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§ 97 Auslegung von Tarifverträgen

I. Auslegung des normativen Teils

Die Auslegung herkömmlicher Verträge erfolgt gemäß §§ 133, 157 BGB anhand der Ermittlung des wirklichen Willens der vertrags-schließenden Parteien, der Vorrang vor dem objektiven schriftlichen oder mündlichen Erklärungswert hat. Dem tatsächlichen Willen kann der Vorrang eingeräumt werden, weil sich die Vertragsfolgen regelmäßig auf den Kreis der vertragsschließenden Parteien be-schränken.

1. Methodenstreit

Tarifnormen betreffen hingegen nicht die vertragsschließenden Par-teien, sondern eineunbestimmte Zahl von Tarifgebundenen. Sie gel-ten für eine Vielzahl künftiger Fälle, genau wie formelle Gesetze.

Aus diesem Grund ziehen Rechtsprechung (BAG 30.9.1971 AP Nr. 121 zu § 1 TVG Auslegung) und h.M. (vgl. SCHAUBNZA 1994, 597) dieobjektive Methodeder Gesetzesauslegung für den normati-ven Teil des Tarifvertrags heran. Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung des normativen Teils ist nach der Rechtsprechung der Wortlaut der Tarifnorm. Der Wille der Tarifvertragsparteien kann nur insoweit berücksichtigt werden, als er in den Tarifregelungen er-kennbar zum Ausdruck kommt. Begründet wird dies mit den Grundsätzen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Denn die Ta-rifunterworfenen müssten den Inhalt des für sie geltenden Tarifver-trags stets erkennen können, sodass nicht ausschließlich auf den Willen der Tarifvertragsparteien abgestellt werden könne. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist der normative Teil des Tarif-vertrags wie folgt auszulegen (BAG 24.2.2011 NZA 2011, 708):

„Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Aus-legung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben der Tarifnorm zu haften. Bei nicht eindeuti-gem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Nieder-schlag gefunden hat. Abzustellen ist dabei stets auf den tariflichen Ge-samtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeits-sachen – ohne Bindung an eine Reihenfolge – weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags oder auch die praktische Tarif-Grundsätze der

Vertrags-auslegung

Besonderheiten des Tarifvertrags

Objektive Methode

übung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Aus-legungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjeni-gen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftiderjeni-gen, sachgerech-ten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt.“

(BAG 24.2.2011 NZA 2011, 708)

Die Gegenansicht (vgl. WANKRdA 1998, 71, 78 ff.) lehnt die objek-tive Methode ab und wendet die allgemeinen Grundsätze der Ver-tragsauslegung an, sog.subjektive Methode. Auslegungsziel ist hier derWille der Vertragspartner. Nach dieser Auffassung berücksichtigt die objektive Methode nicht hinreichend das Vertragsverfahren. Im Gegensatz zu förmlichen Gesetzen seien Tarifnormen das Ergebnis autonomer Gestaltung. Eine Auslegung entgegen dem Willen der Ta-rifvertragsparteien stelle einen Eingriff in die Tarifautonomie dar.

Die Grundsätze der Vertragsauslegung richteten sich allerdings auch nicht allein an dem Willen der Vertragsparteien aus. Empfangs-bedürftige Willenserklärungen seien vom Empfängerhorizont aus-zulegen und beinhalteten insofern ebenfalls ein normatives Ele-ment. Bei Tarifverträgen sei deshalb vom Empfängerhorizont der Tarifgebundenen auszugehen.

Der Methodenstreit hatnur geringe praktische Bedeutung (SCHAUB

NZA 1994, 597). Beide Methoden werden nicht streng verfolgt.

Auch die objektive Methode berücksichtigt den Willen der Tarifver-tragsparteien, soweit er Niederschlag im Tarifwortlaut gefunden hat.

Nach der subjektiven Theorie ist der Wille der Tarifvertragsparteien hingegen das Auslegungsziel. Der wesentliche Unterschied ist die Anwendung des versteckten Dissenses nach § 155 BGB (BAG 9.2.1983 AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung) sowie des falsa-demons-tratio-non-nocet-Grundsatzes (BAG 2.6.1961 AP Nr. 68 zu Art. 3 GG). Nach ihm gilt der wirkliche Wille der Vertragsparteien, unab-hängig von einer falschen Bezeichnung. Dieser Grundsatz gilt im Ta-rifvertragsrecht lediglich nach der subjektiven Methode (vgl. WANK

RdA 1998, 71, 80).

