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3. Zugänge zum Begriff Schrumpfung

3.1 Historische Schrumpfungsprozesse

Bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist die Stadtentwicklung in Europa nicht linear verlaufen. Wachstums- und Niedergangsprozesse sind beides wichtige Bestandteile in der historischen Entwicklung der Städte, Dörfer und Siedlungsstrukturen in Europa. Ein wichtiges Merkmal historischer Schrumpfungsprozesse ist der starke Einfluss äußerer Faktoren auf die Bevölkerungsentwicklung. Naturkatastrophen (z.B. Erdbeben, Ernteausfälle, Seuchen), Ein-griffe der politischen Machthaber (z.B. Städtegründungsprogramme) sowie militärische Aus-einandersetzungen (eroberte Siedlungen wurden teilweise überhaupt nicht mehr oder erst nach Jahren wieder besiedelt; die Bevölkerung meistens versklavt, vertrieben oder umgesie-delt) sind wesentliche Gründe für historische Schrumpfungsprozesse.19 Weiters ist festzuhal-ten, dass die Schrumpfungsprozesse deutlich stärker ausgeprägt und radikaler umgesetzt wurden als dies heute der Fall ist. Bei der Errichtung von neuen Stadtteilen und dem Bau einer Stadtmauer wurden ältere Siedlungsbereiche (teilweise) zerstört.20 Dies entspricht je-doch keinen Schrumpfungsprozessen im heutigen Sinn.

Da Schrumpfungsprozesse bislang kaum Aufmerksamkeit von Historikern erhalten haben, besteht teilweise Quellenarmut oder es existieren widersprüchliche Quellen.21 Die grundsätz-liche Dynamik historischer Schrumpfungsprozesse kann jedoch trotzdem analysiert werden.

Außerdem zeigen die historischen Beispiele, dass sich Städte und Regionen trotz Schrump-fungsprozessen weiterentwickelt haben. Die Herausforderungen des Schrumpfungsprozes-ses sind daher auch als Chance für die räumliche Entwicklung zu sehen.22

19 Vgl. Freitag 2008: 10-15

20 Vgl. Untermann 2008: 92

21 Vgl. Witschel 2008: 22

22 Vgl. Fuhrich 2003: 589

Stadtwüstungen

Der Begriff „Stadtwüstungen“ bezieht sich auf Veränderungen der Stadtstruktur sowie des-sen Umfang und Stadtstatus im Mittelalter. Die Ursachen für Stadtwüstungen sind vielfältig und ergeben durch ihre gegenseitige Beeinflussung oft einen negativen Kreislauf aus Ursa-che und Auswirkung. Neben naturräumliUrsa-chen Gegebenheiten (z.B. geografisUrsa-che Lage, Bo-denschätze) beeinflussten politische und militärische Entscheidungen die Siedlungsstruktu-ren im Mittelalter besonders stark. Beispiele dafür sind die Förderung oder Vernachlässigung durch die Machthaber, die Vergabe von Markt- und Stadtrechten sowie ein verstärkter Fes-tungsbau.23 Abbildung 1 (siehe unten) zeigt Faktoren, Formen und die möglichen Auswirkun-gen der StadtwüstunAuswirkun-gen im Mittelalter.

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Stadtwüstungsprozesses (kausale Faktoren, Formen und mögliche Auswirkungen)

Quelle: Küntzel 2008: 119; 123; eigene Darstellung

Anmerkung: Der Begriff „Stadt“ bezeichnet bei genauerer Betrachtung Altstädte, spätere Stadterweite-rungen (Neustädte) und Vorstädte. Weiters befanden sich im Umfeld der Städte oft noch Reste dörfli-cher Vorgängersiedlungen.

