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Gesundheitsrisiken und Gesundheitsförderung in der Erwerbsarbeit der Erwerbsarbeit

Im Dokument Exit from Work (Seite 35-54)

2.2 Erwerbsarbeit und Gesundheit

2.2.1 Gesundheitsrisiken und Gesundheitsförderung in der Erwerbsarbeit der Erwerbsarbeit

Gesundheit und Arbeit ist ein viel erforschter Gegenstand, und eine umfassende Darstellung des Forschungsstandes im Hinblick auf die Wirkungszusammenhänge würde an dieser Stelle zu weit führen. Zielführender ist es, zunächst eine begriffliche Klärung von Arbeitsfähigkeit, Leis-tungsfähigkeit, Erwerbsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit vorzunehmen, um eine Verständ-nisbasis für die unterschiedlichen fachlichen Einbettungen dieser Begriffe zu entwickeln.

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Anschließend werden ausgewählte statistische Daten zur gesundheitlichen Lage von Beschäftig-ten in Deutschland präsentiert. Bevor auf gesundheitliche Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt eingegangen wird, erfolgt ein kurzer Abriss der Wirkzusammenhänge zwischen Arbeitsbelas-tungen und gesundheitlichen Risikofaktoren anhand des arbeitspsychologischen Stressmodells.

Abschließend wird das vielfältige Spektrum gesundheitsfördernder Maßnahmen im betriebli-chen Kontext und deren flankierenden sozialpolitisbetriebli-chen Diskurses skizziert.

Begriffsbestimmung der Fähigkeitskonzepte

Gesundheitliche Problemlagen einer Person können im Kontext der beruflichen Tätigkeit dazu führen, dass die Fähigkeiten, diese Tätigkeit auszuüben, eingeschränkt werden. In fachlichen Kontexten spricht man demnach von Arbeitsunfähigkeit, eingeschränkter Leistungsfähigkeit bzw. eingeschränktem Leistungsvermögen, Erwerbsunfähigkeit oder verminderter Beschäfti-gungsfähigkeit. An dieser Stelle ist es von Bedeutung, die Begriffe Leistungsfähigkeit, Arbeits-fähigkeit und BeschäftigungsArbeits-fähigkeit genauer zu betrachten, da sich je nach fachlicher Perspektive unterschiedliche Konzepte und Handlungsansätze dahinter verbergen.

Leistungsfähigkeit ist stark in der Arbeitsphysiologie verankert. Hier bezog sie sich lange Zeit primär auf die körperliche Leistungsfähigkeit und hat inzwischen eine Erweiterung erfahren auf

„die Gesamtheit aller Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Mensch in die Realisierung einer Arbeitsaufgabe einbringen kann“ (Sargirli 2007, S. 787). Dieses Verständnis bezieht sich aus-schließlich auf das Individuum, ohne eine Relation zu den Arbeitsanforderungen herzustellen.

Bedeutung erhält dieses Modell einer isolierten Betrachtung menschlicher Fähigkeiten und Fer-tigkeiten in sozialrechtlichen und arbeitsmedizinischen Kontexten.

Ein Ansatz, der die Relation zwischen individuellen Voraussetzungen und dem Erwerbskontext beschreibt, ist das Modell der Arbeitsfähigkeit. Erstmals publiziert von Ilmarinen und Tempel (2002) ist das ‚Haus der Arbeitsfähigkeit’ (work ability house) (Abbildung 1) das Ergebnis zahl-reicher Studien des finnischen Instituts für Arbeitsmedizin, die seit den 1990er Jahren die ge-sundheitliche Lage von Beschäftigten unterschiedlicher Altersgruppen und in unterschiedlichen Industriesektoren untersuchten22.

22 Auf Basis dieser Studien entwickelte das finnische multidisziplinäre Forscherteam ebenfalls den Work Ability Index (WAI), ein Instrument zur Erfassung der Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten. Erfragt werden anhand von sieben Dimensionen Arbeitsanforderungen, Gesundheitsstatus und Ressourcen. Der WAI ist inzwischen in 25 Sprachen übersetzt und hat sich u. a. als geeignetes Screeninginstrument zur Feststellung von Präventionsbedarf (Olbrich, Beblo et al. 2010) zur Messung der Wirksamkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen BAuA (2013) oder zur Erken-nung von Rehabilitationsbedarf im Rahmen betrieblicher Vorsorgeuntersuchungen erwiesen (Bethge, Spanier et al.

