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Quadrant III Logistik, Transport

5 Relevante Dimensionen kollektiver Orientierung im Arbeitsschutz

5.1 Gefährdungsrahmung

Diese Sinn-Dimension wurde im Forschungsprozess relativ spät, nach einer Reihe von interpretativen Fallvergleichen entdeckt und wie folgt in einem gemeinsamen Code-Memo definiert: Unter „Gefährdungsrahmung“ verstehen wir im Sinne eines Orientierungsrahmens die im Betrieb vorherrschenden Einschätzungen bzw. Imagi-nationen zur Beherrschbarkeit von Gefahren. Die jeweilige Gefährdungsrahmung stellt die präventive Wissensordnung des Betriebes im Bereich Sicherheit und Ge-sundheit dar. Sie bestimmt die Strategie, mit der im Betrieb Gefährdungen begegnet wird und liefert die je spezifische Art von Problemdefinitionen, Zielvorstellungen,

Kausalitätsannahmen und Plausibilisierungsstrategien (Bröckling, 2012, S. 97) im Arbeitsschutz. Um diese Kategorie zu dimensionalisieren, sind für die erneute oder additive Interpretation nach dokumentarischer Methode Textpassagen anhand von Codes ausgesucht worden, die als korrespondierend angenommen wurden. Dies waren u. a. die Codes „Beinahe-Unfälle“, „Gefährdungen gesehen“, „Risikobewer-tung“ und „Unfall-Analyse“, aber auch die im Forschungsprozess nach GTM erstell-ten in-vivo-Codes „pragmatisch“, „gesunder Menschenverstand“, „Profi sein“ oder

„Formalismus“ etc.. Die parallel zu den interpretativen Fallvergleichen bereits geleis-tete Codierarbeit nach Grounded Theory wurde also dazu genutzt, durch ein Ret-rieval der korrespondierenden Codings dichte Passagen ausfindig zu machen, die versprachen, den Orientierungsrahmen „Gefährdungsrahmung“ durch verschiedene Ausprägungen weiter zu untersetzen. In diesem Prozess hat das Forschungsteam drei Ausprägungen der Dimension „Gefährdungsrahmung“ identifiziert:

A) die dynamische Gefährdungsrahmung, die durch die Überzeugung charakteri-siert ist, dass Prävention im Zuge permanenter Analyse und permanenten Lernens verbessert werden kann und muss, da Sicherheit und Gesundheitsschutz labil sind.

Diese Ausprägung zeichnet sich durch die intensivste Vergegenwärtigung von mögli-cher Zukunft aus;

B) die fragmentarische Gefährdungsrahmung, die vor Augen hat, dass es nur eine begrenzte Zahl von Ansatzpunkten für Prävention gibt und die jenseits dieser An-satzpunkte immer einen Restbereich von Gefahren annimmt, der präventiven Maß-nahmen grundsätzlich nicht zugänglich ist, dem man also ausgeliefert bleibt und C) die Gefährdungsrahmung entlang persönlicher Eignung, in der sich die Über-zeugung ausdrückt, dass Gefährdungen durch die persönliche Kompetenz sowohl der Firmeninhaberin bzw. des Firmeninhabers, als auch der Beschäftigten be-herrschbar werden. Der zuletzt genannte Orientierungsrahmen C) war nicht nur in Handwerksbetrieben und Apotheken anzutreffen, die ihre eigene sowie die Professi-onalität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugleich für den besten Arbeitsschutz hielten, sondern auch in Start-ups der Digitalwirtschaft, deren Beschäftigte eher nicht über eine standardisierte Ausbildung, eine standardisierte Profession verfügten, sich selbst aber zutrauten, aufgrund ihrer Eignung, d. h. hier zumeist aufgrund ihrer Krea-tivität situativ angemessen zu reagieren. Diese reaktive, personalisierende Gefähr-dungsrahmung weist die schwächste bzw. tendenziell keine Vergegenwärtigung von möglicher Zukunft auf. Sie zeichnet sich eher durch einen konsequenten Gegen-wartsbezug aus, vermeintlich abgesichert allein durch Ausbildung, Eignung, Kreativi-tät oder Erfahrung der Personen, die im Arbeitsprozess mit Gefährdungen umgehen.

Während sich die zuletzt genannte Ausprägung C) ausschließlich in Kleinbetrieben fand, war Ausprägung A) ausschließlich in Großbetrieben ab 500 Beschäftigte anzu-treffen. Allerdings kann umgekehrt nicht gesagt werden, dass alle Großbetriebe ab 500 Beschäftigte in dieser Typik Ausprägung A) ausbilden, ebenso wenig wie alle befragten Kleinbetriebe Ausprägung C) besaßen. Der Grad der Offensichtlichkeit von Gefährdungen sowie die Intensität der Compliance-Anforderungen in für Sicherheit und Gesundheit relevanten Bereichen (Branchengruppenbezug) scheinen für Betrie-be, die den Ausprägungen A) oder C) zugeordnet wurden, eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Gefährdungsrahmung A) und C) fanden sich sowohl in Hochrisiko-, als auch in überwiegend durch Büroarbeit geprägten Branchen, in Umwelt oder

Ver-braucherschutz sensiblen Bereichen ebenso wie in Gewerbezweigen mit geringen relevanten Compliance-Anforderungen.

