften, Spielplatzinitiativen oder Jugendpro-jekte. Plattformen sollen als „Apparate“ das Handeln der Mitglieder ermöglichen.

Mitglieder sind Einzelpersonen und/oder Organisationen, die von Schlüsselpersonen vertreten werden. Sie können damit eine Aktionsbasis über sozioökonomische und ethnische Trennlinien hinaus schaffen, um Macht zu bekommen bzw. Macht zu be-halten. Voraussetzung ist, dass die eigene (Gegen-)Machtbasis (über den Aufbau der Plattform und die Gewinnung von Bündnispartnern) entwickelt wird. Dazu zählt auch die Gewinnung lokaler Finanziers (z. B. örtliche Gewerbetreibende), die an der Entwicklung des Gemeinwesens ein auch wirtschaftliches Interesse haben. Erst dann wird die Auseinandersetzung mit der vor Ort gegebenen (in der Regel durch Politik und Verwaltung repräsentierten) Machtstruktur begonnen, wenn diese unfä-hig oder unwillig ist, sich mit den Issues auseinanderzusetzen, die anderen Men-schen wichtig sind. Nur dann können Taktiken entwickelt, d. h. Aktionen oder Ver-sammlungen (z. B. mit den Akteuren der Gegenseite) vorbereitet und durchgeführt bzw. öffentlicher Druck (z. B. in den örtlichen Medien) ausgeübt werden. Typische Taktiken sind z. B. auch die Mobilisierung (u. a. Botschaften in den sozialen Medien, die Missstände skandalisieren), Accountability Sessions (d. h. präzise vorbereitete Veranstaltungen, in denen u. a. genau feststeht, wer wann, wie und mit welchem In-halt das Wort ergreift, um z. B. Politiker mit den Issues zu konfrontieren und nach konkreten Lösungen zu befragen) oder das Personalisieren von Gegnern (d. h. kon-krete Akteure der Gegenseite werden als Verantwortliche identifiziert, benannt und z. B. in öffentlichen Veranstaltungen direkt angegriffen).

Beruflich im CO tätige Fachkräfte (Organizer) handeln stets im Hintergrund, d. h., sie bereiten z. B. Veranstaltungen vor und werten sie aus, treten aber nie öffentlich auf. Sie können ausgebildete Fachkräfte sein, die mit einer gewissen thematischen Neutralität den Prozess begleiten, die Beteiligten beraten, trainieren und unterstützen, den organi-satorisch-finanziellen Rahmen sichern und Aktionen anleiten. Ihre Aufgabe ist das Or-ganisieren von Plattformen, insbesondere bei der Entwicklung effektiver Strategien zur Durchsetzung ihrer Issues, und die Förderung der Kommunikation und solidarischer Be-ziehungen zwischen den Mitgliedern der Plattform. Dabei gilt der Grundsatz: „Nichts für andere tun, was sie für sich selbst tun können – stattdessen das solidarische Tun vie-ler ermöglichen! (…) Sie sollen sich organisieren, nicht organisiert werden“ (Penta, 2007, S. 103, S. 107).

CO kann deshalb, da Betroffene ermächtigt werden, ihre (auch sozialen) Rechte selbst zu vertreten, als „eine konsequente Form der Selbsthilfe“ verstanden werden, geht es doch darum, „mit den Betroffenen solidarisch zunächst auf lokaler Ebene zu

Praktisch hat CO in Deutschland bislang vor allem in größeren Städten (z. B. in Berlin, Hamburg und Stuttgart) eine Rolle gespielt. In ländlichen Räumen beginnt sich CO erst allmählich zu etablieren.