2014).

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Abbildung 1: Work Ability House (nach: Finnish Institute of Occupational Health)

Das Modell bildet unterschiedliche Faktoren ab, die innerhalb und außerhalb des Erwerbskon-textes die Arbeitsfähigkeit determinieren. Bezogen auf den Erwerbskontext bildet die physische und psychische Gesundheit (1. Etage) die Grundlage von Arbeitsfähigkeit, durch Qualifikation und Kompetenz (2. Etage) werden Mitarbeiter befähigt, den Anforderungen ihrer Tätigkeit ge-recht zu werden. Befinden sich Einstellungen und Motivation (3. Etage) im Einklang mit der Tätigkeit, ist eine gute Arbeitsfähigkeit gewährleistet. Das 4. Stockwerk der Arbeit umfasst die Arbeitsaufgaben und Anforderungen, das Arbeitsumfeld (Vorgesetzte und Kollegium) sowie die Arbeitsstruktur und Arbeitsumgebung. Symbolisch ausgedrückt liegen alle anderen Stockwerke unter diesem vierten, und es drückt „mit seinem Gewicht auf die unteren – alles, was hier pas-siert, hat deutliche Auswirkungen auf alle vorher genannten Stockwerke“ (Ilmarinen 2011, S.

23). Laut Ilmarinen liegen die Gründe für die Abnahme von Arbeitsfähigkeit zu 60 % im vierten Stockwerk und sind Folgen mangelnder Arbeitsgestaltung und eines bestimmten Führungsver-haltens. Die restlichen 40 % fallen in den Bereich des Individuums (ebd., S. 25). Außerhalb des Erwerbskontextes liegende Einflussfaktoren umfassen sowohl das persönliche Umfeld der Beschäftigten bzw. des Beschäftigten als auch gesellschaftliche, kulturelle, politische und recht-liche Rahmenbedingungen.

Folgt man diesem Ansatz, kann Arbeitsfähigkeit nur gefördert werden, wenn alle Stockwerke des Arbeitsfähigkeitshauses in Handlungsfelder übertragen werden und gleichzeitig die außer-halb des Erwerbskontextes liegenden Lebensbereiche Berücksichtigung finden. Neben gesund-heitsfördernden Maßnahmen für Beschäftigte sind Arbeitgeber demnach aufgefordert,

SOCIETY CULTURE LEGISLATION EDUCATION POLICY SOCIAL AND HEALTH POLICY

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förderliche Rahmenbedingungen herzustellen, wie z. B. durch Alters- und Gesundheitsmanage-ment, Weiterbildungsmöglichkeiten und Reflexion des Führungsverhaltens, sowie eine Kultur einer lebensphasen- und lebenslagenorientierter Personalpolitik zu entwickeln. Gleichzeitig appelliert dieses Modell an politische Entscheidungsträger, diese Entwicklungen mit entspre-chenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zu begleiten.

Eine weitere Perspektive auf erwerbsbezogene Fähigkeiten gewährt das Konzept der Beschäfti-gungsfähigkeit (employability), wobei die vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Terminus zeigt, dass er vielseitig eingesetzt und unterschiedlich definiert wird (vgl. Gebauer 2016)23. In der vorliegenden Arbeit wird sich am Modell von Guilbert, Bernaud et al. (2016) orientiert, die es als ein komplexes, dynamisches und sich entfaltendes Beziehungsgeflecht zwischen politi-schen Richtlinien, Organisationsstrategien, individuellen Charakteristiken sowie den sozialen, ökonomischen, kulturellen und technischen Rahmenbedingungen (Abbildung 2) definieren.

Dieses Beziehungsgeflecht bestimmt die Chance zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit und den Verbleib in der Erwerbsarbeit. Die Autoren dieser Definition weisen in ihrer aktuellen Über-sichtsarbeit zum Konzept der Beschäftigungsfähigkeit darauf hin, dass noch zu wenige Er-kenntnisse über die Beziehungsdynamik der benannten Aspekte vorliegen; insbesondere über die Operationalisierung und die Dimensionen von Beschäftigungsfähigkeit und Beschäftigungs-unfähigkeit, im Hinblick auf ältere Beschäftigte (50+) sowie über den Einfluss von Gesundheit und interkulturelle Aspekte.

