• Keine Ergebnisse gefunden

Literatur:DORNDORF, Das Verhältnis von Tarifautonomie und individueller Freiheit als dogmatischer Theorie, FS Kissel (1994), 139; REUTER, Möglichkei-ten und Grenzen einer Auflockerung des Tarifkartells, ZfA 1995, 1; RICHARDI, Die rechtliche Ordnung der Arbeitswelt, JA 1986, 289; RIEBLE, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996; WIEDEMANN, Die Gestaltungsaufgabe der Tarifver-tragsparteien, RdA 1997, 297.

Funktionen des Tarifvertrags § 88

§ 88 Funktionen des Tarifvertrags

Ü

Übersicht:

I. Schutzfunktion II. Friedensfunktion III. Ordnungsfunktion IV. Verteilungsfunktion

V. Kartellfunktion

Hauptbestandteil der Koalitionsfreiheit ist die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie, die die Tarifparteien ermächtigt, innerhalb des durch das Tarifvertragsgesetz geschaffenen Tarifsys-tems die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder in kollektiven Verträgen mit zwingender Wirkung selbstständig und selbstverantwortlich zu regeln. Dabei erfüllt das Tarifwesen viel-schichtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufgaben, die zwar keine Geltungsvoraussetzung oder Legitimationsgrundlage der ein-zelnen Tarifverträge darstellen, deren Bestimmung aber dem grund-legenden Verständnis und der Auslegung des Gesetzes dient.

I. Schutzfunktion

Die historisch älteste Funktion der Tarifverträge ist die des Schutzes des einzelnen Arbeitnehmers. Ihr liegt die grundsätzliche Annahme zugrunde, dass der einzelne Arbeitnehmer gegenüber dem jeweiligen Arbeitgeber aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit struktu-rell unterlegen ist, was die genestruktu-relle Gefahr einer Übervorteilung bei der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen in sich birgt. Denn bei Abschluss des Arbeitsvertrags ist der einzelne Arbeitnehmer in der Regel nicht in der Lage, eigene Interessen und Vorstellungen durch-zusetzen (BVerfG 28.1.1992 AP Nr. 2 zu § 19 AZO). Diese struktu-relle Unterlegenheit ist nicht durch Schaffung gesetzlicher Mindest-standards beseitigt worden, sondern dadurch, dass auf Seiten der Arbeitnehmer mit den Koalitionen ein eigenes Machtpotential gebil-det wurde. Die Schutzfunktion verwirklicht sich damit in der Schaf-fung angemessener Arbeitsbedingungen mit Hilfe paritätischer Ver-handlung der Tarifvertragsparteien. Die Schutzfunktion des Tarifvertrags gewinnt gerade in Zeiten allgemeiner wirtschaftlicher Schwäche und hoher Arbeitslosigkeit besonders an Bedeutung, da das hohe Angebot an Arbeitskräften den Einzelnen verstärkt unter Druck setzt, für einen Arbeitsplatz schlechtere Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Die so erzeugteStabilität der Arbeitsbedingun-gendient aber nicht nur demSchutz der Arbeitnehmer, deren Exis-tenzgrundlage das Arbeitsverhältnis ist, sondern auch den Arbeit-gebern, die ein Interesse an einer sicheren Kalkulationsgrundlage haben.

II. Friedensfunktion

Indem die Tarifparteien die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zwingend regeln, tragen sie maßgeblich zur Befriedung des Arbeits-lebens bei.

„Die aus der Koalitionsfreiheit entspringende Tarifautonomie verfolgt den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in dem von der staatli-chen Rechtssetzung frei gelassenen Raum das Arbeitsleben im Einzel-nen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordEinzel-nen, insbesondere die Höhe der Arbeitsvergütung für die verschiedenen Berufstätigkeiten festzulegen und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befrieden.“ (BVerfG 6.5.1964 AP Nr. 15 zu § 2 TVG)

Dies geschieht auf verschiedene Weise, zuallererst dadurch, dass sich die Tarifparteien durch Abschluss eines Tarifvertrags dazu ver-pflichten, während dessen Laufzeit keine Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen. Darüber hinaus tragen verbindlich geregelte Sach-bereiche naturgemäß dazu bei, das Konfliktpotential zwischen Ar-beitnehmer und Arbeitgeber zu verringern. Dies gilt umso stärker, je umfangreicher diese Sachgebiete sind und je differenzierter die Rege-lungen ausfallen. Schließlich wird durch den Tarifvertragsabschluss dem Arbeitnehmer die Gewissheit vermittelt, durch seine Interes-senvertretung mittelbar gestaltend an dem eigenen sozialen und fi-nanziellen Lebensstandard mitgewirkt zu haben. Dies führt auch zu ökonomisch sinnvollen Ergebnissen, weil einerseits sog. wilde Streiks verhindert werden und andererseits zu vermuten ist, dass sich die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Gestaltung der Arbeits-bedingungen produktivitätssteigernd auswirkt (FRANZ, Arbeits-marktökonomik, 7. Aufl. 2009, S. 257). Die Friedensfunktion des Ta-rifvertrags leistet damit einen wesentlichen Beitrag zu der überaus geringen Zahl an Arbeitskämpfen in der Bundesrepublik (vgl. dazu

§ 108 III).

III. Ordnungsfunktion

Tarifverträge haben weiterhin eine Ordnungsfunktion. Der Staat hält sich im Bereich der Arbeitsbedingungen mit gesetzlichen Rege-lungen zurück. Diesen Raum füllen Tarifverträge aus und ordnen so das Arbeitsleben, entlasten aber auch den Gesetzgeber. Außerdem wirken Tarifverträge auch rationalisierend, indem auf sie Bezug ge-nommen werden kann. Für Unternehmen bedeutet der Tarifvertrag damit eine erhebliche Reduzierung so genannter Transaktionskos-ten. Die Ordnungsfunktion wurde durch den Gesetzgeber anerkannt und unterstützt, indem er in § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung der Tarifnormen anordnete, um so die geschaffene Ordnung aufrecht zu erhalten (vgl. WIEDEMANN/WIEDEMANN Einl. TVG Rn. 18). Ebenfalls Ausdruck findet sie in § 4 Abs. 2 TVG, wonach die Tarifparteien überbetriebliche Organisationen schaffen können, um arbeits- und sozialpolitische Aufgaben zu bewältigen. In die gleiche Richtung

III. Ordnungsfunktion § 88

§ 88 Funktionen des Tarifvertrags geht auch § 3 Abs. 2 TVG, wonach Tarifnormen, die betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen regeln, auch für nicht or-ganisierte Arbeitnehmer gelten, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Gleichzeitig steht die Ordnungsfunktion aber in einem besonde-ren Spannungsfeld zu der individuellen Vertrags- und Berufsfreiheit.

Ihre Grenzen sind über einen ausgewogenen Ausgleich zwischen Art. 9 Abs. 3 GG auf der einen Seite und Art. 2, 3 und 12 Abs. 1 GG auf der anderen Seite zu bestimmen (siehe unter § 105). Auch die Gesetzgebungskompetenz des Gesetzgebers, der nach Art. 74 Nr. 12 GG im gleichen Maße wie die Tarifvertragsparteien zur Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen befugt ist, kann hier zu Kon-flikten führen. Schließlich kann die Ordnungsfunktion des Tarifver-trages nur angenommen werden, wenn bestimmte organisatorische Grundvoraussetzungen, die im Merkmal der Tariffähigkeit gebün-delt sind (siehe unter § 90), bei den Akteuren gegeben sind.

„Gleichwohl kann es nicht der Sinn der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleis-teten Koalitionsfreiheit sein, dass der Gesetzgeber schlechthin jede Ko-alition zum Abschluss von Tarifverträgen zulassen, also als tariffähig behandeln muss. Geht man nämlich davon aus, dass einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, ins-besondere der Lohngestaltung, unter Mitwirkung der Sozialpartner sein soll, so müssen die sich aus diesem Ordnungszweck ergebenden Gren-zen der Tariffähigkeit auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit wirksam werden.“ (BVerfG 18.11.1954 AP Nr. 1 zu Art. 9 GG)

Gleichzeitig ist der Gesetzgeber aber auch berechtigt und verpflich-tet, die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems zu erhalten.

„Schließlich darf der Gesetzgeber die Ordnungsfunktion der Tarifver-träge unterstützen, indem er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder mittelbar zur Anwendung kommen. Dadurch wird die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte, im öffentlichen Interesse lie-gende [...] autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen ab-gestützt, indem den Tarifentgelten zu größerer Durchsetzungskraft ver-holfen wird [...].“ (BVerfG 11.7.2006 AP Nr. 129 zu Art. 9 GG)

IV. Verteilungsfunktion

Den hauptsächlichen Regelungsgegenstand von Tarifverträgen bildet der Lohn. Dabei bestimmen die Tarifvertragsparteien nicht nur die Höhe der Arbeitsentgelte, sondern auch die Relation zueinander, in-dem innerhalb des Geltungsbereichs eines Tarifvertrags ein verbind-liches Lohn- und Gehaltsgefüge festgesetzt wird (GAMILLSCHEG Koll-ArbR I § 12 7 c). Diese Funktion der Verteilungsgerechtigkeit findet in den häufig in Tarifverträgen vorgenommenen Eingruppierungen der Arbeitnehmer in bestimmte Lohngruppen ihren Niederschlag und führt so zu einerüberbetrieblichen Lohngerechtigkeit.

V. Kartellfunktion

Flächentarifverträge haben zudem eine Kartellfunktion (vgl. Mü-ArbR/LÖWISCH/RIEBLE § 158 Rn. 6 f., RIEBLE Rn. 1305 ff.). Sie verein-heitlichen die Arbeitsbedingungen; ein „freier Markt“ der Arbeits-kräfte findet im Geltungsbereich des Tarifvertrags nicht statt.

Zwischen den Anbietern der Arbeitsleistung, den Arbeitnehmern, besteht in Form der Tarifverträge also eine „Absprache“, den Wett-bewerb zu beschränken. Die Mindestlöhne sind vereinheitlicht; in-soweit sind für Unternehmen die Bedingungen gleich. Auch Kritiker dieser Funktion des Tarifvertrages erkennen die „Kartellwirkung“

des Tarifvertrags nach der Konzeption des TVG jedenfalls für die ta-rifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an (LÖWISCH/RIEBLE§ 5 TVG Rn. 14). Soweit es um Nichtorganisierte geht, finde jedoch Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt statt. Der Dumpingwettbewerb durch Nichtorganisierte kann aber unter den Voraussetzungen der staatlichen Geltungserstreckung von Tarifverträgen (insbesondere

§ 5 TVG) begrenzt werden (siehe unter § 99 IV).

Nach der Rechtsprechung des BAG werden Tarifverträge nicht von dem Kartellverbot erfasst (BAG 27.6.1989 AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). Dabei stellt das BAG hauptsächlich darauf ab, dass sich die Tarifparteien bei dem Abschluss eines Tarifvertrags nicht am Geschäftsverkehr des Gütermarkts beteiligten, sondern allein der gesetzmäßigen Funktion des Art. 9 Abs. 3 GG nachkämen, so-dass sie nicht als Unternehmen im Sinne des § 1 GWB qualifiziert werden könnten. Zu beachten ist auch, dass eine Unterwerfung der Tarifverträge unter § 1 GWB zu einer verfassungsrechtlich bedenk-lichen Tarifzensur führen würde. Der Arbeitsmarkt bildet demnach einenkartellrechtlichen Ausnahmebereich.