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1. Einleitung

1.2 Forschungsstand

Qualitative Forschungsmethoden bieten geeignete Ansätze, um sich dem Feld seltener Erkrankungen zu nähern.

Dies zeigen Soni-Jaiswal et al., die die Lebensqualität von Betroffenen mit MPS I und deren Eltern untersuchten.51 Die Notwendigkeit für ihr Projekt sieht die Forschungsgruppe unter anderem in der Tatsache begründet, dass die Morbidität von Patienten mit MPS I trotz weiter entwickelten Behandlungsmöglichkeiten nicht nennenswert gesunken ist. Durch den Einblick in das Erlebte der erkrankten Kinder und deren Eltern wird deren Versorgungssituation kritisch beleuchtet und Verbesserungsansätze aufgezeigt. Hierfür wurden semistrukturierte Interviews mit 11 von MPS I betroffenen Familien geführt und mit Methoden der ‚Grounded Theory’ ausgewertet. Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass sowohl die Lebensqualität der Eltern als auch der betroffenen Kinder durch die Erkrankung eingeschränkt ist. Eltern geben an, besonders große Angst vor einem tödlichen Ausgang des häufig mit MPS I vergesellschafteten Schlaf-Apnoe-Syndroms zu haben. Kinder selbst sind durch ihre verzögerte Sprachentwicklung in der Kommunikation mit anderen Menschen beeinträchtigt.

Die sich im Verlauf entwickelnden muskuloskelettalen Probleme behindern die Kinder in der Entwicklung körperlicher Eigenständigkeit und damit auch in ihrer Autonomieentwicklung.

Damit einher gehen sichtbare, körperliche Veränderungen, die die Kinder mit zunehmendem Alter als störend empfinden, weil sie sie von Gleichaltrigen abheben. Die genannten Faktoren führen zu einer sozialen Ausgrenzung und emotionalen Belastung. Vor diesem Hintergrund fordern Soni-Jaiswal et al. ein optimiertes Krankheitsmanagement.51

Die Zielsetzung, das Krankheitsmanagement seltener Erkrankungen kritisch zu beleuchten und damit eine Grundlage für Verbesserungsmöglichkeiten zu schaffen, weisen ebenfalls Garrino et al. auf.50 Dies möchten sie durch die Exploration individueller Erfahrungen Betroffener und des medizinischen Personals, welches aus einem spezialisierten Zentrum für die Versorgung seltener Erkrankung stammt, erreichen. Hierfür führten sie 22 Interviews mit Patienten und 12 Interviews mit Personal aus deren medizinischer Versorgung durch. Die Interviews wurden anschließend anhand der Methodik nach Colaizzi analysiert und entscheidende Themengebiete herausgearbeitet. Seitens der Patienten wurde deutlich, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben mit der Entwicklung ihrer Erkrankung umzugehen. So hatten die

Patienten lange Wege zur Diagnose, die von Unsicherheit, sowie einem Wechselspiel von Remission und Fortschreiten der Erkrankungen gekennzeichnet waren. Auch die darauffolgenden, oft schwierigen Therapieeinstellungen stellen sich als Belastung heraus.

Zudem berichten die Patienten, dass sie Einschränkungen durch Schmerzen und andere Beschwerden im Alltag erleben. So wird das Erhalten von körperlicher Selbstständigkeit oder auch die Ausführung der beruflichen Tätigkeit für die Betroffenen zur Hürde. Sie versuchen deshalb Anpassungsstrategien zu entwickeln. Stützende Faktoren in schwierigen Lebenssituationen stellen Familienmitglieder dar, der persönliche Vergleich mit anderen (evtl.

schwerer) Erkrankten löst jedoch häufig negative Gefühle aus. Die Patienten fühlen sich in spezialisierten Zentren gut aufgehoben und besitzen das Bedürfnis nach möglichst umfassenden Informationen zu ihrer Erkrankung.

Das medizinische Personal betont ebenfalls den schwierigen Weg zur Diagnose und nimmt die Alltagseinschränkungen der Betroffenen aufgrund der Erkrankung wahr und ernst. Außerdem ist es der Meinung, dass die Rarität der Krankheiten selbst die Versorgung der Patienten erschwere. Die Notwendigkeit eines interdisziplinären Teams und ausreichender Zeit für die Patienten wird von medizinischem Personal hervorgehoben. Somit ergeben sich aus den Ergebnissen von Garrino et al. Defizite in der Diagnostik und Therapie von seltenen Erkrankungen.50

Einen patientenorientierten Beitrag zur Diskussion um die Aufnahme von M. Fabry in das Neugeborenen-Screening leisten Bouwman et al.52 Diese führten 30 semistrukturierte Interviews mit Betroffenen durch. Der Fokus der Interviews lag hierbei auf dem persönlichen Erleben des Zeitpunkts der Diagnosestellung. Ebenfalls wurden aus diesen Interviews mit qualitativen Methoden entscheidende Themen herausgearbeitet. Dabei wird als Argument für die Aufnahme von M. Fabry in das Neugeborenen-Screening aufgezeigt, dass der Weg für Betroffene zu einer Diagnose lang und schwer ist. So fühlen sich Betroffene während dieser Zeit häufig missverstanden und werden oft fehldiagnostiziert. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus dem frühen Einsatz einer Therapie, den die Betroffenen für entscheidend erachten.

Nachteile einer frühen Diagnose sind vor allem emotionalen und psychischen Ursprungs. So werden unter anderem Sorgen um die persönliche Krankheitsentwicklung und die Familienplanung zu bedeutsamen Themen für Betroffene.52

In Anlehnung an die beschriebenen mittels qualitativer Forschungsmethoden erarbeiteten Ergebnisse, sollen im vorliegenden Projekt die prädiagnostischen Erfahrungen von Patienten mit MPS, M. Fabry und M. Gaucher untersucht werden.

Eine mögliche Verbindung von Patientenexpertise und ‚Clinical Decision Support Systems’

(CDSS) sah bereits S.C. Porter, der ein Werkzeug zur Entscheidungshilfe der aktuellen Therapieeinstellung bei Asthma bronchiale im Kindesalter vorstellt.53 Sein Vorschlag für ein CDSS, welches Patienten bzw. Eltern eine Schlüsselrolle im Entscheidungsprozess zukommen lässt, nennt sich ‚Collaborative Expert System’. Hierbei sollen sowohl Pflegekräfte und Ärzte als auch Patienten und Eltern die Möglichkeit bekommen, ihre Eindrücke und ihr Wissen in einem elektronischen Prozess beizusteuern. Es soll ein individueller Fragenkatalog für alle beteiligten Gruppen erstellt werden, der parallel und an unterschiedlichen Orten beantwortet werden kann. Das System führt diese Informationen zusammen und gibt dann eine Empfehlung bezüglich der aktuellen Asthmatherapie.53

Als Grundlage für ein CDSS können Data Mining Verfahren zum Einsatz kommen. Diese werden von Horowitz et al. verwendet, um einen Fragebogen zur Erkennung der gastroösophagealen Refluxerkrankung diagnostisch einzusetzen.54 Hierbei handelt es sich um einen Fragebogen mit 15 Items, der die Präsenz und den Schweregrad von entsprechenden Symptomen, wie zum Beispiel ein säuerlicher Geschmack im Mund oder retrosternale brennende Schmerzen, abfragen soll. Insgesamt beantworteten 132 Patienten den Fragebogen, die alle eine gesicherte Diagnose einer gastroösophagealen Refluxerkrankung aufwiesen. Ebenfalls wurde der Fragebogen durch eine Kontrollgruppe mit gastrointestinalen Oberbauchbeschwerden beantwortet. Mittels Data Mining Verfahren wurde der entstandene Datensatz ausgewertet. Hierfür wurden Techniken, wie die ‚logistische Regression’, ‚neurale Netzwerke’ und ‚Entscheidungsbäume’ verwendet. Das Werkzeug erreichte in seiner Testphase eine diagnostische Sensitivität von 78%. Die Testung des Systems folgte mit einem dem System bis dahin unbekannten Datensatz.54

Auch Naydenova et al. zeigen, dass Data Mining Verfahren im Bereich der Diagnoseunterstützung eingesetzt werden können.55 Sie entwickelten ein Werkzeug zur Diagnoseunterstützung von Lungenentzündungen im Kindesalter. Dabei wird vor allem die

Nützlichkeit dieses Tools in Entwicklungsländern, die beispielsweise keine Röntgengeräte oder fachlich ausreichend qualifiziertes Personal für die Behandlung von Kindern mit Lungenentzündung haben, betont. Die Eingangsgrößen des Werkzeugs bestehen aus Vitalparametern, Lungengeräuschen und Biomarkern. Ausgewertet werden sie mittels der Klassifikatoren ‚logistische Regression’, ‚Support Vektor Maschine’ und ‚Random Forest’. Für das Training der Data Mining Verfahren standen 780 an Lungenentzündung erkrankte Kinder zur Verfügung und 801 gesunde Kinder, die als Kontrollgruppe dienten. Das entstandene Werkzeug konnte in einem Test mit einer Sensitivität von 98% die korrekte Diagnose stellen, wobei der ‚Random Forest’-Algorithmus die besten Ergebnisse lieferte.55

Ein differentialdiagnostisches Werkzeug, das zur Differenzierung erythematosquamöser Erkrankungen beitragen soll, wurde von Maghooli et al. mittels Data Mining Verfahren erstellt.56 Das System wurde nur mit Erkrankungen trainiert, die dem erythematosquamösen Formenkreis angehören. So kann das Tool lediglich zwischen diesen Erkrankungen unterscheiden. Es wurde der ‚Classification and Regression Tree’-Algorithmus verwendet.

Insgesamt lag ein Datensatz mit 366 Patienten vor, wovon 213 für das Training der Verfahren genutzt wurden. Eingangsgrößen des Werkzeugs sind unter anderem klinische Zeichen, wie das Köbner-Phänomen, und histopathologische Merkmale. Maghooli et al. zeigen in einem anschließenden Testdurchlauf mit dem zuvor abgespaltenen Datensatz, dass das entwickelte Werkzeug eine differentialdiagnostische Sensitivität von knapp 95% aufweist.56

Die Anwendung von CDSS im Bereich der seltenen Erkrankungen ist nach den klinischen Erfahrungen von Müller et al. hilfreich.57 Sie betonen, dass „die Mustererkennung, […] bei unbekannten Symptomen schlichtweg nicht [funktioniert]“57 und dass es „selbst für den versiertesten Arzt unmöglich [ist], all diese Symptome zu kennen“57. Aus diesem Grund stellen sie verschiedene CDSS vor, die sie im klinischen Alltag für ihre Arbeit mit seltenen Erkrankungen nutzen. Hierzu zählen unter anderem das Programm ‚FindZebra’ und ‚Isabel Healthcare’. ‚FindZebra’ ist eine Online-Suchmaschine für seltene Erkrankungen, die auf der Basis einer Freitexteingabe von Phänotypen und Symptomen eine Liste infrage kommender Differentialdiagnosen erstellt. Das Programm greift hierbei auf 33.400 Artikel zurück, die aus unterschiedlichen Datenbanken des Internets stammen. Den Erfahrungen von Müller et al.

zufolge hat ebenfalls ‚Isabel Healthcare’ hilfreiche Unterstützung im Bereich der

Diagnoseunterstützung seltener Erkrankungen gegeben. Das Programm fragt epidemiologische Daten (z.B. Geschlecht und Alter) ab und bietet die Möglichkeit aufgetretene Symptome in Suchfelder einzugeben. Hierbei arbeitet das System mit natürlicher Spracherkennung und generiert aufgrund dessen auch automatisierte Wortvorschläge. Anschließend generiert ‚Isabel Healthcare’ eine Diagnosecheckliste mit infrage kommenden Erkrankungen, die dann vom Arzt unterstützend diagnostisch genutzt werden kann.57

Im vorliegenden Projekt wird in Anbetracht der in diesem Kapitel vorgestellten Ergebnisse eine Kombination aus qualitativen Forschungsmethoden und Data Mining Verfahren gewählt, um einen Beitrag in Form eines CDSS zur Diagnoseunterstützung seltener, ausgewählter Stoffwechselerkrankungen zu leisten.