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Auswirkungen der Erkrankung auf den Lebensalltag

Im Dokument Exit from Work (Seite 185-189)

4 Ergebnisse der empirischen Untersuchung

4.1 Arbeitskonzepte als biographische Orientierung

4.2.2 Leben mit der Erkrankung

4.2.2.1 Auswirkungen der Erkrankung auf den Lebensalltag

„Freizeitsport oder so ging halt gar nicht mehr.“116

Die Auswirkungen der Erkrankung auf den Lebensalltag werden in privaten und beruflichen Bereichen erfahren. Sie betreffen Einschränkungen in diesen beiden Lebensbereichen, eine Neuordnung von Familienarbeit und beziehen sich auf die Inanspruchnahme von sozialer Unter-stützung.

Einschränkungen im privaten und beruflichen Umfeld

Betrachtet man zunächst die Veränderungen im privaten Alltag, wird deutlich, dass die Gesund-heitsprobleme – ob schleichend oder plötzlich – einen eingeschränkten Bewegungs- und Aktivi-tätsradius nach sich ziehen. Verursacht das Laufen, Treppensteigen oder gar jede Bewegung Schmerzen, schränken sich die Aktivitäten zwangsläufig ein. An Unternehmungen in der Frei-zeit kann nicht mehr wie früher partizipiert werden.

Peter Hain: „In den letzten Monaten war’s halt krass. Da ging also Freizeitsport oder so ging halt gar nicht mehr. Da ist man von der Arbeit nach Hause aufs Sofa, langlegen. Das ging noch eini-germaßen und dann habe ich gesagt nee so geht’s nicht mehr weiter, da müssen wir jetzt was tun.“

(t1, Z69-72)

Veränderungsprozesse des beruflichen Alltags zeichnen sich in Abhängigkeit der Krankheits-phasen und den damit verbundenen Beschwerden und Einschränkungen schon lange vor dem Schlüsselerlebnis ab. Routineabläufe fallen schwerer, und Arbeitsabläufe müssen den

116 Peter Hain, t1, Z71

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schwerden angepasst werden. Es wird nicht selten unter Schmerzen gearbeitet, was den Kollegen häufig nicht verborgen bleibt. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich und reichen von Unterstützung über Skepsis bis hin zu offener Ablehnung (vgl. Kapitel 4.1.2.2 und Kapitel 4.2.1.1). Neben körperlichen Belastungen wirken auch psychische Belastungen stark einschrän-kend auf die tägliche Arbeitsroutine:

Brigitte Schulz: „Nach den sechs Jahren bin ich dann nochmal in den Metzgereiverkauf rein [...].

Hab dann aber halbtags begonnen mit sechs Stunden, und dort in der Metzgerei war ich dann an-derthalb Jahre bis ich dann gemerkt hab – stopp, jetzt musst die Notbremse ziehen. Erst dort. Dann wollt ich auch nicht mehr, ich habe auf einmal - kam dann ’n Ekel davor gekriegt, dass morgens wollt ich auch nicht mehr, ich wollt nicht mehr fort.“ (t1, Z39-45)

Temporäre Arbeitsunfähigkeit sowie langfristige gesundheitsbedingte berufliche Veränderungen ziehen nicht selten finanzielle Einbußen nach sich. Der Verdienst, den man vor dem gesund-heitsbedingten beruflichen Ausstieg hatte, steht nun nicht mehr zur Verfügung, und der gewohn-te Lebensstandard kann nicht immer gehalgewohn-ten werden.

Interviewerin: „[...] sind Sie noch im Schlaflabor machen Sie das noch nebenbei?

Katharina Rieger: nee mh mh, das haben wir aufgehört letztes Jahr, weil ich auch gesagt hab, ir-gendwann muss ich, muss irgendwo ein Ende finden und irgendwo kürzertreten. [...] das sind vier-hundert Euro die wegfallen, ja also definitiv aber, ich habe mir halt lange überlegt was ist jetzt wichtiger, dass es mir gut geht und ich vielleicht durchschlafe.“ (t2, Z265-285)

