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Fazit und Forschungsimpulse

Im Dokument Exit from Work (Seite 97-108)

Ziel der Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln war es, die einzelnen Forschungsbe-züge dieser Untersuchung darzustellen. Zunächst erschien es als bedeutsam, sich im Kontext gesundheitsbedingter erwerbsbiographischer Brüche, ein grundlegendes Verständnis über die Bedeutung von Erwerbsarbeit zu schaffen. Zusammenfassend gilt, dass Erwerbsarbeit gesund-heitsfördernd und sinnstiftend sein kann und eine „Wirkung, sowohl für die Stellung des Ein-zelnen in der Gesellschaft als auch für seine Identitätsentwicklung erhält“ (Kardorff und Ohlbrecht 2006, S. 27). Eine weitere zielführende Erkenntnisgrundlage bot die Auseinanderset-zung mit dem Wandel der Erwerbsgesellschaft mit Fokus auf die damit in Verbindung stehenden veränderten Beschäftigungsformen, Arbeitsbedingungen und Anforderungen an Beschäftigte, wie z. B. Flexibilisierung, Mobilität und Belastungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass diese Anforderungen ein hohes Belastungspotenzial für die Gesund-heit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufweisen und zugleich arbeitsmarktspezifische Zugangsbarrieren z. B. für Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, insbesondere für psychisch erkrankte Personen, darstellen können, da sie die Anforderungen des Arbeitsmarktes bzw. bestimmter Tätigkeiten nicht erfüllen können.

Die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Biographie- und Lebenslaufforschung liefer-te zahlreiche methodische Ansatzpunkliefer-te, um die Deutung der erlebliefer-ten Brüche und die Gestal-tung des weiteren Erwerbsverlaufs aus dem Blickwinkel des Biographiekonzepts zu betrachten,

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d. h. zu verstehen, dass Bewertungen und Entscheidungen innerhalb eines individuellen Sinnzu-sammenhangs vollzogen werden. Dieser Zugang ermöglicht zudem, Brüche in ein Verhältnis mit der umgebenen Sozialwelt und den individuellen Erfahrungs- und Handlungsspielräumen zu setzen. Dahinter steht das Konzept, dass biographische Verläufe einerseits durch (veränderte) Sozialwelten geformt werden und damit objektive Strukturen aufweisen. Andererseits unterlie-gen biographische Verläufe subjektiver Verarbeitung und Formung durch die Erzeugung neuer Strukturen, wenn Erfahrungs- und Handlungsspielräume individuell ausgelegt werden. Insbe-sondere gilt dies für die sich stetig vollziehenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse und den damit in Verbindung stehenden ausgeweiteten biographischen Handlungshorizonten.

„Damit hat sich auch der Entscheidungs- und insbesondere der Begründungszwang für die Ver-nünftigkeit von getroffenen Entscheidungen erhöht. Die biographischen Konzepte, die der einzelne im Laufe seines Lebens realisieren kann, haben sich derartig vervielfältigt, daß selbst in grundle-genden Bereichen permanent eine Wahl getroffen werden muß. Elementare Fragen der sozialen Lebenspraxis sind immer weniger institutionell zwingend geregelt und werden somit immer weni-ger selbstverständlich im Lebensvollzug „gelöst“, sondern sind durch entscheidungsfähige und entscheidungsnotwendige Handlungsalternativen gekennzeichnet.“ (Fischer und Kohli 1987, S. 40).

