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4. Einflussfaktoren von Schrumpfungsprozessen

4.1 Soziodemografische Entwicklung

4.1.2 Einflussfaktoren der soziodemografischen Indikatoren

Die folgende Analyse der Einflussfaktoren der soziodemografischen Indikatoren gliedert sich in Ursachen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung und in Beeinflussungen von Wande-rungsbewegungen. Für das Verständnis von Schrumpfungsprozessen sind die Zusammen-hänge der Bevölkerungsentwicklung besonders relevant, da dieser Indikator auch Ausdruck von wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Fehlentwicklungen einer Region sein kann.

Einflussfaktoren der natürlichen Bevölkerungsentwicklung

Da die Altersstruktur einer Region kurzfristig nur schwer veränderbar ist, fokussieren sich die Debatten über die Einflüsse der natürlichen Bevölkerungsentwicklung auf die Fertilitätsraten.

Es existiert eine Vielzahl ökonomischer und soziologischer Fertilitätstheorien, die jedoch noch zu keinem Konsens und einer eindeutigen Erklärung des generativen Verhaltens110 geführt haben.

Im Großteil Europas kam es in der Nachkriegszeit zu einem Babyboom, der bis in die 1960er Jahre anhielt, seither ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung aber sehr gering oder sogar negativ. Im Jahr 2005 hat die Anzahl der Geburten in der gesamten EU die Anzahl der To-desfälle nur mehr um 300.000 überschritten, dies entspricht einem natürlichen Bevölke-rungswachstum von weniger als 0,1%.111 Ein Erklärungsansatz der Verringerung der Gebur-tenrate ist das „demografisch-ökonomische Paradoxon“, welches besagt, dass Menschen in entwickelten Ländern umso weniger Kinder haben, je mehr sie sich aufgrund des Realein-kommens eigentlich leisten könnten. Das Realeinkommen steigt in Europa seit Jahrzehnten an, die Geburtenrate sinkt gleichzeitig deutlich.112 Folgende Entwicklungen haben Einfluss auf die Entstehung des demografisch-ökonomischen Paradoxons, die alle nicht der alleinige Grund, aber wichtige Elemente im Ursachenkomplex der Fertilitätsentwicklung sind:113

Ausbau Wohlfahrtsstaat

Die Geburtenrate in Europa geht seit der Einführung der Sozialversicherung (Arbeitslo-sen-, Kranken- und Pensionsversicherung) zurück, davor mussten die existentiellen Lebensrisiken von den Familienmitgliedern getragen werden. Durch den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme und die damit verknüpfte Entkoppelung der Altersvorsorge aus den familiären Verbänden kam es zu einem „Funktionsverlust des Nachwuchses“.

Ein gesellschaftliches Solidaritätsprinzip tritt an die Stelle der familiären Versorgung.

110 Anmerkung: Das generative Verhalten beschreibt eine Kombination aus individuellen Verhaltens-weisen, die von den sozialen und ökonomischen Strukturen sowie dem kulturellen und familialen Wer-tesystem der Gesellschaft beeinflusst werden. (Vgl. Höpflinger 1997: 47)

111 Vgl. Europäische Kommission 2007: 42

112 Vgl. Birg 2001: 42

113 Vgl. Höpflinger 1997: 59-77; Vgl. Birg 2001: 43-46; Vgl. ÖROK 2004: 21; Vgl. Messner 2006: 10-11

Anstieg der Opportunitätskosten

Opportunitätskosten sind jene indirekten Kosten, die durch die Betreuung und Erzie-hung von Kindern für Frauen entstehen. Sie umfassen den Zeitaufwand und das ent-gangene Einkommen. Die Kosten für die Kinderbetreuung und das entent-gangene kommen sind in den letzten Jahrzehnten in Europa stärker angestiegen als die Ein-kommen und die Preise für Konsumgüter. Daher steigen die fiktiven Opportunitätskos-ten ebenfalls an.

Bessere Ausbildung von Frauen, höhere Frauenerwerbsquote

Die Ausbildungslänge und das Ausbildungsniveau haben indirekte und direkte Einflüs-se auf das generative Verhalten der Frauen. Die längere Ausbildungszeit führt meist zu späteren Familiengründungen, allerdings ist es gut ausgebildeten Frauen eher möglich, sich von den Familienvorstellungen der Eltern zu lösen und ein eigenes generatives Verhalten zu entwickeln. Geht man davon aus, dass gut ausgebildete Frauen auch über ein höheres Einkommen verfügen, fallen durch die Familiengründung aber höhere Opportunitätskosten an.

Allerdings können in diesen theoretischen Ansätzen die sozialen und psychologischen Fak-toren, die ebenfalls das generative Verhalten beeinflussen, nicht oder nicht ausreichend be-rücksichtigt werden, da diese Faktoren nicht auf monetäre Variablen reduziert werden kön-nen. Der Wert von Kindern (z.B. Nachkommenschaft, Reproduktion, Lebenserfahrung) sowie die Belastungen durch Kinder (z.B. Stress, emotionale Belastungen, Erziehungsschwierigkei-ten) sind immer individuell, kultur- und familienabhängig und keinesfalls monetär bewertbar.

Fakt ist aber auch, dass sich das generative Verhalten der Gesellschaft in den letzten Jahr-zehnten deutlich verändert hat und dies unter anderem mit der Veränderung der Stellung der Kinder sowie mit einer verstärkten Individualisierung verbunden ist.114 Weitere Einflussfakto-ren sind die strukturelle Vereinbarkeit von Beruf und Familie, finanzielle Unterstützungen sowie das Angebot an Betreuungseinrichtungen.

