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C. GESCHLECHTERROLLEN UND SEXUALITÄT IN PETRONS SATYRICA

2. Männerrollen in Petrons Satyrica

2.2 Giton – Encolpius’ Liebling

Gitons Name lässt sich vom griechischen Terminus geitōn (γειτων) ableiten, welchen man mit ,Nachbar’ übersetzt, was wahrscheinlich als sexuelle Anspielung zu verstehen ist. Otto Schönberger führt darüber hinaus die Übertragungen „der Unzertrennliche“ und „der treue Liebhaber“ an.65 Die Ironie, die diesen Übersetzungen innewohnt, soll im Folgenden durch die Betrachtung der Geschlechterrollen des Giton aufgezeigt werden.

Giton: Der ideale puer?

Als Encolpius von Giton für Ascyltos verlassen wird und einen tragischen Klagemonolog hält, erfährt der Leser bzw. Zuhörer etwas mehr über Gitons nicht sehr ruhmreiche Vergangenheit (Petr. Sat. 81.5):

quid ille alter? qui [tanquam] die togae virilis stolam sumpsit, qui ne vir esset, a matre persuasus est, qui opus muliebre in ergastulo fecit, qui postquam conturbavit et libidinis suae solum vertit, reliquit veteris amicitiae nomen et, pro pudor, tanquam mulier secutuleia unius noctis tactu omnia vendidit.

Und der andere? Der am Tag, als er die Männertoga anlegen sollte, ein Weiberkleid nahm, den seine Mutter beschwatzte, kein Mann zu sein, der Weiberwerk im Arbeitshaus tat, Bankrott machte, den Ort seiner Lüste wechselte, an seiner alten Freundschaft Verrat übte, und, o Schande, wie eine läufige Dirne alles für die Umarmung einer einzigen Nacht preisgab.

Die von Giton eingenommenen Geschlechterrollen werden damit zwischen den Attributen ,männlich’ und ,weiblich’ verortet. Was wird des Weiteren über Giton ausgesagt? Encolpius’

Liebling wird in einem Steckbrief als „etwa 16 Jahre alt, Lockenkopf, zart, schön gewachsen“

([…] annorum circa XVI, crispus, mollis, formosus; Petr. Sat. 97.2) beschrieben. Damit entspricht er zumindest äußerlich dem Idealbild eines puer,66 eines Knaben, der von Männern als Liebhaber gewählt wurde, wie bereits dargelegt wurde. Das nachfolgende Epigramm 42 aus dem vierten Buch des Martial beschreibt die beliebtesten Eigenschaften eines solchen Lustknaben:

Si quis forte mihi possit praestare roganti, audi, quem puerum, Flacce, rogare velim.

Niliacis primum puer hic nascatur in oris:

Nequitias tellus scit dare nulla magis.

sit nive candidior: namque in Mareotide fusca pulchrior est quanto rarior iste color.

lumina sideribus certent mollesque flagellant

65 Schönberger (2013), S. 33.

66 Siehe auch die Bemerkungen Richlins bezüglich der pueri (1992a), S. 34-44.

colla comae: tortas non amo, Flacce, comas.

frons brevis atque modus leviter sit naribus uncis, Paestanis rubeant aemula labra rosis.

saepe et nolentem cogat nolitque volentem, liberior domino saepe sit ille suo;

et timeat pueros, excludat saepe puellas:

vir reliquis, uni sit puer ille mihi.

‘iam scio, nec fallis: nam me quoque iudice verum est.

Talis erat’ dices ‘noster Amazonicus.’

Wenn mir vielleicht jemand auf meine Bitte hin einen Knaben anbieten könnte,

dann vernimm, Flaccus, meine Wunschvorstellung von ihm!

Erstens soll der Knabe am Nilufer geboren sein:

Kein Land versteht sich besser auf Frivoles.

Er soll weißer als Schnee sein: Denn in der bräunlich dunklen Mareotis ist diese Farbe um so schöner, je seltener sie vorkommt.

Seine Augen sollen mit dem Glanz der Sterne konkurrieren können und Locken weich seinen Hals umwallen;

Gekräuseltes Haar, Flaccus, mag ich nicht.

Die Stirn sei niedrig, und die leicht gewölbte Nase habe das rechte Maß, die Lippen sollen im Rot sich mit Paestums Rosen messen.

Er soll mich oft anmachen, wenn ich nicht will, und sich mir verweigern, wenn ich will,

und oft sei er noch hemmungsloser als sein Herr;

vor Knaben soll er sich fürchten und die Mädchen abweisen;

Mann sei er für alle anderen, Knabe für mich allein.

„Ich weiß schon Bescheid, du kannst mich nicht täuschen, denn es stimmt auch nach meinem Urteil:

Genauso war doch“, wirst du sagen, „mein Amazonicus.“67

Das lyrische Ich fordert, dass ein idealer puer männliche und weibliche Eigenschaften miteinander vereinen soll. Ein puer sollte nicht nur zart und hübsch, also weiblich wirken, sondern auch männlich agieren, indem er sich sexuell hemmungslos verhält. Ferner sollte der Lustknabe ein kapriziöses Wesen haben und sich nicht leicht erobern lassen, die Werbung um ihn muss für den älteren Sexualpartner eine Herausforderung darstellen. Im Folgenden wird anhand dieses Bildes untersucht, ob die Figur des Giton als idealer puer angelegt ist.

Giton wird als Knabe mit „wachem Verstand, eleganter Diktion, klassischer Bildung und einer seltenen Anmut“68 sowie „zauberhafte[r] Schönheit“ (mirabili forma; Petr. Sat. 105.7) beschrieben, was ihn, ähnlich wie Encolpius, beliebt bei beiden Geschlechtern (Encolp, Ascyltos, Eumolpos, Tryphaena, Pannychis69) macht. Giton ist sich seines attraktiven Äußeren bewusst (Petr. Sat. 105.7): Er setzt es gezielt ein, um aus gefährlichen oder unangenehmen Situationen zu fliehen, um seine Mitmenschen zu becircen und zu besänftigen (vgl. Petr. Sat. 98.7). Trotz seines jungen Alters weiß er genau, wie er mit anderen umzugehen hat, um das zu bekommen, was er will: „[…] heis a better actor than his

67 Mart. Ep. 4.42.

68 Habermehl (2006), S. XVI.

69 Vgl. Petr. Sat. bezüglich bspw. Encolpius Kap. 9-11.; Ascyltos 9-11 sowie 79-80; Eumolpos: 92.3; 94 und 98.7-9; Tryphaena: 106.2, 109.8 und 110.3-5 sowie 113.5-98.7-9; Pannychis: 26.3-5.

lover,“70 folgert daher Delfim F. Leão. Deutlich wird dies durch die Drohung Gitons gegenüber Lichas, sich den Penis abzuschneiden (Petr. Sat. 108.10-11) – sozusagen eine zweite Variante des gestellten Selbstmordes im Beisein von Encolp und Eumolpos in Kapitel 94. Giton nimmt publikumswirksam abermals das präparierte Messer der Lehrlinge des Barbiers zu Hand. Er droht mit seiner eigenen (angeblichen) Verstümmelung, um das Handeln der Anwesenden zu beeinflussen. Er manipuliert seine Mitmenschen mit verschlagener Cleverness und seinen äußeren Reizen: Nach Encolp versteht sich der Knabe weit besser als er selbst auf Schmeichelei, was Leão als „diplomatic touch“71 charakterisiert.

So richtet Giton folgende Worte an Eumolp (?), welcher zuvor von ihm und Encolp betrogen worden (Petr. Sat. 98.7-9):

mox palliolo suo laceratam mutavit vestem, amplexusque iam mitigatum osculis tanquam fomentis aggressus est et ‘in tua’ inquit ‘pater carissime, in tua sumus custodia. si Gitona tuum amas, incipe velle servare. utinam me solum inimicus ignis hauriret, ut hibernum invaderet mare. ego enim omnium scelerum materia, ego causa sum. si perirem, conveniret inimicis’

Dann tauschte er [Giton, H.E.] sein Mäntelchen gegen den zerrissenen Rock, und obschon der Alte besänftigt war, umarmte er ihn, bestürmte ihn mit Küssen als Balsam und rief: ,Liebster Vater, in deiner Obhut stehen wir. Wenn du deinen Giton liebst, entschließe dich, ihn zu retten!

Ach, wenn doch mich allein ein tödliches Feuer verzehrte, wenn das stürmische Meer über mich hereinbräche! Bin ich doch schuld an allen Untaten, ich der Grund. Mein Tod würde die Gegner versöhnen.’

Andere Situationen legen Gitons spöttisches, hinterhältiges und unehrenhaftes Wesen offen.

