• Keine Ergebnisse gefunden

5 Ergebnisse und Diskussion

5.4 Erweiterte Perspektiven abgestufter Maßnahmenkonzepte unter Verwendung von Expositionszielgrößen - Bewertungen

5.4.1 Das „Grenzwertkonzept“

Die vor Jahrzehnten eingeführte und in diesem Sinne als „klassisch“ zu bezeichnende Methode der regulatorischen Toxikologie, für einen Schutz vor chemischen Einwirkungen am Arbeitsplatz zu sorgen, ist die Aufstellung von Grenzwerten. Dies ist allgemein bekannt, und darauf wurde eingangs dieser Schrift auch bereits hingewiesen. Mit Blick auf die in dieser Schrift diskutierten Konzepte sei der Begriff des Grenzwertes noch etwas näher betrachtet. Es versteht sich, dass Grenzwerte für ganz unterschiedliche Situationen und Medien aufgestellt werden können, z.B. für die Konzentration einer Chemikalie in einem Lebensmittel oder für tägliche Zufuhrraten oder für die Konzentration eines in den Körper aufgenommenen Stoffes in Blut oder Urin. Bei den hier vorliegenden Betrachtungen geht es dagegen ausschließlich um Konzentrationswerte von Stoffen in der Luft am Arbeitsplatz.

Dann ist zu fragen, was man überhaupt unter einem Grenzwert versteht. Der Wissenschaftler muss einen Unterschied zwischen einem Grenzwert und einem Schwellenwert machen. Ein Grenzwert ist zunächst lediglich als ein im Zuge der Regulation festgesetzter Wert zu sehen, der nicht überschritten werden soll bzw.

darf. Ein Schwellenwert ist dagegen als biologisch begründete Konzentration zu sehen, unterhalb derer eine bestimmte betrachtete Wirkung nicht eintritt. Im Hinblick auf die Ableitung von Grenzwerten wird dabei die Bedingung hinzugefügt, dass es sich um eine „adverse“ Wirkung handeln muss, d.h. eine Wirkung, der eine Bedeutung als Schädigung der Gesundheit zukommt. Ein solcher - in seiner Höhe grundsätzlich unbekannter - Schwellenwert kann auch als NAEL (No Adverse Effect Level) bezeichnet werden. Auf die grundsätzliche wissenschaftliche Problematik, einen allgemein gültigen Schwellenwert - nicht nur bei Kanzerogenen - für eine

große Population zu ermitteln, kann hier nur aufmerksam gemacht werden (Lutz, 2000).

Mit einer gewissen Berechtigung kann man den Schwellenwert auch als einen Begriff der „Toxikologie“ bezeichnen und den Grenzwert als einen Begriff der

„regulatorischen Toxikologie“. In der Regel wird in der regulatorischen Toxikologie der Anspruch vermittelt, den Grenzwert beim Schwellenwert festzusetzen. Als Hilfsmittel zur Ermittlung wird dabei die Exposition oder „Dosis“ benutzt, bei der in einer „Stichprobe“ keine adverse Wirkung beobachtet wurde. Dieses Expositions-niveau nennt man NOAEL (No Observed Adverse Effect Level). Bei der

„Stichprobe“ kann es sich dabei um eine Gruppe mehr oder weniger zufällig am Arbeitsplatz oder sonst exponierter Personen handeln oder es kann sich um eine Gruppe von im Laborversuch untersuchten Tieren handeln. Folgendes ist leicht einsehbar: die Aussagesicherheit, mit der von einem in einer Stichprobe festgestellten Expositionsniveau ohne erkennbaren schädlichen Effekt auf einen für eine beliebig große Population gültigen Schwellenwert geschlossen werden kann, hängt von der Größe der Stichprobe und dem sonstigen Umfang der Untersuchung ab (Zeitdauer der Exposition, Art der biologisch-medizinischen Diagnostik). Es sind verschiedene Ansätze denkbar, die unvermeidbare wissenschaftliche Unsicherheit beim Schluss von der Stichprobe auf die Population (Grundgesamtheit) zu berücksichtigen oder auszugleichen. Tatsächlich unterscheiden sich diesbezüglich auch manche Grenzwert-Ableitungsmethoden verschiedener Organisationen oder Gremien.

