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Funktionale Differenzierung als evolutionäres Resultat

Im Dokument Der Verein in der Spätmoderne (Seite 28-31)

Funktionale Differenzierung als Ursache sozialen Wandels

2. Funktionale Differenzierung als evolutionäres Resultat

Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zeichnete sich bereits Ende des 16.

Jahrhunderts ab. Durchgesetzt als gesellschaftliche Differenzierungsform hat sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Wirtschaft, Politik, Recht, Gesundheit, Erziehung operieren nun aus ihrer eigenen funktionsspezifischen Perspektive. (Kneer/Nassehi 1993: 131) Das heißt, man kann dann eine Gesellschaft als funktional differenziert bezeichnen, wenn sie ihre wichtigsten Teilsysteme im Hinblick auf spezifische Probleme bildet, die sie dann in diesen Teilsystemen löst. Dies verzichtet gleichzeitig auf eine Rangordnung unter den Systemen. An der Stelle der Rangordnung tritt dann der Umstand, dass jedes System seiner Funktion den Primat gibt und von dieser Sicht aus die Umwelt betrachtet. (Luhmann 1987: 34)

Bei dieser Gesellschaftsordnung handelt es sich um eine relativ späte evolutionäre Ordnung. Sie erfordert gleichzeitig ein hohes Maß an Ausdifferenzierung und gleichzeitig eine hohe Autonomie der Teilsysteme. Dabei verzichtet sie aber auf eine Regulierung des Verhältnisses des Systeme zueinander, vielmehr ersetzt sie diese Beziehungen durch die System-Umwelt-Differenz. (Luhmann 1987: 35) Es ist genau dieser Umstand, der es nun schwierig macht, die Gesellschaft als Ganzes zu erkennen. Immer wieder trifft man auf Funktionssysteme, sie realisieren Gesellschaft und beschreiben dabei das eigene Verhältnis zur Gesellschaft in Form von einer System-Umwelt-Differenz. Man kann in diesem Sinne nicht die Systeme unter einen Gedanken bringen, da für jedes System die Gesellschaft anders aussieht.

Funktionale Differenzierung bekommt aber nicht jedem System gleich gut: Religion kann ihre Reduktion auf ein gesellschaftlich funktionales Teilsystem kaum überstehen und es kommt in der Folge zur Säkularisierung. Es sieht so aus, als ob gerade technische Funktionsbereiche in der funktionalen Differenzierung begünstigt werden; das liegt wahrscheinlich daran, dass ihre Codes und Programme besser operationalisiert werden können. (Luhmann 1987: 36)

Die stratifikatorische Einheit der mittelalterlichen Gesellschaft hatte sich auch aufgelöst, weil zu unterschiedliche Auffassungen von Medien wie Wahrheit und Geld zu internen Koordinationsschwierigkeiten führte. Die Reaktion lag darin, die einzelnenen Funktionssysteme zu stärken, das heißt, sie in sich besser zu koordinieren und ihnen ein Kommunikationsmedium zuzuweisen. Damit wurde auch auf die strenge Koordination der verschiedenen Systeme untereinander zu verzichtet. Dabei hatte sich die Geldwirtschaft schon im Mittelalter der politischen Kontrolle entzogen und eine eigene Arbeitsteilung aufgebaut, die selbst das politische Schicksal mancher Gegenden bestimmte. (Luhmann 1997: 709)

Im Laufe der funktionalen Differenzierung wurde nun die Oberschicht selbst gefährdet. Es kam zu einer Entwertung von Adel durch das Volk, die Differenz begann zu schwinden: die neuen Funktionssysteme benötigten keinen Adel mehr.