Anhand Gitons Verhalten während der Quartilla-Episode soll dies kurz exemplifiziert werden (Petr. Sat. 16-26): Giton scheint angesichts der sexuellen Bestrafung von Ascyltos und Encolpius durch zwei cinaedi Schadenfreude zu empfinden (Petr. Sat. 20.8 und 24.5) und wehrt sich zudem nicht gegen die Avancen, die ihm die Magd der Quartilla, Psyche, macht.

Die sexuelle Erniedrigung, die seine beiden Gefährten durch die cinaedi erfahren müssen – denn diese nehmen die aktive Position gegenüber den Freigeborenen oder Freigelassenen Encolp und Ascyltos ein, während beide zeitweise hilflos gefesselt sind und auf diese Weise eine schmachvolle Herabsetzung ihrer Männlichkeit erleben müssen –, scheint für Giton vielmehr amüsant als besorgniserregend zu sein, sodass er keine Veranlassung sieht, einzuschreiten. Selbst als Quartilla durch Gitons schallendes Gelächter auf diesen aufmerksam wird und vorschlägt, dass er die siebenjährige Pannychis entjungfern solle, gibt sich der Knabe nicht zurückhaltend – ganz im Gegensatz zu Encolps Einschätzung ist Giton also keineswegs als „Unschuldslamm“ (verecundissimus puer; Petr. Sat. 25.3) zu bezeichnen. Pannychis hingegen ist eines von zwei Beispielen des Romans, die trotz ihres jungen Alters erste sexuelle Erfahrungen sammelt und sich mitnichten dagegen sträubt.

Altersgrenzen in Bezug auf das Sexualverhalten werden völlig außer Kraft gesetzt.

70 Leão (2008), S. 111.

71 Ebd., S. 96.

Ferner ist Giton scheinheilig, berechnend, opportunistisch und gedankenlos. So trennt er sich zunächst ohne Zögern von Encolp, als ihn Ascyltos dazu aufruft, sich zwischen ihm und jenem zu entscheiden (Petr. Sat. 80.6). Später macht Giton Encolpius sogar für seinen Weggang verantwortlich und mimt den schutzbedürftigen Knaben (Petr. Sat. 91.8):

‘quaeso’ inquit ‘Encolpi, fidem memoriae tuae appello: ego te reliqui, an tu me prodidisti?

equidem fateor et prae me fero: cum duos armatos viderem, ad fortiorem confugi.’

‘Bitte, Encolpius, ich appelliere an dein treues Gedächtnis: Habe ich dich sitzen lassen, oder hast du mich preisgegeben? Ich jedenfalls gestehe und bekenne: Als ich euch beide in Waffen sah, floh ich zum Stärkeren.’

Aufgrund seiner Liebe zu dem Jungen verzeiht Encolpius ihm trotz dieser lahmen Erklärung den Verrat. Ingesamt gesehen verursacht Giton Encolpius durch sein kapriziöses Wesen viel Liebeskummer. 72

Als Giton sich schließlich für Encolp entscheidet, hält er in den nachfolgenden Szenen zu ihm. Dies dokumentiert die Schiffbruchsszene im 114. Kapitel. Das Schiff des Lichas gerät in Seenot. Der von übertriebener Tragik und Pathos geprägte Dialog der beiden Liebenden erinnert stark an ähnliche Gespräche der verzweifelten Paare aus griechischen Liebesromanen (vgl. z.B. Xen. Eph. 2.1.1-5). Zudem weisen Petrons Anti-Helden auf ihre angebliche Tugendhaftigkeit hin, was angesichts ihrer Vergangenheit lächerlich erscheint.

Giton möchte in dieser Szene seine Treue beweisen: Er hält in der lebensbedrohlichen Situation zu Encolpius und versucht den Gedanken des baldigen Todes besser ertragen zu können, indem er sich und seinem Gefährten klar macht, dass sie wenigstens gemeinsam sterben werden (Petr. Sat. 114.11-12):

‘si nihil aliud, certe diutius’ inquit ‘iuncta nos mors feret, vel si voluerit <mare> misericors ad idem litus expellere, aut praeteriens aliquis tralaticia humanitate lapidabit, aut, quod ultimum est iratis etiam fluctibus, imprudens harena componet.’