Wie aus den Erläuterungen bei DFG (2002) hervorgeht, vertritt zum Beispiel die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Standpunkt, dass die Einhaltung des Grenzwerts - in diesem Falle als MAK-Wert bezeichnet - in der Regel einen geeigneten Schutz der Gesundheit bietet, wenn der NOAEL aus Erfahrungen beim Menschen abgeleitet wurde und der MAK-Wert auf die Höhe dieses NOAEL festgelegt wird. Falls der NOAEL auf tierexperimentellen Ergebnissen basiert, hält man dort die Einführung eines Rechenfaktors von 2 für geeignet, d.h. der MAK-Wert wird dann „in der Regel auf die Hälfte des NOAELs beim Tier festgelegt“. Bei dem ARW-Konzept nach BArbBl. (1998, 1999), das im wesentlichen auch den

Ableitungen der Expositionszielgrößen zugrunde liegt, wird dagegen davon ausgegangen, dass mit einer größeren Variabilität der Empfindlichkeit verschiedener Spezies und auch verschiedener Individuen derselben Spezies zu rechnen ist und dass deshalb zusätzliche „Extrapolationsfaktoren“ erforderlich sind. Auch für die Berücksichtigung der Zeitdauer der Exposition ist dabei ein stärker schematisiertes Verfahren vorgesehen. Bei beiden Ansätzen wird hinsichtlich der Ableitung des grundsätzlich unbekannten, wahren Schwellenwertes (NAEL für die gesamte Population) naturwissenschaftlich argumentiert. Das Ziel der Festsetzung von Grenz-werten ist es aber nicht, Wissenschaft zu betreiben, sondern das Ziel ist angemessener Gesundheitsschutz, und es ist unvermeidbar, dass beim Schluss von Stichproben auf Grundgesamtheiten naturwissenschaftliche Unsicherheiten ver-bleiben. Es ist daher klar, dass die Festsetzung von Grenzwerten keine reine Naturwissenschaft ist, sondern dass ethische, wertende Elemente außerhalb der reinen Naturwissenschaft eine Rolle spielen müssen. Anzumerken ist hier, dass auch in der Definition des MAK-Wertes keine vollständige Sicherheit „garantiert“

wird, sondern es heißt „die Gesundheit im Allgemeinen nicht beeinträchtigt wird“. Der unbestimmte Begriff „im Allgemeinen“ lässt zumindest eine gewisse Öffnung zu.

Ein wichtiger Gesichtspunkt ist der grundsätzliche Zeitbezug der Konzentrations-werte. Luftgrenzwerte werden in der Regel als Schichtmittelwerte festgesetzt, auch wenn sie als Langzeit-Mittelwerte abgeleitet wurden. Das heißt, dass beispielsweise in einem chronischen Versuch an Ratten für 2 Jahre exponiert worden sein mag und dass die maßgebliche Konzentration als rechnerisches mit der Zeit gewichtetes Mittel für eine zweijährige Exposition an 40 Wochenstunden ermittelt wurde. Der dabei erhaltene Zahlenwert ist dann ein Langzeit-Mittelwert. Wenn der Grenzwert dann auf Basis genau dieses Zahlenwerts festgesetzt wird, hat er als Schicht-mittelwert - für jede einzelne Schicht - zu gelten. Dieses Vorgehen wurde für MAK-Werte für Stäube wissenschaftlich untersucht und begründet (Greim, 1996). Für unterschiedliche Stoffe gibt es verschiedene „Spitzenbegrenzungen“; so darf z.B.

bei lokal reizenden Stoffen die mittlere Konzentration in einem 15-Minutenzeitraum nicht höher sein als der Grenzwert, d.h. der Überschreitungsfaktor ist =1= (TRGS 900). Für andere Stoffe darf der 15-Minuten-Mittelwert bis zum vierfachen höher sein

als der „Grenzwert“. Solche Aspekte sind auch bei einem einfachen Maßnahmen-konzept zu bedenken.