Geld, Politik und Wissenschaft begannen sich weiter auszudifferenzieren. So hatte beispielsweise die Wissenschaft durch die Erfindung des Buchdrucks eine enorme Distanz zum System Religion gewonnen. Das Recht wurde für die Folgeprobleme dieser Entwicklung selbst aktiviert und auf diese Weise auch zu einem eigenen Teilsystem, etwa als Eigentums- und Vertragsrecht für die Belange der Geldwirtschaft. (Luhmann 1997: 713) Politik wurde zur Idee des souveränen Staates umformuliert. Man begann nur noch territioriale Grenzen zu akzeptieren. Religion musste, um Kriege zu führen, politische Führsprecher finden. Anders entwickelte sich die Wirtschaft: sie benötigte keine Fürsprecher für ihre Ausdifferenzierung. Die Wirtschaft entwickelte ihre eigene Dynamik und entzog sich politischen Kontrollen.

Das Geld wurde das wichtigste Medium, von dem Politik und Adel zunehmend abhängig wurden. So erschwerte die gleichzeitig ablaufende funktionale Differenzierung der Wirtschaft und des politischen Systems die Symbiose von politisch-ökonomischer Ressourcenkontrolle in der Oberschicht und hoben sie schließlich auf. (Luhmann 1997: 723 ff.)

Nun begann die Orientierung der Wirtschaft am Konsum. Auf diese Weise löste sich die Steigerung der Wirtschaftsleistung von externen Faktoren wie dem Ressourcenbedarf der Oberschicht oder der Abhängigkeit von Kriegen und Hungersnöten. Antriebsfaktor wurde eine Art wirtschaftsspezifische Rollenaufteilung in Konsument und Produzent. Jeder konnte nun kaufen, dies geschah jetzt in Abhängigkeit von seiner Kaufkraft und nicht mehr in Abhängigkeit von seiner Schichtzugehörigkeit. (Luhmann 1997: 725) Arbeit war nun nicht mehr länger

„Sündenfall“, sondern Bedingung und Produkt ökonomischer Prozesse. Die technisch anspruchsvollere Produktion erfordertete immer größere Kapitalanteile. Diese Geldmengen konnten nicht mehr alleine durch firmeneigene Gewinne erbracht werden und die Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten nahm zu. (Luhmann 1997: 727) Im Gefolge dieser Differenzierungen fällt weiter auf, dass wichtige innovatorische Bewegungen wie der Protestantismus und der politische Humanismus durch bürgerliche Kreise und nicht dem Adel getragen wurden. Dabei spielte der Buchdruck eine entscheidende Rolle. So führten diese Entwicklungen, zu denen auch die Entstehung von Großstädten gehörte, dazu, dass erbliche soziale Ränge und Besitzstände zwar weiterhin gesellschaftlich anerkannt waren, aber durch

„manipulierbare Kriterien wie Manieren und schöner Schein ergänzt wurden“.

(Luhmann 1997: 732)

Bereits im 18. Jahrhundert konnte man nicht mehr von einer Gesellschaft sprechen, die nach Schichten eingeteilt war. Die Funktionssysteme hatten sich von Schichtenprämissen abgelöst. (Luhmann 1997: 734) Nun geriet das Gesamtsystem immer mehr in die Abhängigkeit seiner Funktionssysteme. Wichtiges wird jetzt in den Funktionssystemen nach den entsprechenden Kriterien entschieden. Dabei entscheidet jedes Funktionssystem selbst, was es für richtig hält aufzugreifen und was nicht; nach welchen Regeln es kommuniziert und wem es welche Positionen verleiht. (Luhmann 1997: 739) Jedes System muss nun eine Mehrheit von Systemreferenzen unterscheiden. Seine Beziehung zur Gesamtgesellschaft und seine Beziehung zu anderen Teilsystemen. Der Zusammenhang von Leistung und Funktion des Systems kann dabei nicht mehr durch eine gesamtgesellschaftliche Hierachie gefasst werden, sondern nur noch in der Beziehung des Systems zu sich selbst. (Luhmann 1980: 29) Wir begreifen unsere heutige Gesellschaft als eine funktional differenzierte. Dabei kann man aber Menschen nicht ausschließlich einem der Funktionssysteme zuordnen. Denn da sich die Menschen nicht mehr in einem Teilsystem unterbringen lassen, muss man sagen, dass die Gesellschaft auch nicht mehr aus Menschen besteht. Die Konsequenz daraus ist, dass Menschen als Umwelt von Gesellschaft angesehen werden müssen. (Luhmann 1997: 744)