Abbildung 2: Das Modell von Beschäftigungsfähigkeit (aus: Guilbert, Bernaud et al. 2016, S. 80)

23 In der Forschungspraxis wird Beschäftigungsfähigkeit häufig als Erweiterung des Arbeitsfähigkeitsmodells ver-standen. Arbeitsfähigkeit ist demnach Voraussetzung für Beschäftigungsfähigkeit (vgl. auch DGUV 2015d).

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Diese kurz umrissene wissenschaftliche Betrachtung von Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zeigt, dass auf konzeptioneller Ebene weiterhin ein Forschungsbedarf besteht. Zugleich finden die Erkenntnisse dieses Gegenstandes, insbesondere das Verhältnis zwischen individuellen Fähigkeiten und Kontextfaktoren, bereits Berücksichtigung im Bereich der Sozialversicherung in Deutschland. Dies zeigt der Blick in das Glossar der Deutschen Gesetzlichen Unfallversiche-rung „Demografische Begriffe mit Bezug zur Arbeitswelt“ (DGUV 2015d), in dem sich diffe-renziert mit dem Begriff der Arbeitsfähigkeit auseinandergesetzt und der Begriff der Beschäfti-gungsfähigkeit eingeführt wird.

„Arbeitsfähigkeit (Work ability) beschreibt das Potenzial, eine bestimmte Aufgabe im Arbeitsleben zu einem gegebenen Zeitpunkt zu bewältigen. Sie definiert das Verhältnis von individueller Leis-tungsfähigkeit zur jeweiligen Arbeitsanforderung und wird beeinflusst durch individuelle Faktoren (physische, psychische und soziale Gesundheit, Kompetenzen/Qualifikation und Einstellungen) und Faktoren aus der Arbeit (Arbeitsumgebung, soziales Umfeld, physische und psychische Ar-beitsanforderungen, Management und Führung).

Oder:

Arbeitsfähigkeit beschreibt, inwieweit Arbeitnehmer in der Lage sind, ihre Arbeit angesichts der Arbeitsanforderungen, Gesundheit und mentalen Ressourcen zu erledigen. Arbeitsfähigkeit ist Voraussetzung für Beschäftigungsfähigkeit.“ (ebd., o. A.)

„Beschäftigungsfähigkeit (Employability) ist die Fähigkeit zur Partizipation am Arbeits- und Be-rufsleben. Diese individuelle Fähigkeit ermöglicht, fachliche, persönliche, soziale und methodi-sche Kompetenzen unter sich wandelnden Rahmenbedingungen zielgerichtet anzupassen und ein-zusetzen, um eine Erwerbsfähigkeit zu erlangen und zu erhalten. Beschäftigungsfähigkeit setzt Arbeitsfähigkeit voraus.“ (ebd., o. A.).

Im Glossar der Deutschen Rentenversicherung (DRV 2013) „Sozialmedizinisches Glossar der Deutschen Rentenversicherung“ werden Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit nicht aufgeführt. Hier finden sich wiederum Definitionen zur Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsfähigkeit und Leistungsfähigkeit. Arbeitsunfähigkeit wird bspw. wie folgt definiert:

„Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. [...] Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn aufgrund eines be-stimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Fol-gen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.“ (ebd., S. 27)

Diese Definition ist stark an medizinischen Wirkzusammenhängen orientiert und verweist nur begrenzt auf das Verhältnis zwischen individuellen und kontextualen Faktoren. Es muss einge-räumt werden, dass sich dieses Glossar nicht direkt mit dem der DGUV vergleichen lässt, da letzteres in einem anderen Kontext entstanden ist. Das Glossar der DRV richtet sich primär an sozialmedizinische Sachverständige, das der DGUV wurde aus dem Arbeitskreis „Folgen des demografischen Wandels“ heraus entwickelt. Dennoch wäre es interessant zu beobachten, ob

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und in welcher Form sich die Konzepte von Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit im sozialmedizinischen Kontext zukünftig widerspiegeln werden.