Bei Firmentarifverträgen hingegen misst das BAG dem subjektiven Willen des Arbeitgebers eine höhere Bedeutung zu. Hier soll der sub-jektive Wille des Arbeitgebers auch dann berücksichtigt werden, wenn er im Tarifvertrag nur unzureichend zum Ausdruck kommt und die subjektive Auslegung sich zu Gunsten der Arbeitnehmer auswirkt. Das BAG begründet seine Ansicht damit, dass der Arbeit-geber beim Firmentarifvertrag selbst Vertragspartei sei. Daher ent-stehen die oben genannten Probleme der Rechtssicherheit nicht.

„Die objektive Auslegung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarun-gen dient vor allem dem Schutz der Normunterworfenen. Der an der Normsetzung beteiligte Arbeitgeber bedarf indessen keines solchen Schutzes. Dies spricht dafür, dass ein subjektiver Wille des normsetzen-den Arbeitgebers, der ihn belastet und die Arbeitnehmer begünstigt, auch dann zu berücksichtigen ist, wenn dieser Wille nur unzureichend

I. Auslegung des normativen Teils § 97

Subjektive Methode

Bedeutung des Meinungsstreits

Besonderheit Firmentarifvertrag

§ 97 Auslegung von Tarifverträgen zum Ausdruck gebracht wurde.“ (BAG 30.7.2002 AP Nr. 180 zu § 1 TVG Auslegung)

Gegenstand der Auslegung ist der gesamte Inhalt einer Tarifnorm.

Die Tarifvertragsparteien können Auslegungsprobleme durch Defi-nitionen, authentische Interpretationen sowie Auslegungshilfen (z.B. in Anlagen zum Tarifvertrag) vermeiden. Sind sie selbst Tarif-norm, gehen sie anderen Auslegungsmitteln vor.

In diesem Zusammenhang sind Protokollnotizen von Bedeutung.

Sie erläutern regelmäßig im Anhang zu einem Tarifvertrag oder als Fußnoten zu tarifvertraglichen Bestimmungen die tariflichen Rege-lungen. Protokollnotizen enthalten also regelmäßig authentische In-terpretationen. Sie sind Bestandteil des Tarifvertrags, wenn sie das Schriftformerfordernis erfüllen und mit Normsetzungswillen ver-einbart worden sind. Andernfalls finden sie bei der Auslegung als Hilfsmittel Verwendung.

2. Auslegungskriterien

Eine feste Reihenfolge der Auslegungskriterien besteht nicht (BAG 12.9.1984 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; a.A. früher BAG 26.4.1966 AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung). Im Ergebnis unter-scheidet die Rechtsprechung aberzwei Gruppenvon Auslegungskri-terien: Zunächst zu berücksichtigen sei der Wortlaut des Tarifver-trags. Über den reinen Wortlaut hinaus sei der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen mit zu berücksichtigen, sofern und soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Zu die-sem Zweck sei auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ab-zustellen, weil nur daraus und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen geschlossen und der Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden könne. Diese Punkte sind damit nach der Rechtsprechung vorrangig zu berücksichtigen. Erge-ben sie ein eindeutiges Ergebnis, brauchen nach der Rechtsprechung des BAG die weiteren Kriterien nicht mehr geprüft zu werden.

Verblieben hingegen noch Zweifel, könne zur Ermittlung des wirk-lichen Willens auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags zurückgegriffen werden. Auch ist im Zweifel eine ge-setzeskonforme Auslegung vorzuziehen. Eine Begründung für diese Vorrangstellung wird vom BAG nicht gegeben (vgl. BAG 12.9.1984 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung mit krit. Anm. PLEYER).

Von der Rechtsprechung werden somit folgende Kriterien verwen-det: Wortlaut, Wille der Tarifparteien, tariflicher Gesamtzusammen-hang, Tarifgeschichte und Tarifübung. Warum die Rechtsprechung bei Anwendung der Grundsätze der Gesetzesauslegung nicht die entsprechenden Auslegungskategorien anwendet, ist unklar, letzt-lich ist aber dasselbe gemeint (vgl. WANK RdA 1998, 71, 77). Zu be-Authentische

Interpretationen

Protokollnotizen

Reihenfolge der Kriterien

Die Kriterien

achten sind daher die grammatische, historische, systematische und teleologische Auslegung.

a) Wortlaut

Ausgangspunkt einer jeden Auslegung ist der Wortlaut des Tarifver-trags. Häufig finden sich im Tarifvertrag Hinweise, wie bestimmte Begriffe zu verstehen sind. Dies kann durch eine eigene Definition der Tarifvertragsparteien geschehen. Häufig werden von den Tarif-vertragsparteien auch so genannteKlammerzusätzeoder Klammer-definitionenverwendet. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass solche Klammerzusätze mehrere Funktionen haben können.