Einflussfaktoren der Wanderungsbewegungen

Die Gründe für Wanderungsbewegungen sind ständigen Veränderungen unterworfen und können im Gegensatz zur natürlichen Bevölkerungsentwicklung nur eingeschränkt prognos-tiziert werden.115 Erklärungsansätze von Wanderungsbewegungen beschäftigen sich vor allem mit der (freiwilligen) Arbeitskräftemigration. Für die umfassende Erklärung von Migrati-onsbewegungen sind vier Faktoren entscheidend:116

114 Vgl. Höpflinger 1997: 73-82; Vgl. ÖROK 2004: 21

115 Vgl. Franz 2005: 11

116 Vgl. Höpflinger 1997: 123-124

Einflussfaktoren von Schrumpfungsprozessen 35 1. Push-Faktoren, die mit dem Auswanderungskontext in Verbindung stehen (z.B. hohe

Arbeitslosigkeit, geringe Aufstiegschancen, hohe Wohnkosten)

2. Pull-Faktoren, die für die Migranten im Einwanderungskontext besonders attraktiv sind und für die Auswahl des Immigrationszieles entscheidend sind (z.B. neue beruf-liche Chancen, Zusammenleben mit dem Partner)

3. intervenierende Variablen: Faktoren, welche die Migration behindern (z.B. Grenzzie-hung, Einwanderungsbestimmungen)

4. soziale und individuelle Faktoren der potentiellen Einwanderer (z.B. Motivation, Handlungsfähigkeit)

Push-Pull-Modelle bauen auf den Eigenschaften und dem Verhältnis von Aus- und Einwan-derungskontext auf. Arbeitskräftemigration wird als Folge regionaler, ökonomischer Un-gleichheiten interpretiert. Dementsprechend erfolgen die Wanderungsbewegungen aus Re-gionen mit geringen Chancen am Arbeitsmarkt (z.B. hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Lohnni-veau) in Regionen mit besseren ökonomischen Chancen. Migration ist gemäß Push-Pull-Modellen ein rationales Verhalten, das auf die finanzielle Nutzenmaximierung abzielt.117

Da ökonomische Vorteile für die Auswahl des Zuwanderungszieles entscheidend erscheinen, weisen vor allem urbane Räume und/oder touristische Dienstleistungszentren eine positive Wanderungsbilanz auf, da diese den Einwanderern bessere bzw. umfangreichere Beschäfti-gungsmöglichkeiten bieten. In Österreich ist vor allem die Ostregion, das heißt Wien sowie das Wiener Umland, das Hauptziel internationaler Wanderungen. Rund 30% aller Zuwande-rungen aus dem Ausland in den Jahren 1996 bis 2001 ließen sich in Wien nieder. Der Süden Österreichs (z.B. Steiermark, Südburgenland, Kärnten) weist hingegen nur geringe Zuwan-derungsraten auf. Betrachtet man die Binnenwanderung ist Niederösterreich das Hauptziel von innerösterreichischen Migrationsströmen. Im Jahr 2001 wies Niederösterreich einen po-sitiven Wanderungssaldo (Differenz zwischen Aus- und Einwanderung) von 9.669 Personen auf.118

Die oben beschriebenen theoretischen Erklärungsansätze berücksichtigen die sozialen und individuellen Faktoren der Einwanderer kaum. Neben den möglichen ökonomischen Vortei-len einer Migration sind auch nicht-monetäre Aspekte wie lokale Sozialbindungen und famili-äre Beziehungen entscheidende Einflussfaktoren von Wanderungsbewegungen. Oft ist die Migration keine individuelle Entscheidung, sondern wird durch familiäre und soziale Netz-werke ausgelöst und beeinflusst. Weiters ist zu berücksichtigen, dass individuelle Lebensläu-fe nicht nur eine soziale, sondern auch eine räumliche Struktur aufweisen. Bestimmte

117 Vgl. Höpflinger 1997: 124-128

118 Vgl. ÖROK 2004: 25-31

bensphasen fördern (z.B. Studium, Heirat) oder verhindern (z.B. Kinder, Wohnungseigentum) die räumliche Mobilität. Außerdem ist das Alter der potentiellen Einwanderer für die räumli-che Mobilität bedeutend, denn mit steigendem Alter nehmen die Wanderungsraten kontinu-ierlich ab. Die höchste Mobilität besteht bei Menschen am Beginn des 3. Lebensjahrzehn-tes.119 Dies trifft vor allem auf die Binnenmigranten zu, die sich aufgrund der Ausbildung, Berufstätigkeit oder Familiengründung räumlich verändern. In Österreich beträgt der Anteil der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren mehr als die Hälfte (rund 56%) aller Binnen-migranten.120 Durch Migrationsbewegungen dieser Altersgruppen innerhalb von Österreich kann vor allem die Bundeshauptstadt Wien durch die zahlreichen Ausbildungsmöglichkeiten die Wanderungsverluste in das Stadtumland (Niederösterreich) nahezu ausgleichen.

Da die natürliche Bevölkerungsentwicklung in Mitteleuropa nur langfristig verändert werden kann, steht für Städte und Regionen derzeit die Verhinderung der Abwanderung im Mittel-punkt der soziodemografischen Zielsetzungen. Wanderung wird in der Literatur oft mit der

„Abstimmung mit den Füßen“ gleichgesetzt, Städte und Regionen müssen daher jenen Push-Faktoren verstärkt Aufmerksamkeit schenken, die für die Abwanderung der (vor allem jungen) Bevölkerung ausschlaggebend sind.121