Die Biographie dient damit als Orientierungsmuster für Entscheidungsprozesse und bildet gleichzeitig gesellschaftliche Strukturen ab. Im Hinblick auf das etablierte Modell des Lebens-laufes war es wichtig aufzuzeigen, dass seine Ausrichtung an den Institutionen des Bildungs-, Erwerbs- und Rentensystems normative Erfolgskriterien impliziert und ihm eine moralische Bedeutung hinzufügt, nach denen Brüche im Lebenslauf vom Individuum als auch von der Ge-sellschaft als Abweichungen definiert werden können. „Sie [die moralische Bedeutung, S. B.]

schafft einen Maßstab für das richtig gelebte (Erwerbs-) Leben, aber damit auch für das fal-sche.“ (Kohli 2003: 528) Zwar befindet sich der Lebenslauf in einem De-standardisierungsprozess und De-Instutionalisierungsprozess, aber in der aktuellen Forschungs-landschaft, die sich mit Erwerbsverläufen auseinandersetzt, wird Bezug auf die Orientierung an der Normalerwerbsbiographie genommen. Diese Ergebnisse lassen sich als weiterhin bestehen-de Facette institutionalisierter Lebensläufe im Bereich bestehen-der Erwerbstätigkeit interpretieren. In diesem Zusammenhang muss als Fazit des Forschungsstands zu diesem Themenfeld hervorge-hoben werden, dass es nicht zielführend ist, erwerbsbiographische Brüche generell als negativ für eine Gruppe von Menschen oder einzelne Individuen zu bewerten. Ein tiefgehendes Ver-ständnis für die Bedeutung dieses Phänomens ist nur möglich, wenn neben strukturellen und generalisierten Aussagen auch dessen individuelle Sinnzuschreibungen Berücksichtigung finden. Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf können sowohl negative Zuschreibungen als auch positive Zuschreibungen erfahren, abhängig von der Lebensphase, vom Bildungshintergrund, von Erfahrungen, Lebensentwürfen und Ressourcen der Person.

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Im zweiten Teil wurde das Themenfeld der Erwerbsarbeit überführt in den Kontext der Arbeits-welt und dabei gezielt auf die gesundheitlichen Risikofaktoren geblickt. Zum Einstieg erschien es notwendig, eine Verständigung über die Begriffe Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit herzu-stellen, denn dadurch wurde deutlich, dass eine starke und dynamische Beziehung zwischen den individuellen Voraussetzungen, den Anforderungen der Tätigkeiten und der Arbeitswelt besteht.

Besonders zielführend für den Kontext dieser Arbeit erscheint in diesem Zusammenhang die Definition der Beschäftigungsfähigkeit nach Guilbert, Bernaud et al. (2016), denn sie beschreibt ganzheitlich ein Beziehungsgeflecht zwischen politischen Richtlinien, Organisationsstrategien, individuellen Charakteristiken sowie den sozialen, ökonomischen, kulturellen und technischen Rahmenbedingungen, das die Chance zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit und den Verbleib in Erwerbsarbeit determiniert. Zugleich ermöglicht diese mehrdimensionale Modellierung von Beschäftigungsfähigkeit die Übertragung auf praxisnahe Handlungsfelder im Kontext des BGM oder RTW, einschließlich kurativer und rehabilitativer Interventionen.

In Ergänzung zum Modell der Beschäftigungsfähigkeit wurde das arbeitspsychologische Stressmodell herangezogen, um vertiefend die Wirkmechanismen zwischen Stressoren, Risiko-faktoren und Stressfolgen abzubilden und zugleich die Rolle der Ressourcen sowie Aspekte der individuellen Bewertungen und Bewältigung zu beleuchten. Letzterer Aspekt ist von besonderer Bedeutung, denn er betont, dass die Entstehung von Stress und dessen Transformation in kör-perliche oder psychische Belastungen zu einem entscheidenden Anteil von Personenmerkmalen wie den Bewertungs- und Bewältigungsprozessen abhängt. Der Einbezug der Ressourcen in diesem Modell schärft den Blick für unterschiedliche Ressourcen-Ebenen wie den Arbeitskon-text (z. B. Handlungsspielraum), das soziale Umfeld (z. B. soziale Unterstützung im Kollegium und in der Familie) und personenbezogene Faktoren (z. B. Kompetenzen).

Anknüpfend an die bereits angedeuteten Risiken der Arbeitswelt im Zuge des Wandels von Er-werbsarbeit wurde im weiteren Verlauf gezielt auf die bereits gut erforschten Risikofaktoren für die psychische und körperliche Gesundheit eingegangen. Psychische Erkrankungen (mit stetig zunehmender Anzahl) und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems erwiesen sich anhand unterschiedlicher Datenlagen als häufigste Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminde-rungsrenten sowie als häufigste Anlässe für medizinische und berufliche Rehabilitation in Deutschland. Eine hohe Arbeitsintensität oder ein geringer Handlungsspielraum sind Beispiele für typische Risikofaktoren für die psychische Gesundheit, aber auch Arbeitsplatzunsicherheit und das Führungsverhalten der Vorgesetzten können sich negativ auf die subjektive Gesundheit auswirken. Gleichzeitig berichten Führungskräfte in höherem Maße von einer Stresszunahme.

Führt man diese Faktoren mit dem arbeitspsychologischen Stressmodell zusammen, bestätigt

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sich das Theoriemodell durch die Arbeitsrealität und erscheint in dieser Studie als ein geeignetes Instrument, um flankierend die ermittelten Stressoren in der Arbeitswelt einzuordnen.

Im Vergleich zu den Risikofaktoren, die sich negativ auf die körperliche Gesundheit auswirken, weisen die psychischen Risikofaktoren eine hohe Komplexität auf und können nur begrenzt in direkte Kausalzusammenhänge gebracht werden. Anders ist es bei Gefährdungen für die körper-liche Gesundheit. So erschließt sich schnell, dass Tätigkeiten mit begrenzter Ausführungsdauer charakterisiert sind durch z. B. schwere körperliche Arbeiten und Zwangshaltungen, die sich in der Realität nur zu einem gewissen Maße durch Arbeitsschutzmaßnahmen und Hilfsmittel kom-pensieren lassen.

Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der demographischen Entwicklung in Deutschland, der zufolge der Anteil älterer Menschen gegenüber dem Anteil Jüngerer steigt, immer mehr ältere Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen und bereits in einigen Branchen Nach-wuchsmangel zu verzeichnen ist, gewinnen BGM- und Präventionsmaßnahmen an Bedeutung für die Beschäftigten, die Unternehmen und die Sozialversicherungsträger, die letztlich das finanzielle Risiko von Arbeitsausfällen, Rehabilitationsmaßnahmen und Erwerbsminderungs-renten zu tragen haben. Daher sind es insbesondere sozialpolitische Impulse, unter denen in letzter Zeit verstärkt Initiativen und Projekte gefördert wurden, um Handlungshilfen für Unter-nehmen zu entwickeln, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sensibilisieren, und die das Ziel haben, alle Facetten von BGM (Prozesse, Maßnahmen, Führung etc.) in Unternehmenskul-turen zu verankern. Der gesetzliche Rahmen sowie die Vielfalt der Angebote für Unternehmen und Beschäftigte geben allerdings keinen Aufschluss über deren Qualität, Implementierung bzw.

Inanspruchnahme. Dies zeigen auch Zahlen zur eher geringen Inanspruchnahme von Maßnah-men zur betrieblichen Gesundheitsförderung durch die Beschäftigten.

Auf der anderen Seite zum oben genannten ‚Stay at Work’, also dem Erhalt der Beschäftigungs-fähigkeit, stehen Return to Work-Prozesse, die in der Forschungs-, Versorgungs- und Unter-nehmenspraxis gegenwärtig vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Für Deutschland sind es die medizinischen und beruflichen Rehabilitationsleistungen, das betriebliche Eingliederungsma-nagement oder die stufenweise Wiedereingliederung, die zentrale Bausteine für die dauerhafte Rückkehr in das Erwerbsleben und nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit darstellen und mit zu-nehmender Tendenz in Anspruch genommen werden bzw. seitens der Rehabilitationsträger be-willigt (aktuell noch mit Ausnahme der BA) werden.