Ü

Beispiele

Für eine echte Klammerdefinition:

§ 7 Nr. 2.2 BRTV Bau sah folgende Regelung vor:

„Wegezeitvergütung“

Ein Arbeitnehmer, der auf einer Bau- oder Arbeitsstelle außer-halb des Betriebes arbeitet und dem kein Auslösungsanspruch zusteht, hat Anspruch auf eine Wegezeitvergütung (Verpfle-gungszuschuss), wenn die Bau- oder Arbeitsstelle, auf der er be-schäftigt ist, mindestens 10 km vom Betrieb entfernt ist und der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber schriftlich bestätigt, dass er aus-schließlich aus beruflichen Gründen mehr als 10 Stunden von der Wohnung abwesend war.“

Diese Vorschrift wurde vom Arbeitgeber dahingehend verstan-den, dass die Vergütung nur fällig würde, wenn der Arbeitnehmer direkt von zu Hause zur Bau- oder Arbeitsstelle fährt. Denn nur dann entstünden ihm Kosten für die Wegstrecke, die nicht ver-gütet wird, weil die Arbeitszeit erst auf der Baustelle beginnt.

Das BAG hingegen hat auch Arbeitnehmern, die vom Betriebs-gelände zur Baustelle fuhren, den Anspruch auf Wegezeit-vergütung gewährt, weil die Tarifvertragsparteien durch den Klammerzusatz „Verpflegungszuschuss“ den Begriff der Wege-zeitvergütung abweichend vom natürlichen Wortsinn definiert hatten (BAG 28.4.1982 AP Nr. 39 zu § 1 TVG Tarifverträge Bau).

Für eine bloße Beispielsfunktion:

Nach § 7 Abs. 1 MTV TechnÜbwVereine i.V.m. VergGr. A 7 Fall-gruppe 7 sind zu vergüten Angestellte, die die folgenden Merk-male erfüllen:

„Einstellungsgruppe für Mitarbeiter mit einschlägiger Lehr-abschlussprüfung (Kaufmannsgehilfenbrief) oder mit Abschluss-prüfung an einer Staatlichen bzw. Städtischen Höheren Handels-schule, in beiden Fällen mit mehrjähriger Berufspraxis.“

Hier hat das BAG angenommen, der Kaufmannsgehilfenbrief sei lediglich einBeispielfür eine abgeschlossene Lehrabschlussprü-fung. Eine Beschränkung des Wortlauts darauf, dass nur der

Kauf-I. Auslegung des normativen Teils § 97

Wortlaut

§ 97 Auslegung von Tarifverträgen mannsgehilfenbrief die Voraussetzungen der Vorschrift erfülle, sei mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu vereinbaren (BAG 9.3.1983 AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung).

Des Weiteren können solche Klammerdefinitionen die Funktion haben, lediglich die Rechtslage wiederzugeben (BAG 10.5.1994 AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge Verkehrsgewerbe). Zu berück-sichtigen ist auch, wie ein Begriff in anderen Vorschriften dessel-ben Tarifvertrags oder in Tarifverträgen derseldessel-ben Tarifvertrags-parteien verwendet wird. Im Zweifel ist von einem einheitlichen Verständnis auszugehen. Bei einem redaktionellen Versehenist entscheidend, ob dieses objektiv aus dem Tarifvertrag ersichtlich ist. Schließlich kann auch die umgangssprachliche Bedeutung ei-nes Begriffs zur Auslegung herangezogen werden.

b) Wille der Tarifvertragsparteien

Relevant für die Auslegung des Tarifvertrags ist auch der Wille der Tarifvertragsparteien. Allerdings muss dieser im Normtext irgend-einen Ausdruck gefunden haben (Andeutungstheorie). Die Aus-legung ist damit auch hierobjektiviert. Es ist zu ermitteln, welchen Zweck die Tarifvertragsparteien mit der Vorschrift verfolgt haben, wobei sich dieser auch aus dem Gesamtzusammenhang und der Ta-rifgeschichte ergeben kann.

c) Gesamtzusammenhang

Tarifliche Regelungen, die mehrere Auslegungen zulassen, sind un-ter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs des Tarifvertrages auszulegen. Dabei ist insbesondere der eine Vorschrift umgebende Normkomplex zu berücksichtigen (LÖWISCH/RIEBLE § 1 TVG Rn. 1486). Die Systematik des Tarifvertrags – insbesondere Über-schriften – ist für das BAG von erheblicher Bedeutung bei der Aus-legung. Ebenso heranzuziehen sind die Vorschriften in anderen Ta-rifverträgen derselben Tarifvertragsparteien.

d) Tarifgeschichte

Der Inhalt einer Tarifnorm, insbesondere der Wille der Tarifvertrags-parteien, lässt sich gelegentlich nur anhand der Entstehungs-geschichte ermitteln. Hier kann beispielsweise auf Verhandlungs-niederschriften zurückgegriffen werden. Allerdings zieht das BAG diese nur dann zur Auslegung heran, wenn die Auslegung anhand Wortlaut und Gesamtzusammenhang zu keinem eindeutigen Ergeb-nis geführt hat (BAG 12.9.1984 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung).

Diese Einschränkung wird in der Literatur kritisch gesehen (W IEDE-MANN/WANK § 1 TVG Rn. 1024). Die Rechtsprechung hängt mit der stark verobjektivierten Sichtweise des BAG zusammen, da die Ent-stehungsgeschichte sich regelmäßig nicht aus dem Tarifvertrag ent-nehmen lässt. Allerdings lassen sich häufig Rückschlüsse aus dem Wille der

Tarif-vertragsparteien

Gesamt-zusammenhang

Tarifgeschichte

Verhältnis zu Vorgängerregelungen in vorangegangenen Tarifverträ-gen ziehen. Nach der Rechtsprechung des BAG soll insbesondere dann, wenn die Tarifvertragsparteien eine Tarifnorm, die die Recht-sprechung in einer bestimmten Weise ausgelegt hat, wortgleich übernehmen, dieser Tarifnorm das Verständnis der Rechtsprechung zu Grunde liegen, sofern im Tarifvertrag nicht ausdrücklich ein ab-weichendes Verständnis zum Ausdruck kommt (BAG 18.9.2001 AP Nr. 3 zu § 3 ATG). Dies wird von der Literatur – nicht zu Unrecht – als „selbstheilende Auslegungsrechtsprechung“ kritisiert, weil die Auslegung dem Willen der Tarifvertragsparteien zu folgen habe und nicht der Wille der Tarifvertragsparteien der Auslegung durch das BAG (LÖWISCH/RIEBLE§ 1 TVG Rn. 1490, 1508).

Ebenso nachrangig, aber im Zweifelsfalle heranzuziehen ist nach der Rechtsprechung dieTarifübung, also die Handhabung des Tarifver-trags in der Vergangenheit. Einschränkend ist aber zu verlangen, dass diese mit Wissen und Wollen der Tarifvertragsparteien erfolgt ist. Auf die Kenntnis des einzelnen Arbeitnehmers soll es nicht an-kommen (BAG 25.8.1982 AP Nr. 2 zu § 1 TVG tarifliche Übung).

3. Weitere Auslegungsgrundsätze

Tarifnormen sind im Zweifel so auszulegen, dass sie nicht gegen Eu-ropa-, Verfassungs- oder Gesetzesrecht verstoßen (vgl. BAG 21.7.1993 AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung; BAG 29.7.1992 AP Nr. 32 zu § 1 TVG Einzelhandel). Damit werden Konflikte von Tarif-vertragsnormen mit staatlichem Recht bereits auf der Auslegungs-ebene vermieden. Allerdings ist mit Blick auf die verfassungskon-forme Auslegung die Frage zu berücksichtigen, inwieweit die Tarifvertragsparteien an Grundrechte gebunden sind (siehe unter

§ 105 V). Ebenso ist bei der europarechtskonformen Auslegung zwi-schen Primär- und Sekundärrecht zu differenzieren (siehe im Band

„Individualarbeitsrecht“ unter § 14). Bei tarifdispositivem Gesetzes-recht gilt der Grundsatz, dass eine abweichende Regelung im Tarif-vertrag eindeutig und unmissverständlich geregelt sein muss (BAG 17.9.1970 AP Nr. 11 zu § 13 BUrlG). Im Zweifel hat die gesetzliche Regelung Vorrang.