Ob Arbeits- oder Beschäftigungsfähigkeit – deutlich wird bei beiden arbeitsmarktpolitischen Begrifflichkeiten eine starke und dynamische Beziehung zwischen den individuellen Vorausset-zungen, den Anforderungen der Tätigkeiten, dem Arbeitsmarkt, politischen Zielsetzungen und intermediären „Vermittlungssystemen“ (Nuissl 2003) die determinieren, ob, wie zufrieden und wie lange eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann. Mit Blick auf den vorliegenden Unter-suchungskontext der Rehabilitation stellt der Begriff der Beschäftigungsfähigkeit dabei die ganzheitlichere Zielkategorie dar. Eine in diesem Zusammenhang durchgeführte Untersuchung von Gebauer (2016) wirft u. a. die Fragen auf, wie berufliche Rehabilitandinnen und Rehabili-tanden ihren beruflichen Wiedereingliederungsprozess erleben und bewerten und in welchem Verhältnis ihre „Deutungsmuster“ (ebd., S. 207ff) mit den Konzepten von Beschäftigungsfähig-keit stehen; eine Orientierungsgröße, die im rehabilitationspädagogischen Ansatz als Entwick-lung von beruflicher HandEntwick-lungs- und Integrationskompetenz konzeptionell verortet ist. Vor dem Hintergrund der in ihrer Studie entworfenen vier Deutungsmustertypologien zeigt Gebauer auf, dass sich in Bezug auf die individuellen „Argumentationslinien, was als wichtig für die Auf-nahme und den Erhalt eines Beschäftigungsverhältnisses benannt wird, Parallelen zu den ausge-hend vom Begriff der Beschäftigungsfähigkeit entwickelten Konzepte erkennen [lassen]“ (ebd., S. 268). Entscheidend sind hier die unterschiedlichen Akzentuierungen dieser Parallelen, die zum einen auf eine hohe Bedeutung der gesundheitlichen Problemlagen für die antizipierte Leistungsfähigkeit im Beruf verweist (z. B. Wie gelingt der Balanceakt zwischen Anforderung und Überforderung?) und zum anderen den Einfluss berufsbiographischer Komponenten für die Zukunftserwartungen herausstellt (Kann man sich mit den erworbenen Qualifikationen gegen-über Mitbewerbern durchsetzen?).

Daten zur gesundheitlichen Lage Beschäftigter in Deutschland

Einen differenzierten Ausschnitt der gesundheitlichen Lage von Beschäftigten in Deutschland verschafft der jährlich veröffentlichte Fehlzeitenreport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und der Universität Bielefeld. Dieser liefert Daten und Analysen zu den gesund-heitsbedingten Fehlzeiten der erwerbsfähigen AOK-Mitglieder in 21 Branchen der deutschen Wirtschaft24. Aus dem aktuellen Bericht (Badura, Ducki et al. 2016) geht hervor, dass im Jahr

24 Bundesweit lag laut Statistischem Bundesamt der durchschnittliche Krankenstand, d. h. der Umfang der Krank-meldungen durch Beschäftigte, 2015 bei 4,0 % mit einer durchschnittlichen Dauer von 10 Tagen.

(www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/ Dimension2/23Krankenstand.html, abgerufen am:

06.05.2017).