Schließlich ist auf zwei Beispiele hinzuweisen, bei denen Grenzwerte überhaupt nicht im Sinne biologischer Schwellenwerte aufgestellt sind. Das erste Beispiel sind TRK-Werte (Technische Richtkonzentrationen). Auch diese Konzentrationswerte für krebserzeugende Stoffe sind Grenzwerte, insofern als sie zum Zwecke der Regulation aufgestellt wurden, in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe in der Liste der Luftgrenzwerte aufgeführt sind und eingehalten bzw. unterschritten werden sollen. Sie sind aber keine MAK-Werte, in dem Sinne dass naturwissenschaftlich begründet bei ihrer Einhaltung nicht mit schädlichen Wirkungen (hier: mit der Auslösung oder Förderung einer Tumorbildung) bzw. mit dem Fehlen eines expositionsbedingten Risikos zu rechnen ist. TRK-Werte sind ganz wesentlich anhand der technischen Machbarkeit festgesetzt. Hintergrund ist die wissenschaftliche Einschätzung, dass bei krebserzeugenden Stoffen in der Regel das expositionsbedingte Risiko konzentrationsabhängig bei niedrigen Konzentrationen zwar entsprechend relativ niedrig, aber nur bei einer Nullexposition auch gleich Null ist. Die besondere Problematik solcher Stoffe einschließlich der neueren Diskussionen, inwieweit wissenschaftlich begründete quantitative Risikoabschätzungen oder Schwellenwertableitungen auch für Kanzerogene eine Rolle spielen sollten, kann hier - mit Ausnahme des folgenden kurzen Hinweises auf das Beispiel ionisierender Strahlung - nicht vertieft werden.

Das zweite Beispiel, bei dem keine biologischen Schwellenwerte abgeleitet werden und das in eine ähnliche Richtung wie TRK-Werte geht, sind die Dosis-Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen. In der StrSchV (2001) lassen sich für diese Grenzwerte drei Prinzipien erkennen:

1. Die Grenzwerte müssen eingehalten werden.

2. Jede unnötige Exposition ist zu vermeiden.

3. Die Exposition ist auch unterhalb der Grenzwerte so gering wie möglich zu halten.

Eine Aussage, dass die Einhaltung des Grenzwerts so etwas wie Sicherheit bietet, ist hier keineswegs enthalten. Es ist hier offensichtlich so, dass gewisse Expositionen aus technischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Erwägungen als unvermeidbar bzw. wegen der damit verbundenen Vorteile für die Gesellschaft als unverzichtbar angesehen werden, obwohl grundsätzlich Gesundheitsschäden dadurch ausgelöst werden können. Bei diesen Beispielen ist es noch offenkundiger, dass zu unterscheiden ist zwischen einerseits den naturwissenschaftlichen Möglichkeiten, sichere Aussagen zu treffen und im Hinblick auf die Gesundheit

„sichere“ Grenzwerte zu begründen, und andererseits der Notwendigkeit, gewisse Expositionen und auch damit verbundene Risiken zu akzeptieren, weil -gegebenenfalls mit gutem Grund - Wünsche der Gesellschaft nach bestimmten Technologien bestehen. Ganz generell - auch bei nicht-kanzerogenen Einwirkungen - ist der Versuchung zu widerstehen, die Bereiche zu vermischen und etwa technisch kaum reduzierbare Expositionen mit scheinbar naturwissenschaftlichen Begrün-dungen als gefahrlos zu rechtfertigen.

5.4.2 Abgestufte Maßnahmenkonzepte