Jedes Funktionssystem bestimmt im Falle funktionaler Differenzierung seine Identität selbst. Die übrige Gesellschaft kann dann nur noch als Umwelt in Frage kommen.

Dabei nehmen die Abhängigkeiten der Teilsysteme zueinander nicht, wie man meinen könnte, ab, sondern zu. Sie nehmen dabei die Form der Differenz zwischen System und Umwelt an. Das heißt, sie lassen sich nicht mehr durch eine gesellschaftliche Ordnung legitimieren, sondern bestehen in einer Abhängigkeit von ständig wechselnden Umweltbedingungen. Die Funktion der Systeme liegt nicht im Selbsterhalt oder Selbstbezug des Systems, sondern im Bezug auf ein Problem der Gesellschaft. Von Sicht der Funktionssysteme aus hat es jedes System mit einer

anderen Umwelt und mit anderen Problemen zu tun. Funktionale Differenzierung betont damit die Ungleichheit der Systeme, aber gerade in dieser Ungleichheit sind sie gleich. (Luhmann 1997: 746) Die Ausdifferenzierung der Teilsysteme für jeweils eine Funktion bedeutet, dass diese Funktion Priorität hat. Es gibt also keine Rangordnung zwischen den Teilsystemen und damit auch keine Stratifikation.

(Luhmann 1997: 748)

Funktionale Systeme sind über binäre Codierungen operativ geschlossen. Ihr Beobachtungsschema generieren sie über die Zweiwertigkeit dieser binären Codes.

Ein dritter Wert ist augeschlossen. So ist für Politik entscheidend, ob man Macht hat oder nicht; für die Wirtschaft ob man zahlen kann oder nicht; für das Recht, ob man Recht hat oder unrecht; für die Wissenschaft ob etwas wahr oder unwahr ist. Die Codes sorgen für die Schließung der Systeme, geöffnet sind die Systeme allerdings auf Ebene ihrer Programme. (Kneer/Nassehi 1993: 132) Es ist die Differenz zwischen Code und Programmierung, die eine Kombination von Offen- und Geschlossenheit ermöglicht. (Luhmann 1990: 83) So sind etwa in der Wissenschaft die Programme, die Theorien, die über wahr oder unwahr entscheiden. Wir wollen an anderer Stelle mehr dazu sagen.

Die binäre Codierung ist in den Systemen als eine Welt der Unterscheidung aufgebaut. Hier kommt nichts anderes mehr vor als was in dieser Unterscheidung Platz findet. So ist für die Wirtschaft die Welt ein Anlageobjekt, für die Politik ein Raum, indem es um Machterhalt geht und so weiter. Die jeweilige Beobachtung schließt aus, was sie durch ihre Leitunterscheidung nicht sehen kann.

(Kneer/Nassehi 1993: 135) Es ist gerade diese Zweiwertigkeit, die die Autopoesis des Systems garantiert.

Die funktionale Differenzierung sorgt für extreme Leistungssteigerung der Gesellschaft. Für viele ist das erschreckend, ein Beispiel sind die sozialen Bewegungen, die sich gegen die Auswirkungen der funktionalen Differenzierung stemmen. Doch finden sich keine Schuldigen, die funktionale Differenzierung kennt keine solchen Zuordnungen. Die Ursache liegt in der funktionalen Differenzierung selbst, in einer Ordnung, die niemand gewollt hat und die doch da ist. (Luhmann 1987: 37)

Im Dokument Der Verein in der Spätmoderne (Seite 28-31)