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2015 jeder Beschäftigte im Durchschnitt 19,5 Tage arbeitsunfähig erkrankt war. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems stellten mit 21,8 % die häufigste Ursache von Fehlzeiten dar, ge-folgt von Atemwegserkrankungen (13,0 %), Verletzungen (10,8 %), psychischen Erkrankungen (10,5 %) sowie Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems und der Verdauungsorgane (6,1 bzw. 5,2 %) (ebd., S. 251). Auffallend war insbesondere die Zunahme der Fehltage auf Grund psychischer Erkrankungen seit 2004 um knapp 72 %. Psychisch erkrankte Beschäftigte wiesen mit rund 25,5 Tagen mehr als doppelt so lange Ausfallzeiten als der Durchschnitt mit 11,6 Tagen auf. Der Krankenstand war in der Branche ‚Energie, Wasser, Entsorgung und Berg-bau’ – bedingt durch Arbeitsunfälle – mit 6,5 % am höchsten. Auch die öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung verzeichnete hohe Krankenstände mit 6,3 %. Am niedrigsten lag der Krankenstand in der Branche der Banken und Versicherungen mit 3,7 %. Psychische Erkran-kungen traten gehäuft in der Branche ‚Gesundheits- und Sozialwesen’ auf (ebd., S. 252). Mit Blick auf das Lebensalter geht aus dem Bericht hervor, dass ältere Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter seltener krank waren, sie allerdings über einen längeren Zeitraum ausfallen, wenn sie erkranken. In der Altersgruppe der 60- bis 64-jährigen waren zunehmend Muskel- und Skelet-terkrankungen sowie Herz- und Kreislauferkrankungen zu verzeichnen. Von psychischen Erkrankungen waren am häufigsten die 30- bis 39-Jährigen betroffen. Allgemein zeigten sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf den Krankenstand (bei beiden Gruppen ca. 5,2 %); es gab jedoch signifikante Unterschiede in Bezug auf das Krankheitsspekt-rum. Die Fehltage waren bei Männern häufiger als bei Frauen durch Muskel- und Skeletter-krankungen begründet (23 % bzw. 20,2 %). Bei Frauen gingen die Fehltage häufiger als bei Männern auf psychische Erkrankungen zurück (13,5 % bzw. 8,1 %) (ebd., S. 343).

Aufschluss über die gesundheitliche Lage gibt neben den gesundheitsbedingten Fehltagen die Erwerbsminderungsstatistik der DRV (2015a). Im Jahr 2014 wurden rund 1,36 Millionen Ren-ten in Deutschland neu bewilligt, davon rd. 171 Tausend ErwerbsminderungsrenRen-ten (EM-Renten)25. Die Diagnosegruppe der psychischen Störungen und Verhaltensstörungen (F00-F99) nahm 2014 mit 43,1 % den größten Anteil der EM-Renten ein und stieg seit 1995 (28,9 %) deut-lich an. Zweitgrößte Diagnosegruppe waren Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes mit 12,9 %. Deren Anteil nimmt seit 1995 (28,9 %) stetig ab. Von den rund 73 Tsd. EM-Rentenzugängen wegen psychischer Störungen und Verhaltensstörungen im Jahr

25 Der Anteil der EM-Renten an den Rentenzugängen hat deutlich abgenommen. 1996 betrug der Anteil noch rd. 280 Tausend EM-Renten. Vermutete Faktoren hinter diesem Rückgang sind verschärften Zugangsvoraussetzungen, die sinkenden EM-Rentenzahlbeträge oder demographische Effekte, aber auch ein verbesserter Gesundheitszustand und verbesserte Beschäftigungschancen für Ältere (vgl. www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/142660/strukturen-und-trends, Zugang: 24.07.2016).

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2014 lag der größte Anteil mit rd. 57 % bei den Frauen. Bei Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes war kaum ein Unterschied zwischen Männern und Frauen fest-zustellen (49,6 % bzw. 50,4 %). Das Durchschnittsalter bei Rentenbeginn wies hingegen deutli-che Unterschiede zwisdeutli-chen beiden Hauptdiagnosegruppen auf und lag – sowohl bei Frauen als auch bei Männern – bei psychischen Störungen und Verhaltensstörungen bei rd. 49 Jahren und bei Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes bei rd. 55 Jahren.

Im Hinblick auf das Krankheitsspektrum lassen sich in Bezug auf psychische Erkrankungen die deutlichsten Unterschiede zwischen den Statistiken des Fehlzeitenreports und der DRV ermit-teln. Psychische Erkrankungen führen zwar zu weniger Fehlzeiten als Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems, führen jedoch zu längeren Fehltagen und stehen erster Stelle bei den neu be-willigten EM-Renten. Für beide Settings gilt, dass psychische Erkrankungen statistisch gesehen stetig zunehmen. Es lässt sich hier nur vermuten, dass die Krankschreibung auf Grund einer psychischen Erkrankung aus Angst vor Stigmatisierung am Arbeitsplatz eher nicht in Anspruch genommen wird, aber langfristig gesehen zu so massiven Teilhabeeinschränkungen führen kann, dass die EM-Rente als einziger Ausweg erscheint. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass eine hohe Anzahl von Beschäftigten trotz hoher psychischer Belastung täglich zur Arbeit geht.

Arbeitspsychologisches Stressmodell

Welche Faktoren der Erwerbsarbeit sind es, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken?

Bevor diese Frage beantwortet wird, soll zunächst umrissen werden, wie sich Arbeitsbelastun-gen in Risikofaktoren für die Gesundheit entwickeln können. Unterschiedliche Stressmodelle aus dem Fachgebiet der Psychologie bieten hier Erklärungsansätze. In der deutschen Arbeits-wissenschaft haben sich insbesondere das Belastungs-Beanspruchungskonzept (Rohmert und Rutenfranz 1975) und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) durchgesetzt.

Weithin akzeptiert ist darüber hinaus auch das transaktionale Stressmodell (Lazarus und Folkman 1984). Statt auf die einzelnen Stressmodelle einzugehen, wird an dieser Stelle ein arbeitspsychologisches Modell herausgegriffen, das als Erweiterung des transaktionalen Stress-modells zu verstehen ist und dabei einen starken Anwendungsbezug aufweist. Bamberg et al.

(Greif 1991; Bamberg, Busch et al. 2003; Bamberg, Keller et al. 2012) haben damit ein Konzept entwickelt, das prozesshaft Stressoren, Risikofaktoren und Stressfolgen abbildet und gleichzei-tig die Rolle der Ressourcen sowie Aspekte der individuellen Bewertung und Bewälgleichzei-tigung um-fasst. Arbeitsstress gilt in diesem Konzept als ein unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung heraus entsteht, dass eine aversive, subjektiv zeitlich nahe (oder bereits eingetrete-ne) und subjektiv lang andauernde Situation nicht vollständig kontrollierbar ist und deren Ver-meidung als subjektiv wichtig bewertet wird (Greif 1991). Auslöser von Stressprozessen werden

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auf der Ebene der Arbeitsbedingungen und auch auf der personenbezogenen Ebene verortet.

Stressoren aus dem Arbeitskontext können sich aus den Arbeitsbedingungen und Arbeitsaufga-ben ergeArbeitsaufga-ben wie z. B. Umweltbelastungen oder Zeitdruck. Zu den personenbezogenen Faktoren zählen Erkrankungen oder emotionale Belastungen. Diese Einflussgrößen bedingen in ihrer Gesamtheit den Stressprozess, d. h. ein Stressor oder Risikofaktor ist nicht für jeden Menschen stressauslösend (Bamberg, Keller et al. 2012, S. 13). Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit körperlicher oder psychischer Belastungen, wenn bestimmte Arbeitsbedingungen, wie z. B.

schwere körperliche Arbeit oder Zeitdruck, über einen längeren Zeitraum erbracht werden müs-sen bzw. anhalten. Ob Stress entsteht, hängt zudem von Bewertungs- und Bewältigungsprozes-sen ab. Anknüpfend an das transaktionale Stressmodell wird zwischen primären Bewertungen (ob der Stressor als positiv, gefährlich oder irrelevant bewertet wird) und sekundären Bewertun-gen (Einschätzung der verfügbaren Ressourcen zur Stressbewältigung) unterschieden. Im Kon-text der Stress-Bewältigung, aber auch zur Stressvermeidung und Minderung der Stressfolgen, spielen Ressourcen eine zentrale Rolle. Auch diese werden unterteilt in bedingungsbezogene und personenbezogene Ressourcen. Ressourcen im Arbeitskontext sind bspw. der Handlungs-spielraum, Autonomie und soziale Unterstützung. Personenbezogene Ressourcen umfassen so-ziale Kompetenzen oder Bewältigungsstrategien. Zu den Stressfolgen, die im arbeitspsychologi-schen Stressmodell benannt werden, zählen kurz- oder langfristige Auswirkungen auf somatischer, kognitiv-emotionaler und verhaltensbezogener Ebene, z. B. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, Depression, Burnout oder Präsentismus26/Absentismus sowie negati-ves Gesundheitsverhalten. Das arbeitspsychologische Stressmodell weist einen starken Anwen-dungsbezug auf, denn es ermöglicht einen Fokus auf Stressoren und Risikofaktoren und zu-gleich eine Konzipierung zielgerichteter Interventions- bzw. Unterstützungsmöglichkeiten auf individueller Ebene wie auch im Arbeitskontext. Es bietet zugleich Ansätze für Prävention und Rehabilitation. Abbildung 3 illustriert das arbeitspsychologische Stressmodell.

