• Keine Ergebnisse gefunden

4. Diskussion

4.1 Generierung der Fragebogen mittels qualitativer Forschungsmethoden

Die Erstellung von Fragebogen zur Diagnoseunterstützung ausgewählter LSDs erfolgte anhand qualitativer Forschungsmethoden. Dass diese geeignet sind, um sich dem Feld seltener Erkrankungen anzunähern, zeigten bereits Garrino et al.50, Soni-Jaiswal et al.51 und Bouwman et al.52 (vgl. Kapitel 1.2), deren Projekte alle das Ziel verfolgten, durch die Exploration individueller Erfahrungen Betroffener, Einblicke in deren Erleben zu bekommen und hierdurch Erkenntnisse über Verbesserungsmöglichkeiten in deren medizinischer Versorgung zu erlangen.

Auch diese Dissertation widmet sich den individuellen Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen. Dabei ist in diesem Projekt die prädiagnostische Phase der Erkrankten von besonderer Bedeutung. Explizit soll durch die hier gewonnenen Erkenntnisse die Diagnostik ausgewählter LSDs erleichtert werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit aus der prädiagnostischen Phase weisen Überschneidungen mit den Ergebnissen von Garrino et al.50, Soni-Jaiswal et al.51 und Bouwman et al.52 auf. Diese sich überschneidenden Ergebnisse sollen im Folgenden exemplarisch genannt werden:

Die Ergebnisse der hier durchgeführten qualitativen Inhaltsanalyse zeigen, dass Patienten einen aufwendigen Weg zur Diagnose haben, der zahlreiche Arztkontakte und

Untersuchungen, die oftmals zu keiner adäquaten Diagnose führen, beinhaltet. Betroffene und deren Eltern haben Probleme die – häufig unspezifische – Symptomatik bezüglich ihrer Bedrohlichkeit einzuordnen. Zudem fühlen sie sich missverstanden und nicht ernst genommen.Die Erkrankten sind in ihrem Alltag aufgrund der Beschwerden und Schmerzen eingeschränkt.Sie versuchen Strategien zu entwickeln, die Ihnen helfen, Kompetenzen im Umgang mit ihrer gesundheitlichen Situation zu entwickeln.Das soziale Leben wird durch den chronischen Leidensdruck und der permanenten Präsenz von Symptomen negativ beeinflusst.

Betroffene sehen sich nicht zuletzt auch als Außenseiter, was auch von deren Eltern so wahrgenommen wird.

Zusätzlich zu den hier genannten Überschneidungen konnten im vorliegenden Projekt Erkenntnisse über die emotionale Situation von Eltern aus der prädiagnostischen Phase gesammelt werden. So berichten diese von Enttäuschungen, die sie in Bezug auf ihre Kinder erfahren mussten, von Frustration oder von dem Gefühl alleine zu sein. Darüber hinaus charakterisieren Eltern ihre Kinder und beschreiben wie sie diese in der Zeit vor der Diagnosestellung wahrgenommen haben. Manche berichten von ‚Andersartigkeit’, manche von ‚Schwäche’ und wieder andere von ‚Pflegeleichtigkeit’. In diesem Projekt konnte außerdem das Verhältnis zwischen Eltern bzw. Patienten und Ärzten genauer dargestellt werden. Hierbei stehen häufig negative Erlebnisse im Vordergrund. So haben Eltern und Patienten oftmals das Gefühl, dass ihre Beobachtungen und Beschwerden von Ärzten heruntergespielt werden und stimmen deshalb nicht mit der Wahrnehmung der Ärzte überein. Die Betroffenen und Angehörigen verlieren so zunehmend das Vertrauen in Ärzte und beginnen in Bezug auf die Bemühungen, zu einer Diagnosestellung zu gelangen, zu resignieren.

Die prädiagnostische Phase wird außerdem von der Präsenz der Symptome und Beschwerden bestimmt, weshalb auch die Symptomatik der drei ausgewählten Erkrankungen einen großen inhaltlichen Bestandteil der Interviews darstellte. In bisherigen Studien zu LSDs oder seltenen Erkrankungen lag der Schwerpunkt entweder auf der körperlichen Symptomatik14,6,118 oder auf dem Erleben der Betroffenen und deren Angehörigen (vgl. Soni-Jaiswal et al., Garrino et al, Bouwman et al.). Die Eingangsfragen der hier geführten Interviews wurden so gestellt, dass die Interviewpartner die Möglichkeit auf eine umfassende Schilderung der prädiagnostischen

Phase hatten, ohne dass eine thematische Rahmung seitens der Interviewerin vorgenommen wurde. Dies bewirkte eine Auflösung der inhaltlichen Trennung von Symptomen und Erleben der Patienten bzw. deren Eltern. Auf diese Weise werden in den entstandenen Fragebogen für Erwachsene und Eltern sowohl klinische Symptome abgefragt, als auch Fragen zu deren Erleben und deren Sichtweisen gestellt. Die Fragebogen konnten aufgrund der angewandten qualitativen Forschungsmethode zudem in der Sprache der Eltern verfasst werden, was die Verständlichkeit und Beantwortbarkeit der Fragen erhöht.

Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse wurden aus 11 Interviews mit Betroffenen und deren Angehörigen gewonnen. Es kann aufgrund der niedrigen, in der qualitativen Forschung aber durchaus üblichen Anzahl an Fällen (vgl. Soni-Jaiswal et al., Garrino et al.) nicht ausgeschlossen werden, dass auch Interviews mit anderen Patienten oder deren Eltern einen wertvollen Beitrag zur qualitativen Erkenntnisgewinnung beigetragen hätten. Aus diesem Grund wurde durch verschiedene Verfahren versucht, ein hohes Maß an Objektivierbarkeit und damit auch Übertragbarkeit119 der Ergebnisse zu erlangen.120

Zunächst sprechen die zuvor erwähnten inhaltlichen Überschneidungen der gewonnen Ergebnisse mit den Erkenntnissen anderer qualitativer Studien (vgl. Garrino et al., Soni-Jaiswal et al. und Bouwman et al.) dafür, dass durch die Inhaltsanalyse Phänomene herausgearbeitet wurden, die in dieser Form auch auf andere Personen und Situationen übertragen werden können. Die Vergleichbarkeit, also die inhaltliche Überschneidung der Erkenntnisse mit anderen Studienergebnissen, ist nach LeCompte und Preissle wichtiger Bestandteil der

‚externen Validität’ qualitativer Forschungsarbeit.121

Zudem wurde in der vorliegenden Arbeit das ‚Theoretical Sampling’ als Strategie zur Auswahl der Interviewteilnehmer verwendet (vgl. Kapitel 2.1.2).67 Jörg Strübing bezeichnet dieses Verfahren, das sich an der ‚theoretischen Sättigung’ des Datenmaterials orientiert, als

„qualitätssicherndes und kontrollierendes Verfahren“122. Durch diese Vorgehensweise kann sich der Ganzheit eines zu untersuchenden Phänomens angenähert werden. Die ‚theoretische Sättigung’ der Daten wurde für alle drei Erkrankungen separat verfolgt und bestimmte den Anteil der Erkrankungsgruppen an den ausgewerteten Interviews (7-mal MPS, 2-mal M. Fabry, 2-mal M. Gaucher). Eine Erklärung, weshalb mehr Interviews innerhalb der

Erkrankungsgruppe der MPS notwendig waren, um zu einer ‚theoretischen Sättigung’ zu gelangen, könnte in der Heterogenität der Mukopolysaccharidosen begründet sein.13

Des Weiteren wurden während des Auswertungsprozesses zentrale Gütekriterien der qualitativen Forschung eingehalten. Beispielsweise wurde im Sinne einer ‚kollegialen Validierung’ eine horizontale Prüfung der Zwischenergebnisse aus der qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt.84 Intersubjektive Abweichungen wurden durch eine Konsensfindung in der Forschungsgruppe beseitigt. Hierdurch wurde eine möglichst hohe Auswertungsobjektivität erreicht.84

Die Validierung der Ergebnisse durch die Interviewpartner erfolgte anhand der erarbeiteten Fragebogen (vgl. Kapitel 2.2.2).59 Deren Feedback deutet auf ein dem Forschungsgegenstand gerecht werdendes Vorgehen hin, da der überwiegende Anteil der Interviewteilnehmer angab, ihren Weg zur Diagnose in den Fragebogen dargestellt zu sehen. Dies zeigt, dass die Kernaussagen der Interviews durch qualitative Inhaltsanalyse erarbeitet werden konnten und eine adäquate Abbildung dieser in den Fragebogen realisiert wurde.

Die zentralen Ergebnisse der Inhaltsanalyse konnten durch semiquantitative Vorgehensweisen in einem Eltern- und einem Erwachsenenfragebogen abgebildet werden (vgl. Kapitel 2.3.1). Die Quantifizierung (im vorliegenden Projekt die Häufigkeitszählung der Kategorien) qualitativer Ergebnisse stellt laut Mayring einen Schritt zur Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse dar.123 Dadurch spiegeln sich in den Fragebogen die Themen wider, die von den Interviewpartnern besonders häufig angesprochen wurden und daher eine Regelmäßigkeit aufwiesen, die ihnen besondere Bedeutung zukommen ließ. Zudem war dieses Vorgehen ein Weg, um die Praxistauglichkeit der Fragebogen (vgl. Kapitel 4.3) sicher zu stellen.

Durch die anschließende exemplarische Anwendung des Elternfragebogens mithilfe von Data Mining Verfahren, konnte weiterhin die Übertragbarkeit der qualitativen Analyseergebnisse gezeigt werden. Die qualitativ-sinnverstehende Perspektive wurde hierdurch um eine statistisch repräsentative Herangehensweise ergänzt. Die Gültigkeit und damit auch die Repräsentativität der mittels qualitativer Inhaltsanalyse gewonnen Erkenntnisse wurde also im folgenden Schritt durch ein quantitatives Anwendungsmodell erhärtet, sodass das Verständnis des Einzelfalls und die quantitative Vergleichbarkeit ergänzend miteinander verknüpft wurden.124,65