23 Vgl. Küntzel 2008: 123-129

Zugänge zum Begriff Schrumpfung 11 Die Ausmaße der Wüstungen werden durch die zeitliche und räumliche Dimension der Ver-änderungen beeinflusst. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, können Wüstungen temporär oder permanent auftreten und sich auf einzelne Siedlungselemente oder auf die gesamte Sied-lungsstruktur beziehen. Zusätzlich dazu ist die Funktionswüstung zu erwähnen, bei der die Stadt zentralörtliche Funktionen verliert, dies betrifft den Verlust des Marktrechtes und/oder des Stadtcharakters. Die Statuswüstung bedeutet den Verlust des Stadtstatus, der teilweise mit dem Abriss der Stadtmauern einherging.24

Dementsprechend sind drei (schematisch zusammengefasste) Auswirkungen mittelalterli-cher Stadtwüstungen möglich. Erstens die totale oder partielle Wüstung, wobei Teilwüstung meist einer temporären Wüstung entspricht. Die frei gewordenen Flächen werden nach eini-ger Zeit wieder in die Siedlungstätigkeit einbezogen.25 Die zweite Auswirkung ist der Funkti-ons- und/oder Statusverlust der Stadt, welche zu einer Weiterexistenz als Dorf oder als Landgemeinde führte. Die dritte mögliche Auswirkung einer mittelalterlichen Stadtwüstung war die Verlegung des Siedlungsgebietes und dadurch die Weiterexistenz auf einem ande-ren Standort (siehe Abbildung 1). Die ursprüngliche Funktion der Siedlung blieb in diesem Fall meist erhalten.

Schrumpfungsprozesse im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die städtischen Räume in Mitteleuropa aufgrund krie-gerischer Auseinandersetzungen (z.B. Erbfolgekrieg) und Aufständen der städtischen Bevöl-kerung gegen die Herrscher durch Zerstörungen und Reduktionsprozesse gekennzeichnet.

Den kriegerischen Auseinandersetzungen folgte ein starkes Bevölkerungswachstum, das sowohl in ländlichen als auch in städtischen Räumen die Einwohnerzahlen deutlich erhöhte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkten sich in Europa außerdem die Urbani-sierungs- und Industrialisierungsprozesse und führten zu einem fast ungebremsten, quantita-tives Wachstum der Städte.26 Dieses Wachstum wurde durch Mechanisierungen und Moder-nisierungen in der Landwirtschaft wesentlich beeinflusst. Die Wanderungsbewegungen der Landbevölkerung in die Städte, die sich dort bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen er-hofften, waren die treibende Kraft des starken Bevölkerungswachstums der Städte im 19. Jahrhundert.27 Allerdings betraf das Bevölkerungswachstum vor allem die bereits zu Be-ginn des 19. Jahrhunderts starken und bedeutenden Städte. Kleinere Städte und jene Städte, die Probleme bei der Anpassung an die Modernisierungsprozesse hatten, waren auch in

24 Vgl. Küntzel 2008: 118-119

25 Vgl. Untermann 2008: 92

26 Vgl. Benke 2008: 181-195

27 Vgl. Rieniets 2006: 6

diesem Jahrhundert von Schrumpfungsprozessen betroffen.28 Wirtschaftliche Einflussfakto-ren erlangten als Auslöser von Schrumpfungstendenzen immer mehr an Bedeutung, bei-spielsweise waren monostrukturierte Städte durch Nachfrageänderungen oder das Versie-gen von Bodenschätzen (z.B. Erzvorkommen) betroffen. Ein weiterer Auslöser für historische Schrumpfungsprozesse war die Verkehrserschließung, vor allem der Bau der Eisenbahn.

Durch das neue Verkehrsmittel erhielten manche Städte den Zugang zu Handelswegen, an-dere Städte wurden durch die schlechte Anbindung benachteiligt.29 Verallgemeinerungen über die Entwicklung des Städtewesens im 19. Jahrhundert sind äußerst schwierig, da nicht alle Städte und Regionen von der verstärkten Urbanisierung und Industrialisierung profitieren konnten. Insgesamt war das 19. Jahrhundert allerdings von einem starken quantitativen Städtewachstum geprägt.