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2. Material und Methoden

2.1 Das narrative Interview

2.1.1 Die Interviewtechnik – Ein Überblick

Zur Erfassung der für das Projekt notwendigen Daten wurden Interviews mit Betroffenen und Eltern von erkrankten Kindern durchgeführt. Ein Interview (Interview 8 – MPS I) aus einem Vorgängerprojekt lag bereits vor. Von den insgesamt 17 Interviews entfielen 9 Interviews auf die Diagnosegruppe MPS und je 4 Interviews auf die Diagnosegruppen M. Fabry und M.

Gaucher. Dabei wurden 12 der 17 Interviews mit Eltern betroffener Kinder geführt und 3 Interviews mit erwachsenen Betroffenen. Aufgrund des X-chromosomalen Erbgangs von M.

Fabry befanden sich zwei Interviewpartner in der Situation, Eltern eines betroffenen Kindes und selbst erkrankt zu sein. Die Interviews wurden anschließend analysiert und es wurden aus den Ergebnissen zwei Fragebogen entwickelt. In die Datenerhebung wurden nur Patienten bzw. deren Eltern aufgenommen, bei denen eine gesicherte Diagnose vorliegt.

Zur Datenerhebung wurde das in der empirischen qualitativen Sozialforschung genutzte narrative Interview gewählt. Dieses von Fritz Schütze entwickelte Verfahren legt den Fokus auf die subjektive Sichtweise und Erfahrung des zu befragenden Individuums.58 Durch qualitative Datenerhebung kann ein Zugang zum untersuchten Gegenstand hergestellt werden, der sich einer rein quantitativen Erfassung entzieht. Es kann gesagt werden, dass der qualitative Zugang den Fokus auf die erlebte Situation selbst stellt.58 Durch qualitative Inhaltsanalysen – in der vorliegenden Arbeit wurde die Auswertungsmethode nach Colaizzi59 (vgl. Kapitel 2.2.2) gewählt – kann der wesentliche Inhalt des Erzählten erfasst und für anschließende Arbeitszwecke nutzbar gemacht werden. Die Besonderheit eines offenen Interviews, insbesondere des narrativen Interviews, liegt in der möglichst minimalen Strukturierung durch den Interviewer. Dieser stellt als Stimulus lediglich eine auffordernde Eingangsfrage, um der interviewten Person die Möglichkeit des Erzählens zu geben. Das typische Frage-Antwort-Muster spielt dabei keine Rolle.60 Der Kern des Gesagten sollte also in Form einer Erzählung wiedergegeben werden. Eine Erzählung ist durch eine Prozessstruktur gekennzeichnet, wobei beschreibende Episoden, die von der Kernerzählung abweichen,

durchaus von den Befragten eingebaut werden können und auch zur inhaltlichen Auswertung dienen. Diese vordergründig als unzusammenhängend erscheinenden Exkurse in der Erzählung der Befragten werden dementsprechend als mit dem Thema zusammenhängende Aspekte aufgefasst.61,62

Im vorliegenden Projekt wurden die Eltern und Patienten gebeten, Phänomene aus der Zeit vor der Diagnosestellung zu schildern. Dabei war inhaltlich alles von Bedeutung, was die Befragten für entscheidend hielten, da den Eltern und Patienten bezüglich ihrer eigenen Lebens- und Krankengeschichte durchaus ein Expertenstatus zugeschrieben werden kann.

Zudem vermögen sie sich an wichtige Phänomene und Vorgänge zu erinnern, die ergänzend zu den Vorüberlegungen der Interviewerin von Relevanz für die Annäherung an das erforschte Thema sind.63,64,53,60

2.1.2 Auswahl der Interviewpartner

Zur Auswahl der Interviewteilnehmer wurde die aus der Sozialforschung stammende Methode des ,Samplings’ verwendet. Das ‚Sampling’ beschreibt die Auswahl zu untersuchender Personen, die für eine Grundgesamtheit stehen. Die Grundgesamtheit, der sich diese Dissertation annähert, sind also die Erkrankten der oben aufgeführten LSDs.65 Es wurden mindestens zwei Interviews pro Zielerkrankung (MPS, M. Fabry, M. Gaucher) durchgeführt und ausgewertet, um relevante Differenzen in einem Erkrankungsbild abzubilden.65 Die zu untersuchende Fallzahl wurde bei der Projektplanung nach oben hin nicht begrenzt. Datenerhebung und Auswertung erfolgten parallel, sodass anhand der Ergebnisse der Bedarf an neuen Interviews festgemacht werden konnte. Zu dem Zeitpunkt, an dem es keinen relevanten Zuwachs an neuen Erkenntnissen für die Forschungsfrage mehr gab, wurde die Interviewanalyse abgeschlossen. Dieses Vorgehen entspricht dem Prinzip der