RTW ist kein einheitlich beschreibbares Konzept oder Modell und demnach nur schwer mess-bar. Vielmehr bezeichnet es sowohl den Endpunkt einer langen Prozesskette der Wiedereinglie-derung in den Arbeitsmarkt als auch deren Strukturen, Prozesse und Determinanten. Es gibt eine

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Vielzahl an nachgewiesenen Faktoren, die eine Rückkehr in Arbeit positiv bzw. negativ beein-flussen; auch lassen sich fördernde Rahmenbedingungen von Interventionen beschreiben. Doch weiterhin besteht die Herausforderung, geeignete und theoriebasierte Forschungsdesigns zu entwickeln, die der Komplexität von den unterschiedlichen Kontexten und möglichen Einfluss-faktoren sowie den individuellen Verläufen (auch aus zeitlicher Perspektive) gerecht werden.

Aus der Zusammenschau betrachtet, besteht in Deutschland noch immer ein erschwerter Zu-gang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung oder gesundheitlichen Einschränkun-gen. Dies machen entsprechende Statistiken besonders greifbar, aus denen z. B. die noch immer hohe Arbeitslosenquote von Behinderten im Vergleich zu Nicht-Behinderten hervorgeht und aus denen die große Anzahl von Unternehmen in Deutschland ablesbar ist, die keine Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung beschäftigen. Positiv ist, dass die Erwerbstätigenquote dieses Personenkreises stetig zunimmt und zahlreiche Initiativen gestartet wurden, Best Practice-Beispiele gelungener Inklusion zu verbreiten und Unternehmen aktiv über Förder- und Unter-stützungsmöglichkeiten zu informieren. Insgesamt scheinen grundlegende Informationsdefizite, aber auch nicht angelegte Strukturen oder Beratungsdefizite als Teilhabebarrieren zu wirken. Im Hinblick auf die Rückkehr an den vorherigen Arbeitsplatz nach einer längeren Krankheitsphase spielen das gegenseitige Vertrauen, sowie der Wille der Beschäftigten und der Arbeitgeber eine entscheidende Rolle für eine gelungene Wiedereingliederung.

Für diese Arbeit stellen die Erkenntnisse eine wesentliche Rahmenbedingung dar, unter der sich sowohl Ausstiegs- als auch Rückkehrprozesse vollziehen. Es zeigt sich daran ein allgemeines Klima des Arbeitsmarktes, der sich Menschen mit Behinderung und Krankheit noch immer ver-schließt, sich aber diese Zielgruppe zunehmend als Arbeitskräfte erschließt.

In unterschiedlichen Zusammenhängen der vorangegangenen Ausführungen z. B. über erwerbs-biographische Brüche oder RTW wurden personale Faktoren immer wieder als wichtige Ein-flussgrößen auf diese Prozesse benannt und die hohe Bedeutsamkeit subjektiver Sinnzuschrei-bungen auf die Bewertung, Verortung und Gestaltung dieser Situationen und Verläufe beleuchtet. Das abschließende Kapitel zum Leben mit bedingter Gesundheit (Kardorff 2012) und den Bewältigungsprozessen chronischer Krankheit betrachtete die Phänomene Gesundheit und Krankheit erneut unter subjektiven Gesichtspunkten. Als ein wichtiges Ergebnis ist festzu-halten, dass beide Zustände nur begrenzt objektiv zu beschreiben sind. Weiterhin konnte anhand unterschiedlicher Modelle und Konzeptionen gezeigt werden, dass die Menschen sich während ihres gesamten Lebens zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit bewegen. Dabei unterlie-gen das Krankheitserleben und Gesundheitshandeln im Alltag subjektiven Bezüunterlie-gen, die in der Gesundheitsforschung unter subjektiven Theorien von Gesundheit und Krankheit beschrieben

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sind. Sozialisationserfahrungen und individuelle Lebenserfahrungen prägen die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, deren Stellung im eigenen Leben sowie Handlungs- und Bewäl-tigungskompetenzen in diesem Zusammenhang.