‘Hilft es auch sonst nichts, so werden wir wenigstens im Tode länger vereint dahintreiben, und wenn uns das Meer barmherzig an die gleiche Küste spült, wird einer, der vorübergeht, uns den üblichen Dienst erweisen und Steine auf uns legen, oder – was auch zürnende Wogen als letzte Gunst gewähren – fühlloser Sand begräbt uns.’

Auch als Encolp später an Impotenz leidet, reagiert Giton, ganz im Gegensatz zu der beleidigten und wütenden Circe, mit liebevollem Spott (Petr. Sat. 128.7):

‘Itaque hoc nomine tibi gratias ago, quod me Socratica fide diligis. non tam intactus Alcibiades in praeceptoris sui lectulo iacuit.’

‘So danke ich dir deshalb, weil du mich mit sokratischer Unschuld liebst. So unberührt lag Alkibiades nicht in seines Meisters Bett.’

Giton scheint Encolp trotz vorheriger Unentschlossenheit also wirklich zu lieben. Jedoch nimmt Giton nicht nur die Rolle von Encolpius’ Liebhaber ein, er übernimmt auch die Aufgaben eines Dieners bzw. Sklaven. In 26.10 wird sogar explizit vom „Sklavendienst“

72 Weitere Szenen, die dies belegen, wurden in Kapitel B besprochen.

(servilum officium) des Knaben gesprochen. Giton bereitet Encolpius und Ascyltos zu Beginn des neunten Kapitels das Frühstück (Petr Sat. 9.2) und trocknet während des Dinners bei Trimalchio, in dessen Rahmen man auch das Bad des Hausherrn aufsucht, die Kleidung seiner Gefährten (Petr. Sat. 73.2). In 117.11. trägt Giton selbstverständlich das Gepäck der Gefährten, ebenso wie der Diener Corax. Männliche Sklaven, die ebenfalls als pueri bezeichnet wurden, konnten ebenso als Liebhaber vom pater familias ausgewählt werden.

Hier besteht jedoch der Unterschied, dass Encolp gewiss nicht in dieser Position Giton gegenübersteht, insofern erscheint diese von dem Knaben eingenommene Rolle merkwürdig.

Schließlich kann festgehalten werden, dass Giton wegen seiner Schönheit und seines wankelmütigen Wesens durchaus dem vom lyrischen Ich bei Martial gezeichneten Idealbild eines puer recht nahe kommt. Für Encolpius bedeuten die geforderten Eigenschaften eines Lustknaben keinen Lustgewinn, sondern sind vielmehr den Ursprung großen Liebesleids.

Man kann darüber hinaus aber nicht sagen, dass Giton sexuell hemmungslos agiert, er ist, wie vor allem T. Wade Richardson herausstellt,73 eher der passive Sexualpartner. Jedoch – und dies spricht gegen die These von Richardson, dass mit Giton der Eromenos einer päderastischen Beziehung dargestellt sei –, verhält er sich auf diese Weise gegenüber Männern und Frauen.74 Nur in Hinsicht auf den Geschlechtsverkehr mit Pannychis nimmt Giton die aktive Position ein. Er scheint für Encolp echte Liebe im Sinne von Zuneigung zu empfinden, was für einen Eromenos gegenüber seinem Erastes freilich undenkbar war, wie in Kapitel A, Abschnitt 3 ausgeführt wurde. Weiter ist es ungewöhnlich, dass Giton, wenn er als Eromenos gesehen werden soll, zwei Erasti, nämlich Ascyltos und Encolpius hat. Ein solcher Knabe wurde in Rom mit einer Frau verglichen. Überhaupt zeigt Giton Eigenschaften, die üblicherweise Frauen zugeschrieben werden:

[…] he knows how to cook, he demonstrates providence, intuition and diplomacy (necessary, more than on one occasion, to calm the exalted temper of Encolpius); and, above all, he is gifted with a beauty that charms and disarms everyone.75

Die von Giton eingenommenen Geschlechterrollen changieren somit zwischen den Kategorien ,männlich’ und ,weiblich’, was auch durch Encolpius’ Aussage in 81.5. gestützt wird. Damit wird deutlich, dass Petron zwar auf zweitgenössische Normen in Bezug auf Sexualität rekuriert, diese jedoch durchgehend außer Kraft setzt.

73 Richardson (1984), S. 116.

74 Vgl. Petr. Sat. 20.8; 79.9; 113.5ff. und 133.2.

75 Leão (2008), S. 99.

2.3 Ascyltos und Eumolpos – Encolps Rivalen