‚theoretischen Sättigung’, welches häufig in erziehungs- und gesundheitswissenschaftlichen Studien angewandt wird.66 Das Wechselspiel von Datenerhebung und Datenauswertung stammt aus dem Verfahren des ,Theoretical Sampling’ und wurde schon 1996 von Strauss und Corbin beschrieben.67 Der Vorteil dieser Methodik liegt in der hohen Flexibilität des Forschers, sich von den Gegebenheiten und Ansprüchen des untersuchten Gegenstandes sowohl methodisch als auch interpretativ anleiten zu lassen.67,68,65

2.1.3 Vorbereitung der Interviews und Schulung der Interviewerin

In Vorbereitung auf das Projekt wurde ein positives Votum der Ethikkomission der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zur vorliegenden Studie und zu den durchzuführenden Interviews eingeholt (vgl. A. 14).

Anschließend mussten Familien mit gesicherter Diagnose für das Projekt gefunden und deren Teilnahmebereitschaft erfragt werden. Die Kontaktaufnahme zu betroffenen Familien mit M.

Fabry und M. Gaucher erfolgte neben der Kinderklinik der MHH über zwei ausgewählte Kliniken in Deutschland, die Patienten mit den genannten Stoffwechselerkrankungen behandeln. Dazu gehören die Kinder- und Jugendmedizin des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf und das Zentrum für Seltene Erkrankungen der HELIOS Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden. Außerdem wurde der Kontakt zu M. Gaucher Patienten über die Selbsthilfegruppe ‚Gaucher Gesellschaft Deutschland e.V.’ hergestellt. Der Kontakt zu an MPS erkrankten Familien entstand über die Selbsthilfegruppe ‚Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen e.V.’.

Nach Einholung des Einverständnisses der Patienten wurden die Kontaktdaten durch die Ansprechpartner der Kliniken und Selbsthilfegruppen an das Forschungsteam der MHH vermittelt und die infrage kommenden Interviewpartner telefonisch kontaktiert.

Diesen wurde das Projekt vereinfacht erklärt. Mit dem Ziel, einen Antwortentwurf der Interviewpartner im Vorfeld zu vermeiden, wurden möglichst wenige Details zur Forschungsfrage offengelegt. Das Interview sollte möglichst aus dem Stegreif generiert werden.69 Ebenfalls wurden Eltern und Betroffene über die Form des Interviews informiert.

Dabei wurden bewusst Worte wie ,Gespräch’ oder ,Erzählung’ verwendet, um nicht fälschlicherweise auf ein typisches Frage-Antwort-Interview vorzubereiten, das oft mit dem Wort ,Interview’ assoziiert wird.60

Nach einer Bereitschaftserklärung wurde ein verbindlicher Termin zu einem Interview vereinbart. Hierbei zeigte die Interviewerin Flexibilität und Offenheit bezüglich des Erhebungsortes- und datums.69

In Vorbereitung auf die Interviewtermine wurden einheitliche Eingangsfragen festgelegt, um die Vergleichbarkeit zwischen den Interviews zu wahren70:

„Frau/Herr (Name), ich würde Sie nun bitten, mir über die Lebensphase Ihres Kindes zu berichten bevor Ihr Kind die Diagnose (Krankheit) bekommen hat. Erzählen Sie gerne von all den Phänomenen, die Sie vom ersten Moment an beobachtet haben.”

(Interview mit Eltern betroffener Kinder)

„Frau/Herr (Name), ich würde Sie nun bitten, mir über Ihre Lebensphase zu berichten bevor Sie die Diagnose (Krankheit) bekommen haben. Erzählen Sie gerne von all den Phänomenen, die Sie vom ersten Moment an beobachtet haben.”

(Interview mit betroffenen Erwachsenen)

Die Fragen wurden so konstruiert, dass die Interviewpartner in der Lage waren, die Schwerpunkte und Abläufe ihrer Geschichte unbeeinflusst von einem vorgegebenen Rahmen schildern zu können. Sie sollten als Experten ihrer eigenen Geschichte erzählen und damit den Inhalt des Interviews weitgehend selbst bestimmen.71,60 K. Ross bezeichnet diese Strategie als

‚Empowering’ der Forschungsteilnehmer.69

Zur Vorbereitung der Interviewerin auf ihre Aufgabe wurden exemplarisch Interviews mit einem Mitglied der Forschungsgruppe durchgeführt. Anschließend wurden in einer Feedback-Runde Stärken und Schwächen bei der Durchführung des Interviews sowie im Verhalten der Interviewerin beleuchtet. Zur weiteren Einstimmung und Schulung wurden bereits aufgezeichnete, exemplarische Interviews aus vergleichbaren Forschungsprojekten studiert und analysiert.

Die im Projekt eingesetzten Interviewdokumente sind im Anhang abgebildet (vgl. A.1). Hierzu gehören unter anderem die Einverständniserklärungen zur Teilnahme am Projekt (sowohl von den Eltern und befragten Patienten als auch von den Kindern bzw. Jugendlichen), ein Dokument zur Sammlung anonymisierter Patientendaten und ein Dokument zum Protokollieren der Interviewsituation.

2.1.4 Durchführung und Struktur der Interviews

Zu Beginn der Treffen mit den Interviewpartnern wurde in einer Art ,Joining’ versucht, einen zwischenmenschlichen Zugang zu den betroffenen Familien zu finden. Dies konnte die Interviewerin schon durch eingehende, unverbindliche Gespräche, in denen alltägliche Themen abseits des Forschungsinhaltes angesprochen wurden, erreichen.70

Anschließend wurde jeder Teilnehmer über die Anonymität der Datenauswertung informiert und eine schriftliche Einwilligungserklärung zur Aufzeichnung der Interviews und deren wissenschaftlicher Bearbeitung eingeholt.

Die Interviews wurden auf Tonband (Gerät: ‚Olympus Digital Voice Recorder VN-733PC’) aufgenommen und im WMA-Format auf einen geschützten Computer der Kinderklinik der MHH übertragen. Nachdem die qualitative Inhaltsanalyse der Interviews abgeschlossen war, wurden die Tonbandaufnahmen gelöscht.

Die Interviews wurden nach dem von Fritz Schütze entworfenen Konzept in drei Phasen durchgeführt70,61,71:

1. Eingangsfrage als Erzählstimulus 2. Haupterzählung

3. Nachfrageteil

Auf die Eingangsfrage folgte die anschließend zu analysierende Haupterzählung. Dies geschah in Form einer Stegreiferzählung, in der die Interviewten ihre Geschichte ohne Vorbereitung frei aus der Situation heraus reproduzierten. Die Befragende intervenierte nicht durch Kommentare, ließ Schweigepausen zu und signalisierte Verständnis, bis die Befragten von alleine zu einer Erzählkoda kamen.60,61 Hierbei signalisierten die Betroffenen durch abschließende Äußerungen, dass sie am Ende ihrer Erzählung angekommen waren. Gerieten die Befragten in ihren Erzählungen ins Stocken, wurden zur Hilfestellung seitens der Interviewerin Fragen gestellt, um den Redefluss wieder anzuregen. In Fällen, in denen zu vertiefende Themen seitens der Befragten zwar verständlich thematisiert, jedoch nicht in

ausreichender Ausführlichkeit angesprochen wurden, wurden diese Themenkomplexe im Zuge einer Nachfragephase verstärkt aufgegriffen.70

Die Interviewerin hatte in dieser Phase die Möglichkeit, angesprochene, die Untersuchung weiterführende Themen, zu vertiefen (immanentes Nachfragen).71,70 Exmanente Fragen (Abfragen von bisher noch nicht genannten Themen) wurden bewusst vermieden, da in der methodischen Konzeption der Interviews auf einen expliziten Themenkatalog verzichtet wurde. Um den oben dargelegten Zielsetzungen und Fragestellungen nachzugehen, waren hauptsächlich die Themen interessant, die von den Erzählenden selbst für wichtig erachtet wurden.69,60 Zum Abschluss der Nachfragephase wurden die Teilnehmer darauf hingewiesen, dass ihnen an dieser Stelle die Möglichkeit gegeben sei, Aspekte aufzugreifen, die ihnen zwar wichtig erschienen, die jedoch bis dahin keine Erwähnung gefunden hatten.

Anschließend wurde das Aufzeichnungsgerät ausgeschaltet. Es folgte die ,Off-the-record-Situation’.70 Die Teilnehmer bekamen ein positives Feedback, das sie darin bestätigte, einen wichtigen Beitrag zum Forschungsprojekt geleistet zu haben.

Das in Kapitel 2.1.3 genannte Dokument zur Erfassung anonymisierter Patientendaten wurde abschließend gemeinsam mit den Interviewteilnehmern ausgefüllt. Die Interviewerin protokollierte in einem separaten Dokument die Interviewsituation.

2.2 Qualitative Auswertung der erhobenen Daten