Weiterführend konnte gezeigt werden, dass hinter diesen Theorien Überzeugungen darüber ste-hen, welche positiven oder negativen Einflüsse auf die eigene Gesundheit möglich sind und wie diese zusammenwirken. Laienkonzepte von Gesundheit und Krankheit bergen immer auch multifaktorielle Ursachenzuschreibungen für die eigene Erkrankung. An dieser Stelle ist heraus-zustellen, dass Gesundheitskonzepte von Frauen tendenziell differenzierter und unter Einbezug der psychischen Dimensionen geformt sind, während bei Männern eher die Dimension der Leis-tungsfähigkeit betont wird.

Ziel dieser Ausführungen war es zu verdeutlichen, dass Alltagsvorstellungen von Gesundheit und Krankheit eine wichtige Bedeutung für die Erklärung des aktuellen Gesundheitsverhaltens und den Umgang mit Krankheit haben wie auch auf die Planung und Implementierung von Präventionsmaßnahmen einen bedeutsamen Einfluss ausüben können.

Als weiterer Aspekt wurde der Umgang mit der Erkrankung herausgegriffen und Bewältigung chronischer Erkrankungen näher beleuchtet, denn im Zentrum dieser Studie stehen Menschen, die sowohl ihre Erkrankung als auch ihre beruflichen Veränderungen bewältigen müssen. Be-wältigung wird hier verstanden als ein Pendeln zwischen Verstehen, Akzeptanz und Ablehnung, und ist geprägt durch die unterschiedlichen Verlaufsphasen der Erkrankung. Damit gewinnt die Unsicherheit als ein grundlegendes Strukturmoment von Krankheitskarrieren an doppelter Be-deutung, denn sowohl der Krankheitsverlauf als auch der berufliche Verlauf sind ungewiss.

Das Verlaufskurvenmodell stellt einen wichtigen Bezugsrahmen der fortlaufenden individuellen Bewältigungsarbeit dar. Es sollte anhand dieser Themenbereichs deutlich werden, dass unter-schiedliche Arbeitsformen auf Ebene der Krankheit, Biographie und Alltag durch die Betroffe-nen, deren Angehörige und durch professionelle Akteure geleistet werden. Dieses Wissen ist umso bedeutender, als dass chronisch kranke Patientinnen und Patienten den größten Anteil bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten wie auch in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrich-tungen einnehmen. Hinzu kommen die Akteure in der Arbeitswelt, die im Verlaufsphasenmodell bisher nur am Rande Berücksichtigung fanden. In diesem Zusammenhang wurden Erkenntnisse herangezogen die belegen, dass die Bewältigung einer chronischen Erkrankung sowie Belastun-gen im Erwerbskontext maßgeblich davon abhänBelastun-gen, auf welche Ressourcen die Betroffenen zurückgreifen und welche sie aktivieren können.

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Ausgehend von diesem Fazit zum Forschungsfeld und Forschungsstand können nachstehende Forschungsimpulse abgeleitet werden, die einerseits auf Forschungslücken verweisen und durch die Verknüpfung der Bereiche Erwerbsarbeit, Gesundheitsrisiken in der Erwerbsarbeit und Be-wältigung von Erkrankungen neue Fragen aufwerfen.

Risiken in der Erwerbsarbeit: Individuelle Einflussfaktoren, Unternehmenskultur und deren Wechselwirkung

Führt man die Erkenntnisse zum Themenspektrum ‚Bedeutung von Erwerbsarbeit und Gesund-heitsrisiken in der Erwerbsarbeit’ zusammen, stößt man auf ein Paradox. Einerseits hat Erwerbsarbeit – unter bestimmten Bedingungen – eine salutogenetische Wirkung. Andererseits birgt Erwerbsarbeit – auch hier unter bestimmten Bedingungen – Risiken für die Gesundheit.