Neuordnung von Familienarbeit

In Phasen verstärkt auftretender Gesundheitsprobleme müssen die Arbeiten innerhalb der lie neu verteilt werden (vgl. Kapitel 4.3.2.2 zu Ressourcen). Es zeigt sich im Kontext der Fami-lienarbeit, dass zusätzliche Aktivitäten auf die Agenda gesetzt werden, z. B. Arztbesuche oder Therapietermine. Der Tagesrhythmus passt sich diesen neuen Aktivitäten an, ist aber ebenso durch die Gesundheitsprobleme verändert, wenn z. B. regelmäßig Medikamente eingenommen werden müssen oder die Schmerzen am Morgen beim Aufstehen mehr Zeit einfordern. All diese Aspekte führen schließlich dazu, dass unter Umständen langfristige Pläne der Familie bzw. des Einzelnen verändert werden müssen. Herr Hain macht sich bspw. große Sorgen, ob der den lang geplanten Urlaub mit seiner Frau antreten kann. Seine Rückenprobleme und die laufende Reha-bilitationsmaßnahme lassen diesen Plan unsicher erscheinen (t1, Z179ff). Ein stabiles familiäres Netzwerk ist insgesamt sehr wichtig für die Bewältigung neuer gesundheitsbedingter Anforde-rungen. Frau Fesser kann für zwei Monate bei ihrer über 80-jährigen Mutter wohnen, die in einer ebenerdigen Wohnung lebt, und sie kann so nach ihrer Knie-OP das Treppensteigen ver-meiden (t1, Z220ff). Claudio Osdorfs Mutter fährt ihn regelmäßig zu den Therapieterminen (t2, Z512ff). Hans Kirch beschreibt, wie ihm seine Söhne die Arbeit im Familienbetrieb abnehmen.

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Hans Kirch: „Hab noch so einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb nebenher. Also jetzt einer, der jüngste, der macht die ganzen Spritzarbeiten, der Mittelste der ist bei der Bundeswehr und der älteste der macht grad die zweite Lehre. Also vom Ältesten und vom Jüngsten, die sind voll dabei.

Also, der Mittelste der ist ja die ganze Woche fort, das geht ja nicht, aber der Älteste und der Jüngste die sind voll hinten dran und Frau auch. Das klappt echt gut muss ich sagen. Kann man sich hundert Prozent drauf verlassen, sonst könnt ich da auch nicht so hin so ruhig in der Reha sit-zen oder so irgendwas machen oder ich mein, ich geh ja auch abends immer heim. Ich hab man noch so Teil- Teilreha. [...] Wenn ich heimkomme und ich sehe die Jungs die haben schon alles gemacht oder vorgerichtet, also [...] ich brauch da gar nix mehr sagen. Das läuft, sonst könnt man sich glaub ich so ne Heilung auch gar nicht vorstellen.“ (t1, Z484-503)

Ebenfalls können sich neue Themen und Dynamiken innerhalb des Familienkreises entfalten, die im Zusammenhang mit der Sorge um die eigene Gesundheit oder mit der neuen Lebenssi-tuation stehen. Frau Rieger hört „grundsätzlich nicht“ (t1, Z450) auf die Ratschläge ihres Freundes; schätzt hingegen sehr die Sorge ihrer Mutter (t2, Z410) und der besten Freundin (die-se hat sie währen der akuten Kri(die-se zum Arzt gebracht, t1, Z451). Frau Schulz erörtert ausgiebig mit ihrem Mann ihre Problemlage, was zunächst eine positive Dynamik in die Beziehung bringt (t1, Z336), aber langfristig leidet die Beziehung unter den Krankheitsfolgen (Schmerzen, De-pression) (t2, Z183f). Claudio Osdorf schildert, wie sich das Verhältnis zu seinem Vater verän-dert hat (vgl. Kapitel 4.2.2.2):

Interviewerin: „Und wie geht Dein Vater mit seiner eigenen Gesundheit um?

Claudio Osdorf: Der ist skrupellos, also er ist- macht viel hobbymäßig in seiner Werkstatt, er macht Schrottautos tut er renovieren restaurieren. Und wenn er halt lackiert oder sonst irgendwas, hat er keinen Mundschutz an oder die entsprechenden Sicherheits- macht er halt nicht. Und klar grad durch die Schule jetzt bei mir krieg ich des ja auch vermittelt Sicherheit. Und wenn ich jetzt dann am Wochenende ab und zu mal daheim bin und sehe ihn in der Werkstatt, dann kriegt er halt von mir jetzt eine drauf. Also das sag ich ihm dann auch. Und ja so langsam hat er auch wegen sie- sieht er mich als vollen Mann oder als richtige Person an, wo er auch mal zurück, ja?“ (t2, Z521-530)

Erweiterte Inanspruchnahme von Unterstützung

Ein weiteres Element der Veränderungsprozesse findet sich in der verstärkten Inanspruchnahme des bestehenden sozialen Netzwerkes. Im letzten Zitat wurde deutlich, dass die Krankheitserfah-rungen sowohl in der Familie, dem näheren Freundes- und Bekanntenkreis und im Kollegium neue Akzente in der Interaktion und Kommunikation setzen können. Das eigene Kranksein löst auch in der Arbeitswelt neue Diskurse und Interaktionsformen aus. So sind die Kollegen von Hans Kirch und von Claudio Osdorf im Falle der plötzlichen Gefahrenlage aufgefordert, aus den laufenden Arbeitsprozessen heraus im Notfall zu handeln (Hans Kirch konnte nicht mehr gehen, und Claudio Osdorf lag bewusstlos nach dem Sturz auf dem Boden). Hans Kirch wurde vom Kollegen selbstverständlich nach Hause begleitet (t1, Z129); hingegen hat der Chef von

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Claudio Osdorf die Kollegen angewiesen, nicht eigenmächtig den Kollegen zum Krankenhaus zu fahren:

Claudio Osdorf: „Ich war bewusstlos. Ich wurde gefunden und dann wollten sie [die Kollegen, Anm. S.B.] einen Krankenwagen rufen. Aber dann hat mein Chef zu denen am Telefon gesagt, wer mich ins Krankenhaus fährt, dem zieht er eine Stunde ab. [...] Ja genau so war das, und die Arbei-ter, wo ich auf der Baustelle war das waren Franzosen, die haben dann klar erst mal Angst gekriegt und schlussendlich haben die rumgestritten am Telefon, mich muss jemand ins Krankenhaus fah-ren. Da habe ich meine Mama angerufen, die hat dann im Prinzip den Krankenwagen gerufen, aber in dem Zeitspann wo der Krankenwagen zu mir kam, hat ein anderer Mitarbeiter von uns hat mich einfach abgeholt und hat mich ins Krankenhaus gefahren. Also das nehme ich dem Chef auch sehr übel.“ (t1, 593-607)

Aus der Perspektive des Kollegiums wird berichtet, dass eine kranke Kollegin oder ein kranker Kollege ein Belastungsfaktor sein können. Katharina Rieger schildert dies aus eigener Erfah-rung:

Katharina Rieger: „Ich glaub da ist einfach nur die Angst da. Hier jetzt, wenn der jetzt ausfällt, dann bin ich hier alleine oder, ist so. […] Ich mach die Urlaubsvertretung von beiden und ich mach auch die Krankheitsvertretung von beiden. […] Wenn man sich ausrechnet, ist das eine verdammt lange Zeit, die ich da im Jahr einfach alleine bin und einfach immer den Job von dem anderen mitmachen muss.“ (t1, Z176-186)

In der akuten Krankheitsphase und insbesondere in der anschließenden Zeit zeigt sich, wie be-lastbar die Bande der Netzwerke wirklich sind, und auf wessen praktische und emotionale Un-terstützung die Betroffenen zurückgreifen können. Meist sind es die nächsten Angehörigen, die eine intensive Unterstützungsarbeit leisten, wie z. B. durch die Übernahme täglich anfallender Arbeiten zu Hause. Ein stabiles soziales Netzwerk hilft zudem, um in den Lebensalltag zurück-zufinden und neue Vorsätze umzusetzen oder gar einen beruflichen Neustart zu wagen:

Claudio Osdorf: „Also meine Eltern finanzieren oder unterstützen mich ein bisschen. Und am Wochenende geh ich halt heim und arbeite noch bei meinem alten Chef, also das was geht körper-lich. […] und versuch's denen halt dann wieder zurück- oder gebe das halt dann meinen Eltern.

Aber ich sag mal, ohne Unterstützung von meinen Eltern wär ich hier nicht und könnt die Bau- könnt den Bautechniker gar nicht absolvieren.“ (t2, Z153-160)

Zugleich sind es nahestehende Personen, die erste Belastungssignale wahrnehmen und Warnun-gen aussprechen.

Katharina Rieger: „Also meine Mutter merkt jetzt auch, okay jetzt kommt's wieder so an, wie so ein bisschen an ihre Grenze, jetzt wo das alles aufeinander kam. Auto kaputt, die Insolvenz anmeldet, dann mit dem Stall der wechselt. Das das war ja, jetzt ist ja alles alles aufeinander ge-kommen. Da hat meiner Mutter auch zu mir gesagt, hey jetzt musst wieder langsam machen, ich merk dass es dir zu viel wird. Und sie mir also des auch- sie gucken auf mich, alle, doch doch.“

(t2, Z406-412)

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