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ß. Schnee- und Lawinenverhaltnisse im schweizerischen Alpengebiet

C. Durc h L awinen verursachte Unfalle und Schaden

5. Her,gang des Unglücks

Um ca. 16.30 Uhr begab sich die Partie mit der Seilbahn von Ischalp nach dem Jakobshorn in der Absicht, nochmals nach Davos abzufahren. Während der Bergfahrt dürfte Skilehrer C. den Entschluß gefaßt haben, den im obern Teile unberührten und wohl überhaupt noch nie mit Ski befahrenen Hang anzugehen. Er sprach mit einem ortskundigen Patrouilleur darüber und soll von diesem gewarnt worden sein. Im Bergrestaurant wurde noch kurz eingekehrt. Dann verließ Ski-lehrer C. mit Frau D. und Herrn H. das Gebäude in der Richtung des nahen Gipfels, während der zweite Skilehrer mit den beiden Mädchen etwas später folgte. Skilehrer F. war über die Absicht seines Kollegen nicht orientiert und deshalb mehr als erstaunt, als C. beim tiefsten Punkt des Grates (Pt. 2531) plötzlich gegen das steile und enge Couloir der NW-Flanke hinunter fuhr. Nach drei Quersprüngen, mit denen C. die Stabilität der Schneedecke prüfen wollte, blieb dieser auf der orographisch linken Seite des Couloirs, noch in der Zone des Felsgürtels, stehen. Er bestimmte Herrn H. als ersten Fahrer und dieser fuhr in mehreren Schwüngen, sich möglichst in der Verti-kalen haltend, den Steilhang hinunter. Unterdessen war auch die Mutter D. mit ihren zwei Töchtern ins Couloir eingefahren. Das eine der Mädchen soll dabei noch gefragt haben, ob denn hier keine Lawinengefahr herrsche. Rosali fuhr voraus, hinter ihr folgte Sylvia, etwas weiter zurück Skilehrer C. und unmittelbar darauf Frau D. Alle befanden sich zugleich auf der Fahrt, die beiden Erwachsenen in der Gegend vom Couloiraustritt. In diesem Augenblick löste sich die Schneedecke ohne großes Geräusch und glitt als gewaltige Tafel talwärts, immer mehr in kleinere Stücke berstend. Skilehrer C. konnte dem Fahrer H. noch eine Warnung zurufen, und in schneller Fahrt brachte sich dieser in Sicherheit. Von seinem Standort aus konnte er die letzte Phase des Lawinensturzes verfolgen. ,.Ich sah C., Frau D. und das Kind Rosali, die von der Lawine erfaßt waren. Hie und da waren sie oben. worauf sie für kurze Zeit meinem Blick entschwanden und dann wieder sichtbar wurden. Mir kam es vor, wie wenn alles sehr langsam gehen würde. Ich bin ruhig geblieben und aus diesem Grunde konnte ich die Leute ständig beobachten. Einzig das Kind Sylvia habe ich nie gesehen."

Der Skilehrer F. war während des ganzen Geschehens oben auf dem Grat gestanden. ,,Ich habe vom Grat aus beobachten können, wie die Schneemassen talwärts fuhren und unten zum Stehen

kamen. Ich hatte das Gefühl, wie wenn sich der ganze Berg in Bewegung befinden würde und bin leicht nach rückwärts gegen den Boden gesunken."

Das Unglück ereignete sich um ca. 17.05 Uhr.

b) Ansicht des Unglücksgeländes, rechts der Gipfel des Jakobshorns Situation 35 Minuten nach dem Lawinenabgang (Photo P. FaissJ

6. Die Rettungsaktion

Skilehrer C. und das Kind Rosali konnten sich rasch selbst befreien, sie waren unverletzt.

Frau D. lag in der Näh.e von C. und wurde von diesem ebenfalls ohne Schaden befreit. Inzwischen waren die beiden Nichterfaßten der Gruppe auf der Lawine angelangt und hatten die Suche nach Sylvia begonnen. Nachdem die verschiedenen Verschüttungsstellen markiert waren, ließ Skilehrer C. den Unfall durch den guten Fahrer H. auf Ischalp melden. Doch bereits war Alarm gegeben worden, weil das Ereignis von der Luftseilbahn aus beobachtet worden war. Bald trafen die ersten Helfer ein, darunter Patrouilleure des zuständigen Pistenrettungsdienstes. 20 Minuten nach dem Absturz beteiligten sich bereits 10 Personen an der Suche nach der Vermißten, und nach 35 Minuten waren es deren 17 (vgl. Photos Faiss).

Um 17.30 Uhr wurde der erste Lawinenhundeführer angerufen, der jedoch auswärts arbeitete und nicht sogleich erreicht werden konnte. Um 17.50 Uhr erhielt der Chef des Parsenndienstes, Herr Chr. Jost, Kenntnis vom Unfall. Chr. Jost befand sich an einem Lawinenkurs für SAC-Ret-tungschefs in Davos-Dorf, zusammen u.a. mit dem Schreibenden. •j

„Daß der Chef des Parsenndienstes von unserem Tische ans Telephon gerufen wurde, beunruhigte uns keineswegs. Umso erstaunter hörten wir zu, als dieser zu uns zurückko=end, folgendes mitteilte: ,.Lawinen-unglück am Jakobsborn vor ¾. Stunden. Mehrere Personen verschüttet, bis auf ein junges Mädchen alle schad-los geborgen. Der örtliche Rettungsdienst ist bereits an der Arbeit. Verlangt werden Hund und Arzt." Schon hatte die Erfahrung des gewiegten Rettungsmannes alle Punkte der weitem Rettungsarbeiten abgeklärt und nach ihrer Dringlichkeit geordnet. Seine Orientierung ging nun in einen Befehl über: ,.Sie- er zeigt auf mich-gehen mit Ihrem Lawinenhund. Herr Jena! kommt als Spezialist für das neue Wiederbelebungsgerät mit.

Sie verfügen über die noch anwesenden Leute des Kurses, soweit im Auto Platz vorhanden. Das Fahrzeug

') Auszug aus dem betr. Originalbericht.

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steht bereit. Luftseilbahn wird für Sie bereitgehalten," Wenige Minuten später windet sich unser Wagen durch den dichten Verkehr. Vor meinem Haus steht meine Frau mit dem Hund und orientiert mich noch dahin, daß zwei Hundeführer mit ihren Tieren bereits aufgeboten seien. Dies beruhigt mich; somit kommt es nicht mehr auf jede Minute meinerseits an, und zur Arbeit dieser Kameraden habe ich volles Vertrauen.

Ohne Zeitverlust können wir in die Seilbahn einsteigen und entschweben kurz darauf dem Häusermeer mit dem städtischen Treiben, den frohen, lebenslustigen Gästen hinauf in dunklen Wald, dem Berge und einer kalten Winternacht entgegen, von der wir vorderhand nur wissen, daß sie in diesen Stunden über ein junges Menschenleben entscheiden wird. Bei der Umsteigestation auf Ischalp erfahren wir, daß noch kein Lawinenhund hinaufgefahren sei und nur ein undressiertes Tier sich auf der Lawine befinde. Damit sehe ich mich wieder an erste und weitgehend entscheidende Stelle vorgeschoben und beschleunige daher meine Einsatzvorbereitungen, was da sind: Schuhe binden, Gamaschen, warme Kleidung und Windschutz anziehen, Ski und Stöcke richten usw. Auch der Hund soll einiger aufmunternder Worte nicht entbehren. Plötzlich gibt uns das Gelände einen Blick auf den zackigen Anriß der Unglückslawine frei. Wir staunen zuerst über die gewaltige Breite der Lawine von 200-300 m und schließlich über die Tatsache, daß Skifahrer ihre Route in diesen steilen und teilweise felsigen Hang legen konnten. Wir erfahren, das sich unter den fünf Wage-mutigen neben zwei Herren eine Mutter mit zwei Töchtern befunden habe. Alle seien von der Lawine er-faßt, vier davon aber nur unbedeutend verschüttet worden. Die Rettung sei bei ihnen unverzüglich ge-schehen, alle waren unverletzt. Nur die 12-jährige Sylvia blieb unauffindbar. Jetzt erhalten wir auch Sicht auf den Lawinenkegel. Er beeindruckt durch seine gewaltigen Ausmaße von mehr als 100 m Länge und 100-200 m Breite. Die Sondiermannschafl von etwa 20 Rettungsleuten fällt nur durch den Farbenkontrasl und die Bewegung auf, gemessen an der Größe der Aufgabe ist sie ein Nichts, ihre Ohnmacht augenfällig.

Die wenigen Leute in der Bergstation sind stumm, besorgt und hilfsbereit. Wir schnallen die Ski an die Füße und fahren den steilen Gipfelhang hinunter, darauf bedacht, in der zunehmenden Dämmerung weder Sturz noch Unfall zu riskieren und das Tempo auf meinen Hund auszurichten. Mit Genugtuung kann ich wahrnehmen, daß die Rettungsmannschaft bei unserer Anfahrt unverzüglich das Lawinenfeld räumt; sie hat weit oben sondiert und verläßt den Kegel sehr geschikt seitwärts in Einerkolonne, um das mutmaßlich tieferliegende Einsatzgebiet des Lawinenhundes nicht zu betreten. Am untern Rande begrüßt mich der Leiter der ersten Rettungsmannschaft und orientiert mich kurz über den Hergang des Unfalls. Ich erkenne bald, daß es sich bei diesem gewaltigen Lawinenkegel in erster Linie darnm handelt, den Suchbereich möglichst sorgfältig auszuwählen. In zweiter Linie kommt die Frage: Grobsuche oder Feinsuche? Entgegen jeder prüfungsmäßigen Forderung wähle ich den primären Suchbereich auf der Mittelachse der Lawine - was ziemlich naheliegend war - aber etwa 30 m vom untern Lawinenkegel entlernt und rund 60 m unterhalb der bereits sondierten Fläche, und entscheide mich überdies für die Feinsuche.

Als ich den Ausgangspunkt meiner Suche erreicht und mich dort kurz und eindringlich an meinen vor Einsatzfreude bebenden „Iso" wende, herrscht Totenstille. Ich glaube, mich in diesem Augenblick gefaßt und bereit gefühlt zu haben, die schwere Aufgabe in Angriff zu nehmen. Den letzten Blick auf die Uhr vergaß ich allerdings, er war auch nicht von Belang.

Mit dem gewohnten Befehl - heute nur verlangender und fast bittend ausgesprochen: .,Revier, such den Mann", schicke ich meinen Hund nach rechts, rund 30 m weit. Hier, an der Grenze des gewählten Suchbereichs, lasse ich wenden und in entgegengesetzter Richtung revieren. Mit einigen Zurufen ziehe ich das Tier näher an mich heran, um verhältnismäßig eng gezogene Zickzacklinien und damit ein zuverlässiges Resultat zu erhalten. Wie immer, schlägt mein „Jso" auf der 60 m breiten Quersuche eine schnelle Gangart an, und ich bin in diesem Augenblick wirklich dankbar, einen temperamentvollen und ausdauernden Hund zu besitzen. Die ersten 5--6 Quersuchen sind gelaufen und es mögen 1-2 Minuten verflossen sein; da. un-terbricht das brave Tier etwa 10 m vor mir den Lauf wie ein herumgerissenes Springpferd, eilt 2-3 m nach oben und beginnt hier zu scharren, wie vorher kaum je an einer Uebung. Ich renne hinzu und bin restlos überzeugt, die Vermißte hier zu finden. Vorerst lasse ich den Hund bei seinem wilden Scharren gewähren und schaufle an seiner linken Seite. In kaum 70 cm Tiefe trifft meine Schaufel auf einen Skistock und die ihn umklammernde Hand. Im selben Augenblick fördert mein „Iso" eine Mütze zutage, die er mir direkt an meinen Bauch schleudert. Nun muß ich den braven Helfer von der Scharrstelle entfernen und seitwärts ab-legen. Nur ungern überläßt mir dieser die weitere Arbeit. Behutsam grabe ich mit den Händen tiefer und befreie rasch den Kopf der Verschütteten. Schlagartig ändert mein Ruf nach den Schauflern und dem Wie-derbelebungsgerät die Szenerie. Die bisherige Stille weicht plötzlich großer Emsigkeit, einem Rennen und Rufen. Ich scheide die notwendigen Schaufler und weitere Helfer aus, übergebe das Kommando über die Unfallstelle dem Spezialisten für die Wiederbelebung und entferne mich mit den übrigen Anwesenden an den Rand der Lawine. Hier äußere ich mich über die Aussichten für eine glückliche Rettung; der Körper hat mir leblos geschienen, dagegen sprechen eine Verschüttungstiefe von 70 cm, die lockeren Schneemassen und eine Verschüttungsdauer von genau anderthalb Stunden für einen glücklichen Ausgang. Das Resultat ist völlig ungewiß.

Eine glänzende Hundearbeit, modernste Apparaturen und ärztliche Hilfe haben leider nicht vermocht, das junge Leben dem Tode zu entreißen. Dieser halte sich als schneller erwiesen, das Kind war tot. In später Nachtstunde, nachdem auch die behördlichen Erhebungen über uns ergangen waren, schwebte die Seilbahnkabine mit uns und unserer traurigen Fracht dem Tale zu, dem Lichtermeer entgegen, in dem das Leben seinen Fortgang nabm und auch uns wieder mit sich reißen würde. Für den Körper der noch vor wenigen Stunden blühenden, lebensfrohen Sylvia aber war es die letzte Fahrt von ihrem geliebten Ski-berg."

Vor dem Einsatz des Lawinenhundes hatte eine organisierte Sondiermannschaft einen kleinen Teil des Ablagerungskegels abgesucht, allerdings zu weit oben. Nach der Auffindung des Opfers um 18.35 Uhr konnte unverzüglich die Ambu-Absaugpumpe angesetzt werden. Mund und Nase waren schneefrei. Sogleich trat das Beatmungsgerät in Aktion. Parallel zu den Wiederbelebungs-versuchen wurde der Körper freigeleg["tfm 19.18 Uhr verabfolgte der eingetroffene Arzt eine erste Injektion (1 Amp. Adrenalin intracardial), um 19.32 Uhr eine zweite. Die Beatmung wurde durch starke Herzmassage unterstützt. Alle Bemühungen blieben erfolglos. Als Todesursache kommt nach der Ansicht des zuständigen Bezirksarztes ein Schocktod in Frage; der friedliche Gesichts-ausdruck, fehlende Blaufärbung und keine Schmelzung vor Mund und Nase sprechen zusammen mit der geringen Verschüttungstiefe und der großen Porosität des Schnees jedenfalls gegen einen Erstickungstod.