Die positiven und negativen Wirkfaktoren von Erwerbsarbeit auf den Menschen lassen sich u. a.

anhand von epidemiologischen Daten bereits gut abbilden. Die Konzepte von Arbeits- und Be-schäftigungsfähigkeit, das arbeitspsychologische Stressmodell sowie das RTW-Modell bilden die Grundlage, um die mehrdimensionalen Einflussgrößen in der Arbeitswelt in Bezug auf Ausstiegs-, Neuorientierungs- und Rückkehrprozesse zu verorten und um handlungsorientierte Ansätze abzuleiten. Doch Forschung, die sich dem komplexen Bedingungsgefüge gesundheits-bedingter Ausstiegsprozesse widmet, ist rar. Noch weniger ist darüber bekannt, welchen Ein-fluss individuelle Einstellungen zur Arbeit (z. B. Arbeitsethos) oder subjektive Konzepte von Gesundheit und Krankheit auf dieses Wechselspiel ausüben.

Es liegen inzwischen konkrete Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung vor, um gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Diese kommen insbesondere in KMU nur einzelfall-bezogen zum Einsatz bzw. werden insgesamt nur begrenzt durch die Beschäftigten in Anspruch genommen. Ersteres wird begründet mit den fehlenden Strukturen und Ressourcen in KMU, um BGM systematisch und umfassend zu etablieren. In Ansätzen erschließt sich aber bereits, dass auch ein fehlendes Verständnis für deren langfristigen Nutzen seitens der Führungskräfte vor-herrscht und traditionelle Modelle des Arbeitsschutzes als ausreichend empfunden werden.

Durchgeführte BGM-Maßnahmen sind vom Verständnis her geleitet, dass die Beschäftigten geschützt werden müssen (pathogenetisches Verständnis). BGM wird nicht als ein ganzheitli-ches Modell begriffen, das auf die Vermeidung von Belastungen und Prävention abzielt und dabei den Menschen als autonom handelndes Subjekt versteht (salutogenetisches Verständnis) (vgl. Ulich und Wülser 2015).

Warum hingegen die Inanspruchnahme von Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförde-rung seitens der Beschäftigten erfolgt bzw. nicht erfolgt, ist noch nicht ausreichend erforscht.

Erschlossen wird die Frage nach etablierten, intendierten und genutzten BGM-Angeboten in der

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Regel über die Befragung der Führungskräfte. Dies ist zu kritisieren, denn über diesen Zugang erhält man keine Antworten aus Sicht der Beschäftigten. Vor dem Hintergrund des Wissensstan-des zur Bedeutung von subjektiven Gesundheitskonzepten ist jedoch unklar, in welcher Weise diese in der Konzeption, Entwicklung und Implementierung von BGM-Maßnahmen einbezoge-nen werden95. Es fehlt zudem an Forschungsergebnissen, die Aufschluss über die dynamische Wechselwirkung zwischen individuellen Einflussfaktoren und betrieblichen Kontextfaktoren geben und dabei analysieren, welche Gesundheits- und Krankheitskulturen in Unternehmen eigentlich vorherrschen. Diese Kultur erzeugt ein latentes Arbeitsklima, das – so lässt sich ver-muten – dazu beiträgt, Präsentismus zu fördern. Welche Rolle dabei individuelle Einstellungen (z. B. ein hoher Arbeitsethos) oder Arbeitsbedingungen (z. B. Angst vor Arbeitsplatzverlust) dabei spielen ist ebenfalls nicht belegt.

Gesundheitsbedingte Brüche im Erwerbsverlauf: Erleben, Deutungen und Bewältigung

Eine zentrale Entwicklungslinie, die den Wandel von Erwerbsarbeit in besonderem Maße cha-rakterisiert, sind Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf. Dessen Bewertung und der Umgang da-mit sind u. a. abhängig von individuellen biographischen Entwürfen, Erfahrungen und Ressour-cen. Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf können Risiken bergen, indem sie Unsicherheiten auslösen und damit die Lebensqualität und Gesundheit der Beschäftigten negativ beeinflussen.