26 Präsentismus bezeichnet das Phänomen, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen. Die Präsentismusrate ist besonders hoch in den Berufsfeldern Pflege, Betreuung und Bildung (Aronsson, Gustafsson et al. 2000; Gerstenberg, Storm et al. 2013; Habermann-Horstmeier und Limbeck 2016). In der Präsentismusforschung werden umfassend die Produkti-vitätseinbußen durch Präsentismus untersucht (Wilke, Elis et al. 2015), während nur wenig über die Ursachen und individuellen Beweggründe für dieses Verhalten bekannt ist (Steinke und Badura 2011).

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Abbildung 3: Arbeitspsychologisches Stressmodell (nach: Bamberg, Keller et al. 2012)

Psychische und körperliche Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt

Im nationalen und internationalen Bereich liegen eine Vielzahl von Studien vor, die Auswirkun-gen bestimmter ArbeitsbedingunAuswirkun-gen und –faktoren auf die körperliche und auf die psychische Gesundheit der Beschäftigten untersuchen, z. B. Überstunden und Schichtarbeit (Harrington 2001; Virtanen, Stansfeld et al. 2012), Zeitarbeit (Siemund 2013), Mobbing (Einarsen und Niel-sen 2015) oder Flexibilisierung (Blossfeld, Hofäcker et al. 2008; Ferrie, Westerlund et al. 2008;

Galais, Sende et al. 2012) und Arbeitsplatzunsicherheit (Laszlo, Pikhart et al. 2010; Ferrie, Kivimäki et al. 2013; Virtanen, Nyberg et al. 2013; Barrech, Baumert et al. 2016b) sowie stän-dige Erreichbarkeit (Hassler und Rau 2016) auf die im Einzelnen aber nicht eingegangen wer-den kann. Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine aktuelle Veröffentlichung von Rau (2015), die auf Basis einer systematischen Literatursuche nach Metaanalysen und systematischen Reviews ermittelte, welche psychischen Belastungen nach aktuellem Stand der Wissenschaft als gesi-cherte Risikofaktoren für Gesundheitsbeeinträchtigungen gelten können. Gesundheitsgefähr-dend sind nach ihrer Analyse:

x hoher Job Strain (d. h. die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität),

x iso-strain (d. h. die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität bei gleichzeitig geringer sozialer Unterstützung),

x hohe Arbeitsintensität (Job demand), x geringer Handlungsspielraum (Job control),

Stressfolgen

(kurz- und langfristig)

Somatisch

Kognitiv-emotional

Verhalten

Bewertung Bewältigung Stressoren

Bedingungsbezogen

Risikofaktoren

Personenbezogen

Ressourcen

Bedingungsbezogen

Ressourcen

Personenbezogen

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x Effort-Reward-Imbalance (Ungleichgewicht zwischen erlebter beruflich geforderter Leistung und dafür erhaltener Belohnung/Wertschätzung),

x Überstunden,

x Schichtarbeit (mit Einschränkungen), x geringe soziale Unterstützung, x Rollenstress,

x Bullying/aggressives Verhalten am Arbeitsplatz und x Arbeitsplatzunsicherheit (ebd., S. 35).

Für den deutschsprachigen Raum liefert der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2012)27 in Bezug auf Faktoren, die sich belastend auf die Gesund-heit auswirken können, wichtige Erkenntnisse. Im Hinblick auf die psychische GesundGesund-heit sind

Für den deutschsprachigen Raum liefert der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2012)27 in Bezug auf Faktoren, die sich belastend auf die Gesund-heit auswirken können, wichtige Erkenntnisse. Im Hinblick auf die psychische GesundGesund-heit sind

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