Wird eine gesetzliche Vorschrift im Tarifvertrag lediglich übernom-men oder wird auf diese verwiesen, so ist umstritten, ob die Verwei-sung als konstitutiv oder deklaratorisch zu verstehen ist (vgl. unter

§ 104 VI).

Im Zweifel hat ferner diejenige Tarifauslegung Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 12.9.1984 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Dieser Grundsatz darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Tarifparteien keine unzweckmäßi-gen Tarifregelununzweckmäßi-gen vereinbaren können. Es darf mittels der Aus-legungkeine Tarifzensurvorgenommen werden.

I. Auslegung des normativen Teils § 97

Gesetzes-konforme Auslegung

Verweisung auf Gesetz

Zweckorientierte Auslegung

§ 97 Auslegung von Tarifverträgen Abzulehnen ist hingegen die Auffassung, dass im Zweifel eine Tarif-norm zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen ist (WIEDEMANNAnm.

zu AP Nr. 16, 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau). Begründet wird diese Ansicht mit dem Arbeitnehmerschutzprinzip, das auch den Tarifnormen zugrunde läge. Das Tarifrecht an sich dient der Herstel-lung eines Gleichgewichts zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Zwischen den Verbänden besteht einParitätsverhältnis, sodass ein besonderer Arbeitnehmerschutz nicht erforderlich ist (vgl. dazu etwa LAG Hamm 26.6.1991 LAGE Nr. 5 zu § 1 TVG Auslegung;

WANKRdA 1998, 71, 79).

Auch die Auffassung der beteiligten Berufskreise ist kein eigenstän-diger Auslegungsgrundsatz.

„Dagegen ist die „Auffassung der beteiligten Berufskreise“ kein selbst-ständiges Auslegungskriterium, weil sie für sich allein über den Willen der Tarifvertragsparteien nichts aussagt und für sich genommen zum Tarifrecht keinen Bezug hat. Hingegen kann die „Auffassung der betligten Berufskreise“ von den Tarifvertragsparteien zum Gegenstand ei-ner tariflichen Regelung gemacht werden. Dann ist sie bereits im Rah-men des Tarifwortlautes und des tariflichen GesamtzusamRah-menhanges nach den allgemeinen Grundsätzen zu berücksichtigen [...]. Darüber hi-naus kommt der Auffassung der beteiligten Berufskreise nur eine ergän-zende und zur Bestätigung geeignete Funktion zu.“ (BAG 12.9.1984 AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung)

4. Ergänzende Auslegung

Eine ergänzende Auslegung des Tarifvertrags wird nur sehr einge-schränkt vorgenommen. Grund ist auch hier derSchutz der Tarif-autonomie. Durch eine ergänzende Tarifvertragsauslegung kann das Verhandlungsergebnis im nachhinein verändert werden; der Kom-promiss wird dann zugunsten einer Seite verfälscht. Deswegen be-steht Einigkeit, dass sog. bewusste Regelungslücken nicht ergänzt werden dürfen (vgl. BAG 26.5.1993 AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifver-träge: Druckindustrie; BAG 13.6.1973 AP Nr. 123 zu § 1 TVG Aus-legung).

„Wie bei lückenhaftem Gesetzesrecht ist auch bei der Anwendung von Tarifverträgen eine Rechtsfortbildung möglich, wenn sich eine planwid-rige Unvollständigkeit feststellen lässt. [...] Während die staatliche Rechtsordnung als umfassend zu denken ist, der Richter also zu jeder auftretenden Rechtsfrage irgendeine Antwort zu finden hat, treten Ta-rifverträge von vornherein nicht mit dem Anspruch auf, die Arbeits-bedingungen vollständig zu regeln. Vielmehr bleiben zahlreiche Fragen bewusst oder auch unbewusst der Regelung durch andere Gestaltungs-mittel (z.B. durch Gesetz oder Einzelarbeitsvertrag) überlassen [...].

Würde der Richter solche tarifpolitischen Lücken schließen, erweiterte er den Bereich der autonomen Rechtssetzung. Das ist ihm nicht gestat-tet.“ (BAG 13.6.1973 AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung)

Arbeitnehmer-schutzprinzip

Auffassung der beteiligten Berufs-kreise

Unzulässigkeit bei bewussten Lücken