Sie können aber auch Chancen darstellen, wenn dadurch neue biographische Entwicklungs- und Gestaltungsräume entstehen und diese für sich erschlossen werden.

Auffallend ist, dass die Forschungsfelder sich in diesem Bereich nur am Rande mit gesund-heitsbedingten erwerbsbiographischen Brüchen befassen. Eine der wenigen Studien zu diesem spezifischen Thema ist von Borgetto aus dem Jahr 1999. Er liefert mit seiner Arbeit wichtige Erkenntnisse über berufsbiographische Handlungsentwürfe und deren Ziele, klammert dabei aber das Krankheitserleben, Krankheitsbewältigungsprozesse und deren Wechselwirkung mit diesen Handlungsentwürfen aus. Auch spielen biographische Determinanten wie die Einstellung zur Arbeit, familiale Prägungen oder Konzepte von Gesundheit und Krankheit in der Datener-hebung und Interpretation nur eine marginale Rolle. Krankheitsbewältigung und erwerbsbiogra-phische Verläufe sind bisher vorrangig als zwei wenig aufeinander bezogene Forschungsdiszip-linen verankert. Dieser spezifische gemeinsame Erfahrungsraum und deren Verlauf ist kaum erforscht, z. B. im Hinblick darauf,

95 Wie partizipatorische Ansätze in der Entwicklung von BGM Anwendung finden können, zeigen Pangert, Dunkel et al. (2011) oder Schüpbach (2012, im Erscheinen).

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x wie sich der Ausstiegsprozess aus dem Erwerbsleben anbahnt und vollzieht, x welche Rolle die Erkrankung bei der beruflichen Neuorientierung einnimmt und

x welche Wirkung wiederum die berufliche Neuorientierung auf den Verlauf der Erkrankung nimmt.

Diese Forschungslücke ist umso verwunderlicher, da eine chronifizierte Erkrankung die Be-troffenen mit anhaltenden drohenden Destabilisierungssituationen konfrontieren kann. Zwar liegen bereits fundierte Erkenntnisse vor, wie sich Bewältigungsprozesse vollziehen, doch nur wenig ist darüber bekannt, unter welchen Bedingungen diese biographische Integrationsarbeit stattfindet (Troschke 2003). Zu erforschen gilt insbesondere, durch welche Phasen, Merkmale und Mechanismen die Bewältigung der doppelten Brüchigkeit der Biographie, d. h. die Bewäl-tigung der chronischen Erkrankung und der vulnerablen beruflichen Situation gekennzeichnet ist.

Ein interessanter Anknüpfungspunkt für noch ausstehende Forschung zu der Frage, wie gesund-heitsbedingte erwerbsbiographische Brüche erlebt, gedeutet und bewältigt werden, bieten die Erkenntnisse aus der Biographie- und Lebenslaufforschung mit dem Ansatz einer Normal-erwerbsbiographie. Interessant wäre es zu erfahren, in welchem Verhältnis die ausgelösten bio-graphischen Gestaltungsprozesse mit den Konzepten eines ‚normalen’ Lebenslaufes stehen, oder ob und wie Normalitätsvorstellungen situativ umgedeutet werden (vgl. Gefken, Stockem et al. 2015) und welche Rolle dabei das Geschlecht, das Alter sowie die einzelnen Institutionen z. B. aus den Sektoren des Rehabilitationssystems spielen.

Neuorientierung und RTW: biographische und kontextuale Rahmenbedingungen

Der bereits mehrfach angebrachte biographische und lebensweltliche Bezug der Ausstiegs-,

Der bereits mehrfach angebrachte biographische und lebensweltliche Bezug der Ausstiegs-,

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