Nachdem die Zuordnung für alle 50 Fälle erfolgt war – lediglich vier Fälle konnten Gefährdungsrahmung A) zugeordnet werden, 38 Fälle Gefährdungsrahmung B) und zwölf Fälle Gefährdungsrahmung C) –, ergab sich eine breiter gestreute Verteilung erst durch den Raum, der anhand der beiden weiteren Sinn-Dimensionen aufgespannt werden konnte, d. h. erst in den Schnittpunkten zweier weiterer Typiken, die im Folgenden vorgestellt werden. Die Typik „Gefährdungsrahmung ist im Sinne Bohnsacks als „Basistypik“ zu verstehen. Unter „Basistypik“ versteht Bohnsack ein allen Fällen „gemeinsamer Orientierungsrahmen bzw. ein gemeinsames Orientie-rungsproblem“ (Bohnsack, 2009, S. 327). Mit der Dimension „Gefährdungsrahmung“

haben wir dieses allen Fällen gemeinsame Orientierungsproblem in unserem Materi-al identifizieren können. Es handelt sich um ein strategisches Orientierungsproblem unter der Bedingung grundsätzlicher Unsicherheit unternehmerischen Entscheidens.

Entscheidungen können im Rahmen unseres Gegenstands in dem Sinne „falsch“

sein, dass durch sie keine angemessene Sicherheit, kein angemessener Gesund-heitsschutz bei der Arbeit hergestellt wird, wobei was als „angemessen“ gilt, zumeist erst im Schadensfall retrospektiv – ggf. auch juristisch – definiert wird. Unter dieser generelle Bedingung des Entscheidens unter Unsicherheit ergibt sich für Verantwort-liche und Zuständige im Arbeitsschutz das Orientierungsproblem, auf welche Strate-gie sie setzen, welche Herangehensweisen sie priorisieren und ins Zentrum ihres Handelns stellen sollen, um den Gefährdungen vor Ort im Betrieb möglichst ange-messen zu begegnen. Man könnte in Anlehnung an Bohnsack davon sprechen, dass dieses Orientierungsproblem in den Gemeinsamkeiten des Erfahrungsraums Ar-beitsschutz fundiert ist.

5.2 Interaktionsfokus

Mit der Dimension „Interaktionsfokus“ ist der Schwerpunkt gemeint, den der Betrieb entweder auf die interne Integration als Organisation und damit auf einen intensiven Austausch mit den Beschäftigten legt, oder auf die Interaktion mit bzw. Adaption an relevante externe Umwelten, d. h. hier insbesondere mit der „Staatlichkeit“, also mit dem Gesetz sowie ggf. mit der Vertretung des Staates in diesem Feld, also auf die Adaption an die Forderungen der Aufsichtsdienste der Länder und Unfallversicherungsträger. Wie oben ausgeführt, gehören sowohl interne Integration, als auch externe Adaption an relevante Umwelten – im Arbeitsschutz v. a. an die Gesetzgebung und die Kontrollorgane des Staates – zu den überlebenswichtigen Aufgaben einer Organisation. Deshalb soll mit der Zuordnung von Fällen anhand der Kategorie „Interaktionsfokus“ nicht ausgedrückt werden, ein Fall mit dem Interakti-onsfokus „Integration“ betreibe keinerlei „Adaption“ und umgekehrt. Die Zuordnung beantwortet lediglich die Frage nach der größten Intensität, mit der die eine oder die andere betriebliche Aufgabe bearbeitet wird. Diese Frage kann anhand der zentralen Orientierungen beantwortet werden, die von den Befragten zum Teil explizit adres-siert wurden, v. a. aber durch die Rekonstruktion von deren impliziten Wissensbe-ständen herausgearbeitet werden konnten.

Für die Typenbildung relevant war innerhalb der Subdimension „Externe Adaption“

die Positionierung zwischen den Polen „Rechtskonformität“ (R) und

„unternehmeri-sche Souveränität“ bzw. „Adaption an eigene (Konzern-)Standards“ (S), wobei die zuletzt genannte Ausprägung anzeigt, dass im Aufgabenfeld Sicherheit und Gesund-heitsschutz kein Fokus auf der externen Adaption an die „Staatlichkeit“ liegt. Dies verweist zugleich häufig darauf, dass der Schwerpunkt auf der Adaption an andere als staatliche Interaktionspartner gelegt wird, etwa an Mitbewerber oder Kunden. So-fern Kleinbetriebe über eine sicherheitstechnische und betriebsärztliche Betreuung verfügen, kann der Schwerpunkt der Ausrichtung im Arbeitsschutz auch in der Adap-tion an diese Arbeitsschutzexperten, andere Gesundheitsberater oder Multiplikatoren bestehen. Dies wurde zusammengefasst in der Ausprägung „Mittler“ (M).

Innerhalb der Subdimension „Interne Integration“ ging es zum einen um die konkrete Ausgestaltung des Spannungsverhältnisses zwischen „Eigenverantwortung der Be-schäftigten“ und „unternehmerischer Fürsorge“ sowie zwischen basalen (BP) und erweiterten Partizipationsmöglichkeiten (EP), die den Beschäftigten eingeräumt wer-den, d. h. zwischen bloßer Information und gezielter Konsultation der Beschäftigen, sowohl in Fragen der wahrgenommenen Belastungen, als auch in Fragen der Aus-gestaltung von Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb.