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Das Schlüsselerlebnis als Wendepunkt

Im Dokument Exit from Work (Seite 168-177)

4 Ergebnisse der empirischen Untersuchung

4.1 Arbeitskonzepte als biographische Orientierung

4.2.1 Kreisläufe des Leidens

4.2.1.1 Das Schlüsselerlebnis als Wendepunkt

„Mein Körper ist ausgestiegen, und zwar komplett.“114 Als Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen wurde der gesundheitliche Bruch – im Folgen-den als Schlüsselerlebnis bezeichnet – gewählt, das in einem ersten Schritt in seinen unter-schiedlichen Formen beschrieben wird. Welcher Leidensprozess dem Schlüsselerlebnis zu Grunde liegt, welche Aspekte die ersten Schritte aus dieser Krise charakterisieren und welche Ursachen dem Krankheitsverlauf zugeschrieben werden steht im Zentrum der sich anschließen-den Ausführungen.

Formen des Schlüsselerlebnisses

Das Schlüsselerlebnis wird entweder als Resultat eines schleichenden Krankheitsverlaufs oder als plötzliches, unerwartetes Ereignis beschrieben. Das Ereignis am Ende eines schleichenden Krankheitsverlaufs ist dadurch gekennzeichnet, dass ein neues Stadium der Beschwerden und Einschränkungen erreicht wurde. Dieses neue Stadium der Krankheitsphase schließt an einen langandauernden Leidensprozess an, in dem sich die Beschwerden temporär verschlechterten, sich aber auch immer wieder verbesserten und damit einen relativ unvorhersehbaren Verlauf aufwiesen. Die Krankheitssymptomatik spitzte sich schließlich in dem Maße zu, dass eine medizinische Behandlung als unausweichlich erschien.

Peter Hain: „Ich habe schon vor vier Jahren, oder es ging an sich schon länger, hab ich massive Probleme im Rücken gehabt. Ein Wirbel ist deformiert, und dann kam die Spinalkanalstos- äh spi-nose hinzu, und das mal erst, über die Reha versucht, zu beheben, das war vor vier Jahren. Hat auch zwei Jahre lang angehalten. Nach zwei Jahren gingen die Beschwerden wieder los. Erst ver-einzelt dann immer stärker und im letzten halben Jahr wurd’s dann massiv, und dann habe ich dann ne Adresse von einem Neurochirurgen erhalten, [...] und so habe ich mich dann zu ner OP ent-schieden.“ (t1, Z26-34)

In jedem Fall löste diese neue Situation den (erneuten) Schritt zum Arzt oder eine Interaktion aus, die diesmal unter einer anderen Prämisse stattfand. Die Personen erlebten einen noch nie da gewesenen Leidensdruck in Form von starken Schmerzen und nicht kompensierbaren Ein-schränkungen des privaten und beruflichen Alltags. Im Krankheitsverlauf wurde zunächst ver-sucht, auf Kompensationsstrategien zurückzugreifen. Die ersten Anzeichen von Überforderung wurden hingenommen, ignoriert, unterdrückt, z. B. wenn abends der Fuß pulsiert (Sabine Fes-ser) oder der Rücken schmerzt (Katharina Rieger, Claudio Osdorf). Doch diese Strategien grif-fen in diesem Stadium nicht mehr.

114 Katharina Rieger, t1, Z48

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Katharina Rieger: „Mein Körper ist ausgestiegen, und zwar komplett. Also [...] ich habe vorletz-tes Jahr irgendwann hat’s angefangen, so dass ich drei Monate vier Monate lang ständig immer wieder Husten und Fieber und war aber nie krank. Ich war immer auf Arbeit. Das schon, aber ich habe, das hat sich einfach nicht mehr reguliert, also ich habe irgendwie und dann hat ich eine Lun-genentzündung, dann ne Bronchitis, dann wieder Rückenbeschwerden dann wieder Probleme mit der Ferse und das hat sich übers Jahr irgendwie immer wieder, ich war zwar nie krankgeschrieben, aber ich habe immer wieder was gehabt. Gastritis mit ’nem Helicobacter also wirklich so, dass man dann Magenschmerzen hat und ja, und irgendwann hat mein Körper dann gesagt gut, wenn du so nicht reagierst, dann knock ich dich völlig aus und dann ging halt gar nix mehr. Also konnte ich mich gar nicht bewegen und aber ich denk, der Körper muss irgendwann so reagieren, sonst hätte ich wahrscheinlich so weitergemacht.“ (t1, Z48-59)

Der Unterschied zu früheren Krankheitsphasen liegt darin, dass x sich die Gesundheitsproblematik manifestiert hat,

x die gewohnten Kompensationsstrategien nicht mehr greifen,

x nachhaltig verändernde Entscheidungen zu treffen sind, z. B. Zustimmung zu einer Operati-on sowie

x eine Umorganisation des beruflichen und privaten Alltags erforderlich ist.

Mit diesem Schlüsselerlebnis wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht, deren weiterer Verlauf offen war. Gleichzeitig bietet es den einzigen Ausweg aus der akuten und nicht mehr kontrol-lierbaren Situation.

Hans Kirch: „Vorher war’s schon ein wenig stressig. Aber heute mach ich's einfach ruhiger. Das war schon, ich denke gleich der richtige Wink, war das. Also wenn man vier Wochen lang nicht kann sich richtig bewegen, dann merkt man erst mal, was einem fehlt.“ (t2, Z402-405)

Betrachtet man nun die zweite Erscheinungsform des plötzlichen gesundheitlichen Einbruchs, erscheint dieser auf den ersten Blick keine vorhergehende Chronifizierung und Intensivierung der Leiden aufzuweisen. Ein Arbeitsunfall, wie bei Sabine Fesser (in der Dusche einer Patientin ausgerutscht) und Claudio Osdorf (vom vereisten Baugerüst gefallen) oder ein Bandscheiben-vorfall ohne „Vorankündigung“ (t1, Z134) wie bei Hans Kirch waren für die Betroffenen ein Schock, der sie von einer Minute zur nächsten handlungsunfähig machte und einen sofortigen medizinischen Eingriff erforderte. Auf den zweiten Blick werden in diesen Fällen Parallelen sichtbar, die eine ähnliche Struktur aufweisen wie die schleichenden und langandauernden Krankheitsverläufe der anderen Betroffenen in dieser Studie. Die akuten Vorfälle können nicht einfach isoliert betrachtet werden, sondern betten sich in bestehende gesundheitliche Problem-lagen ein. Sabine Fesser vereint beide Erscheinungsformen, da sie vor ihrem Unfall unter chro-nischen Schmerzen in den Füßen litt und ihr Arbeitsunfall sich am ersten Arbeitstag nach erfolg-reicher Operation und Therapie ereignete.

Sabine Fesser: „Das hat mir eigentlich so gut gefallen die Kombi Hauswirtschaft Pflege und dann kamen meine Füße dazwischen. Ich hatte, zweitausendelf Januar hat das angefangen Fersensporn an beiden Füßen, an beiden. Das tut höllisch weh. Ich habe da noch gearbeitet bis Mai und meine

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Chefin hat dann wohl gemerkt, dass des eine längere Geschichte – und das weiß man also, Fersen-sporn ist auch eine längere Sache. Ich habe ein Jahr damit zu tun gehabt. Bin zu allen Ärzten alle Behandlungen durchgeführt [...] Hat nichts geholfen, im Gegenteil hat eher noch – hat auch noch Wahnsinns Schmerzen gemacht [...] Und dann habe ich Ende null elf hat dann der Arzt gesagt, ja dann bleibt nur noch die Option- Operation. [...] Ja Mitte null zwölf war ich dann eigentlich wiederhergestellt und der erste Arbeitstag bin ausgerutscht in der Dusche und hab mir am rechten Knie das Kreuzband das Innenband und den Meniskus verletzt. Man nennt des die Dreieinigkeit im Knie [...] Auf jeden Fall war das ein diesen Schock dann halt für mich, klar ich wollte wieder arbeiten, war wieder fit und das Geräusch als die Bänder gerissen sind [...] da habe ich gewusst jetzt kommt wieder Monate auf mich zu, wieder eine OP.“ (t1, Z27-50)

Claudio Osdorfs Arbeitsunfall kam ihm, so sagt er selbst, sehr entgegen. Die hohen körperlichen Belastungen auf dem Bau machten ihm sehr zu schaffen, Rückenprobleme hatte er schon seit längerer Zeit, und es war für ihn und seine Kollegen absehbar, dass er nicht mehr lange in die-sem Beruf arbeiten könnte und wollte. Hans Kirch räumt ein, dass sein Bandscheibenvorfall zwar ohne Vorankündigung eintrat, dies aber das Ergebnis hoher einseitiger Belastungen und eigener Grenzüberschreitungen war „Klar, jetzt kommt das, was ich vielleicht zu viel gemacht hab.“ (t1, Z471).

Vorausgehender Leidensprozess und Merkmale des Ausstiegsprozesses Im Rückblick beschreiben die Betroffenen die Zeit vor dem eigentlichen Einbruch als Teufels-kreis (Sabine Fesser, t2 Z488), Spirale (Brigitte Schulz, t1, Z528) oder Kreislauf (Peter Hain t2, Z577; Z582). Der Zeitraum des Leidensprozesses, der direkt mit den aktuellen gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht wird, reicht zurück bis in das frühe Erwerbsleben, in dem die ersten Signale des Körpers, z. B. nach langandauernden körperlichen Belastungen, ignoriert wurden. In der Tendenz zeigt sich in allen Fällen, dass erst gehandelt wurde, als sich die ge-sundheitlichen Probleme bereits manifestiert hatten. Der Ausschnitt aus Brigitte Schulz Inter-view zeigt in verdichteter und zugespitzter Weise eine gesundheitliche Leidensspirale, die sich im Laufe ihres 35-jährigen Erwerbslebens wiederholt und gefestigt hat und aus der Frau Schulz nur schwer ausbrechen konnte.

Brigitte Schulz: „Ja es war immer der psychische Druck. Hast müssen funktioniert und hast am Schluss nur noch funktioniert. Hast gar nicht mehr gesehen, was drum rum läuft beziehungsweise, du hast dich daheim auch nicht mehr wohl gefühlt. Du warst mit den Gedanken ständig wieder ar-beiten, [...] wenn um Urlaub oder sonst irgendwas geht, freier Tag hast. Es hat gebraucht nur einer anzurufen, war ich fort im Geschäft. [...] Krank sein hat’s nicht gegeben [...] Ich war nie krank. Ich habe nur noch funktioniert.“ (t1, Z101-110)

Dieser hier nur in einem Auszug dargestellte gesundheitliche Leidensweg von Frau Brigitte Schulz begann schon in ihren jungen Berufsjahren und mündete nach 35 Jahren in einem „aus-gebrauchten“ Körper (t1, Z229). Während dieser Zeit wurden gesundheitliche Probleme zwar

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wahrgenommen, aber zunächst reguliert, unterdrückt oder kompensiert. Häufig wurden die Be-schwerden erst zu Hause bewusst wahrgenommen, wie folgende Interviewbeispiele illustrieren.

Katharina Rieger: „[…] dann legt man sich halt abends um elf ins Bett und man merkt der Fuß pulsiert und der Rücken tut weh. [..] Mein Partner sagt schon seit zwei Jahren, das geht nicht mehr, weil ich einfach kaum noch aufstehen kann. Ich brauch einfach eine wahnsinnig lange Anlaufzeit, ja? Weil der Rücken tut weh. Der Fuß tut weh und dann sieht es halt aus wie bei ner alten Frau. So bin ich jetzt immer aus‘m, Bett, mich irgendwie versucht zu bewegen.“ (t1, Z440-445)

Brigitte Schulz: „[…] wenn da mal wirklich mal was wehgetan hat oder sonst irgendwas, gar nicht so mitgekriegt in dem Trab. Das ist alles unterdrückt, weil das hast erst gemerkt, wenn du abends heimgekommen bist und bist zur Ruh gekommen, hast dich hingehockt, dann bist auch bald eingeschlafen.“ (t1, Z 306-311)

Peter Hain: „[…] wenn ich’s dann irgendwie machen konnte, habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und zurückgelehnt, dann hat das halt auch wieder etwas Linderung gebracht. Natürlich auch nicht ewig, und ja in den letzten Monaten war’s halt krass, da ging also äh Freizeitsport oder so ging halt gar nicht mehr. Da ist man von der Arbeit nach Hause aufs Sofa, langlegen, das ging noch einigermaßen.“ (t1, Z68-72)

Umso wertvoller sind Erholungsphasen zur Regeneration (vgl. Kapitel 4.3.2.3). Wenn Peter Hain im Urlaub ist, werden seine Schmerzen „gravierend besser“ (t2, Z731) und am Wochenen-de regeneriert er, bis es montags „wieWochenen-der von vorne losgeht“ (t2, Z747). Macht er tagsüber zu viel, muss er abends sofort dafür „büßen“ (t2, Z741). Zu beobachten ist in diesem Zusammen-hang, dass ein Gewöhnungsprozess an die täglichen Belastungen einsetzen kann.

Katharina Rieger: „[…] und das mit der Bleischürze, die wiegt halt acht Kilo, mindestens. [...]

Das bin ich schon gewöhnt (lacht) ich kenn's nicht anders. Also für mich ist das jetzt nicht so dra-matisch. Wenn ich mein OP Kittel anziehe merk ich genau ich habe die Bleischürze vergessen ein-fach, dann fehlt das Gewicht man ist es gewöhnt ja?“ (t1, Z236-247)

Eine wichtige Rolle spielt in dem Ausstiegsprozess der Schritt zur Ärztin bzw. zum Arzt. Medi-zinische Experten nehmen eine Schlüsselfunktion ein, denn sie objektivieren die Leiden und ebnen den Weg aus dem Leidensprozess heraus (vgl. Kapitel 4.3.2.2). Bei der ärztlichen Inan-spruchnahme kann das eigene soziale Umfeld eine wichtige Rolle spielen.

Interviewerin: „Und haben Sie die Reha von sich aus beantragt oder wer hat-

Katharina Rieger: Nee, mein Arzt, also ich bin hin eben weil ich Rückenschmerzen hatte und physisch auch also ich war einfach völlig – ich habe nur noch geheult und aber das von mir aus wär ich auch nicht zum Arzt meine Freundin hat mich hingesteckt.“ (t1, Z106-110)

In dieser Phase stehen Entscheidungen an, z. B. Entscheidungen über Operationen, Therapien, aber auch über Veränderungen der Alltagroutine und des eigenen Handelns. Diese

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gen sind für die Betroffenen nicht immer einfach. Die Abwägungen zwischen dem Risiko einer Operation und den akuten Schmerzen schildert Hans Kirch folgendermaßen:

Hans Kirch: „Hab mir jetzt mal das Ding durchgelesen, was da hätte könnte alles passieren. Wie's zu der Querschnittslähmung, also, aber des war mir dann egal. Also die Schmerzen waren ein Wahnsinn und jetzt muss ich sagen, ich habe keine Schmerzen, ich habe nix mehr.“ (t1, Z203-205) Hinter einer Entscheidung für einen bestimmten operativen Eingriff kann ebenfalls die Ent-scheidung gegen einen anderen Eingriff stehen. So entscheidet sich Peter Hain für den Eingriff eines Neurochirurgen, statt seine Wirbel vom orthopädischen Facharzt versteifen zu lassen (t1, Z31f).

Insgesamt sind die hier nachgezeichneten kriseninitiierten Entscheidungen durch eine hohe Unsicherheit über den weiteren Krankheitsverlauf gekennzeichnet. Eine entscheidende Signal-wirkung hat in dieser Phase die längerfristige Krankschreibung, denn sie übersetzt das subjekti-ve Leiden in eine objektisubjekti-ve Arbeitsunfähigkeit oder, anders formuliert, gesundheitliche Be-schwerden wandeln sich erst durch eine Krankschreibung in Kranksein um. Die folgenden zwei Zitate belegen, dass es für den Personenkreis in dieser Studie nicht ungewöhnlich und fast nor-mal war, trotz massiver gesundheitlicher Probleme arbeiten zu gehen.

Peter Hain: „Und jetzt haben wir eine Halbtageskraft und die habe ich dann die letzten drei Wo-chen vor meinem Beginn von der OP habe ich die noch eingelernt. Und da hat natürlich genau in dieser Zeit hat ich Riesenprobleme, das heißt hab mich gar nicht getraut zum Doktor zu gehen, weil der hätte sofort gesagt bleib zu Hause und da habe ich also mit schmerzverzerrtem Gesicht habe ich halt die Kollegin dann eingelernt, dass der, dass das ganze Ding jetzt halt zumindest ver-sandmäßig und wareneingangsmäßig irgendwie weitergeht.“ (t1, Z94-100)

Brigitte Schulz: „Krank hat’s da auch nicht gegeben. Warst zwar krank, warst aber ständig unter-wegs. Das hast du gar nicht mehr ganz wahrgenommen, […] Ich habe im Geschäft gestanden, da ist mir schon die Luft weggeblieben. Ich hab ’nen halben Hörsturz gehabt. Ich habe, ich war nie krank, ich habe nur noch funktioniert.“ (t1, Z107-110)

Einhergehend mit dem objektivierten Leiden durch ärztliche Diagnosen und ggf. durch eine Krankschreibung ist eine Offenlegung des Krankseins im Kollegenkreis und der bzw. dem Vor-gesetzten gegenüber. Dies bedeutet nicht, dass Kolleginnen und Kollegen nicht schon vorher etwas davon gemerkt hätten. Frau Riegers Kollegin hatte von den Beschwerden gewusst, aber vermutlich Angst, die Arbeit alleine machen zu müssen (t1, Z182ff). Sabine Fessers Chefin hat

„wohl gemerkt“ (t1, Z31), dass ihre Erkrankung zu einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit füh-ren wird. Durch einen offenen Umgang mit der eigenen Krankheit scheint auf der einen Seite eine unsichtbare, unausgesprochene Grenze überschritten zu werden. Durch das Offenlegen der eigenen gesundheitlichen Beschwerden werden nicht nur die eigenen Einschränkungen kommu-niziert, sondern es wird damit auch implizit auf die häufig ursächlichen Arbeitsbedingungen

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verwiesen, die andere Kolleginnen und Kollegen betreffen können (vgl. Kapitel 4.1.2.2). Im Hinblick auf die Verlaufsdynamik des Leidensprozesses zeichnet sich eine schwierige Ablösung von den eigenen Mustern und Verhaltensweisen ab, die einen Ausstieg erschwert (vgl. Kapitel 4.3.1.1).

Erklärungen für die gesundheitlichen Probleme

In der Auseinandersetzung mit der Gesundheitsproblematik und mit den Folgen im Lebens- und Berufskontext treten in unterschiedlichen Zusammenhängen Erklärungen für die gesundheitli-chen Probleme hervor. Diese subjektiven Deutungen über mögliche Zusammenhänge weisen eine hohe Komplexität auf, d. h. sie beschreiben ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren über einen langen Zeitraum hinweg, die letztlich den gesundheitlichen Leidensprozess bedingt haben. Diese Faktoren können in kontextuale und personenbezogene Faktoren unterteilt werden.

Kontextfaktoren beschreiben Arbeitsbedingungen, wie Arbeitsschutzmaßnahmen (z. B. das Tra-gen einer scheren Bleischürze), Arbeitsprozesse (z. B. Zwangshaltung, wenig Pausen), das Ar-beitsklima (z. B. Mobbing), die Lebenssituation (z. B. notwendiger Zuverdienst) und Belastun-gen im Privatleben (z. B. Tod eines AngehöriBelastun-gen), die in einen direkten Zusammenhang mit den gegenwärtigen körperlichen und psychischen Problemen gebracht werden. Zudem benennen die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner unterschiedliche Aspekte der eigenen Person, die ebenfalls Einfluss auf den gesundheitlichen Leidensprozess nahmen: Eigenschaften („Kamika-zetyp“), Verhaltensweisen (z. B. über eigene Grenzen gehen), Erfahrungen (z. B. negative Reak-tionen im Kollegium auf Kranksein), Disposition (z. B. genetische Veranlagung) und Strategien (z. B. krank zur Arbeit zu gehen). Erst im Zusammentreffen dieser Faktoren entstehen Konstel-lationen, die sich unter bestimmten Bedingungen von gesundheitlichen Risiken zu manifestier-ten Erkrankungen entwickeln können. Die folgenden zwei Beispiele sollen diese Wirkzusam-menhänge belegen, in dem sie aufzeigen, dass sowohl Kontextfaktoren als auch personenbezogene Faktoren eine Ursachenzuschreibung von den Betroffenen erfahren.

Hans Kirch: „Also ich denke mal, das kommt von der Arbeit, wo ich gemacht hab. Also ich bin ich fahr jetzt fast dreißig Jahre mit der Baggermaschine. Und wenn ich das so rechne mit den drei-ßig Jahren, komm ich auf zwanzigtausend Stunden. Das sind also sechs- zwischen sechshundert und siebenhundert Stunden. Aber nur auf dem Bagger. Also ich habe Schläge, ich habe keinen Komfortsitz nix drin, […] das staucht.“ (t1, Z246-257)

Interviewerin: „Und wie war das früher, bevor Sie den Bandscheibenvorfall hatten [...]?

Hans Kirch: Ich habe so viel Kraft gehabt, also ich konnte alles. […] Keine Beschwerden. Ich konnte alles heben, lupfen, also mal über Grenze, sag ich einmal. Kein Problem gehabt. Überhaupt kein Problem, also mit irgendwas Schwerem, nie. Aber jetzt klar, jetzt kommt das, was ich

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leicht zu viel gemacht hab. […] und jetzt muss ich halt, mich richtig halten (unverständlich), aber ich denk, wär ich auch machen. Habe ich mir fest vorgenommen. Auf jeden Fall.“ (t1, Z 458-476) Katharina Rieger: „Irgendwie machen wir alles bis aufs Herz und dadurch steht man den ganzen Tag in der Bleischürze. Vor allen Dingen stehen. Eigentlich nur stehen und halt die Arme klar, die Arme sind immer etwas erhöht was natürlich für’n Rücken nicht so do- nicht so toll ist.“ (t1, Z12-15)

Katharina Rieger: „Man macht sich den Stress schnell selber, man setzt sich einfach schnell unter Druck. Ist so. Habe ich auch immer gedacht ja ja, aber es ist so. Ich habe bestimmt jetzt auch noch so Phasen, wo ich sag oh Gott, ist mir alles zu viel ja?“ (t2, Z666-669)

Abbildung 19 führt die Faktoren zusammen und zeigt exemplarisch an Interviewausschnitten mögliche Risikokonstellationen auf.

Abbildung 19: Risikokonstellation im Erwerbsleben: Kontextfaktoren und personenbezogene Faktoren

Ein entscheidender Aspekt in dieser Aufschlüsselung der Risikokonstellationen nach Faktoren ist, welche dieser Faktoren aus Sicht der Betroffenen beeinflussbar sind. Tätigkeitsbezogene Faktoren wie Arbeitsschutz oder Arbeitsprozesse werden einerseits als ursächlich für die aktuel-le Situation eingestuft, aber gaktuel-leichzeitig als nicht oder nur begrenzt beeinflussbar wahrgenom-men. Auf das Arbeitsklima ist, so erlebt es ein Teil des befragten Personenkreises, ein persönli-cher Einfluss möglich, doch hängt die Veränderung des Arbeitsklimas vom gesamten Team ab.

Kontextfaktoren

Personenbezogene Faktoren

Risikokonstellationen Peter Hain: „Es gibt ein paar Arbeiten [...] da

hab ich ne Zwangshaltung, da geht’s einfach nicht anders, und dann ist einfach so, dieser Spinalkanal ging einfach zu. Und dann geht, es kommt immer mehr und dann wurden die Beschwerden halt immer stärker.“ (t1, Z41ff)

Katharina Rieger: “[...] im Moment konnt's mein Körper wahrscheinlich einfach nicht mehr oder mein Kopf oder aber mein Vater ist vor zwei Jahren auch gestorben. Das kommt auch noch dazu Das ist einfach, man hat die Familie aufgefangen; Bruder Mutter und die Psyche hat jetzt einfach gesagt, einfach alles miteinander jetzt.“ (t1, Z126ff)

Claudio Osdorf: „Da bin ich von zwei Meter Höhe vom Gerüst geflogen? und bin auf meinem Rücken auf‘n Betonschacht geflogen.“ (t1, Z10f) Hans Kirch: „Ich hab so viel Kraft gehabt, also ich konnte alles. […] Keine Beschwerden. Ich konnte alles heben, lupfen, also mal über Grenze, sag ich einmal. […] Aber jetzt klar, jetzt kommt das, was ich vielleicht zu viel gemacht hab.“ (t1, Z465ff)

Sabine Fesser:„Ich muss das irgendwie auch […] von den Genen her geerbt haben von der Oma. […] Das war auch in meinem Alter jetzt Mitte vierzig Anfang Mitte vierzig, genau, da hat es bei meiner Oma auch angefangen so Probleme hatte mit den Füßen und mit dem Gehen und Hallux und Fersensporn wie bei mir, ne?“

(t2, Z501ff)

Brigitte Schulz:„[…] immer wieder hab ich alles geschluckt. Schon immer alles mit heim genommen. Und immer wieder hab ich mich durchgebissen. Ich war zum Schluss trotzdem

Brigitte Schulz:„[…] immer wieder hab ich alles geschluckt. Schon immer alles mit heim genommen. Und immer wieder hab ich mich durchgebissen. Ich war zum Schluss trotzdem

Im Dokument Exit from Work (Seite 168-177)