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Differenzierung und positive Selektion

Im Dokument Der Verein in der Spätmoderne (Seite 113-117)

Funktionale Differenzierung und Strukturveränderungen

2. Traditionelle Vereinsformen

2.3. Differenzierung und positive Selektion

Der Mechanismus der Variation tritt wie bereits bei den traditionellen Formen erläutert für das System zunächst als Widerspruch auf. Wenn Widersprüche erfolgreich aufgelöst werden sollen, muss Beobachtung auf Ebene der Systeme zu Beschreibungen führen, die in der Folge Anschlussverhalten ermöglichen. Deshalb kann erfolgreiches Systemverhalten unter dem Gesichtspunkt der Beobachtung des Systems gesehen werden. (Kneer/Nassehi 1993: 95) Um Informationen über sich selbst zu erhalten, beobachtet das System aber nicht nur sich selbst, sondern es beobachtet auch die Umwelt, das heißt es kommuniziert über die Kommunikationen in der Umwelt. Wenn der Variationsmechanismus in der Beobachtung von Kommunikationen als Negation liegt, so werden Variationen spezifiziert über binäre Codierungen. (Luhmann 1997: 562) Mit Hilfe von Sinnstiftungen können diese Beobachtungen in Form von Kommunikation reproduziert werden und bieten Orientierungshilfen bei der Lösung von Problemen. (Luhmann 1987: 80) So werden Sinngrenzen innerhalb der Systeme auf Basis der Selbstreferenz neu ermittelt und begründet, die dann unter der Differenz binärer Codierungen systematisiert worden sind.

Ausdifferenzierung von Systemen ist aber nicht nur auf „normale“ Beobachtung, sondern auch auf Beobachtungen zweiter Ordnung angewiesen. Systeme bauen sich durch diese veränderte Beobachtungsperspektive ein Netzwerk auf, dass sich durch Selbstreferenz bestimmte Kommunikationen herauswählt. (Japp 1996: 55) Auf diese Weise können diese Systeme besser reflektieren und andere beobachtungsleitende Unterscheidungen für Anschlussoperationen treffen wie die Beobachter erster Ordnung. Dabei können Beobachter zweiter Ordnung sozusagen den „blinden Fleck“ der Beobachter erster Ordnung und damit dessen Strukturen sehen. Das heißt, dass Beobachter zweiter Ordnung zwar nicht ihre Leitdifferenz, aber dafür die Leitdifferenz der Beobachter erster Ordnung sehen können. Der Beobachter zweiter Ordnung kann damit beobachten, was der Beobachter erster Ordnung nicht sehen kann. Beobachter zweiter Ordnung können so Paradoxien besser beschreiben und erfolgreicher auflösen. Dies befähigt sie, ein höheres Änderungstempo in der Umwelt und im System selbst leisten zu können.

Geht man von Beobachtungen erster Ordnung zu Beobachtungen zweiter Ordnung über, erhält man oft ein radikal verändertes Weltbild, das heißt die Identität des Systems kann sich durch diesen Beobachtungsmodus ändern. (vgl. Kneer/Nassehi 1993: 102) Man kann so den Wandel im Vereinswesen von den traditionellen Formen hin zu den neuen Vereinsformen als ein Steigerungsverhältnis im Sinne erfolgreicher sozio-kultureller Evolution auffassen, dass eine zusätzliche Beobachterperspektive der erfolgreichen Formen einschließt. Diese Vereine sehen, dass Tradition nicht mehr erfolgreich kommuniziert werden kann; durch funktionale Differenzierung auf Ebene der Sinnstruktur sind sie in die Lage versetzt, andere Lösungen zu finden.

Sozio-kulturelle Evolution stärkt bestimmte Formen, verändert andere und löst wie wir bei den traditionellen Formen gesehen haben, bestimmte Gebilde auf oder gefährdet sie in ihrer Existenz. Sie fordert von sozialen Gebilden die Notwendigkeit,

verbesserte Anpassungs- und Reaktionsbedingungen herzustellen. Die modernen Vereinsformen sind damit das Ergebnis erfolgreicher Selektionsprozesse. Sie weisen dabei zwei wesentliche neue Leistungen auf: zum einen beziehen sich die Erwartungen des Systems auf Mitglieder und ermöglichen den Aufbau funktional differenzierter Rollenstrukturen, das heißt, dass ihre Träger die Gesamtordnung akzeptieren; zum anderen bezieht sich die Erwartungsstruktur darauf, künftige Änderungen von Erwartungen anzuerkennen. Soll es zu Anpassungen kommen, müssen beide Leistungen in Anspruch genommen werden. Erst dieses Zusammenspiel garantiert eine Anpassungsfähigkeit in einer zunehmend komplexer werdenden Umwelt. Sie gewährleisten, dass reduzierte Komplexität im System übertragen werden kann und nicht überall und immer die gesamte Komplexität des Systems und seiner relevanten Umwelt erfasst und reduziert werden muss.

(Luhmann 1968: 340)

Sachliche Komplexität und die Sicherung künftiger Anpassungsfähigkeit geben im Falle der neuen Vereinsformen ein erfolgreiches Paar ab, sie sind ein Beispiel für gelungene Anpassung nach Selektion. Dabei gelingt es diesen neuen Formen Zwecke zu setzen, ohne die vorausgesetzten Werturteile in Form von Tradition zu integrieren. Diese veränderte Situation auf Ebene des Vereinswesens können wir als evolutionäre Errungenschaft bezeichnen, die durch Selektion entstanden ist. Die modernen Vereinsformen haben dabei Zweckbestimmungen entwickelt, die bei den traditionellen Formen in dieser Art nicht vorhanden waren. Zwecke sind nötig, um die gestiegene Komplexität der Umwelt verarbeiten zu können, erst die Zwecksetzung ermöglicht eine Teilverlagerung der zu verarbeitenden Problematik von aussen nach innen. (Luhmann 1968: 190) Der Zweck des Systems ist nun stärker an die Differenz binärer Codierungen gebunden, die durch funktionale Differenzierung entstanden sind und als Selektionshilfen dienen. Dabei entscheiden systeminterne Kriterien über die geeigneten binären Codierungen für das jeweilige Organisationssystem. Binäre Codierungen haben damit sozusagen die Scharniere gebildet, an denen sich Teilsystemevolutionen wie beispielsweise die Ausdifferenzierung des Vereinswesens vollziehen konnte. Binäre Codierungen lassen deshalb sich gut als sozio-kultureller Mechanismus der Variation einsetzen, weil auch Sprache binär codiert ist. (Luhmann 1997: 563)

Die Zwecke der modernen Vereinsformen sind damit im Gegensatz zu den traditionellen Formen für die Mitglieder klarer und erkennbarer geworden. Die modernen Formen sind ein Zeichen für die Flexibilität des Vereinssystems neue Orientierungsmuster aufzufangen; es ist aber kein Anzeichen für die Solidarität innerhalb der Gemeinde: „In einer Gesellschaft oder Teilen einer Gesellschaft mit starker Flexibilität, aber relativ wenig Solidarität entwickeln sich dagegen verschiedene, relativ anpassungsfähige, aber nicht sehr gut organisierte Gruppen.“

(Eisenstadt 1976: 358) Die modernen Vereinsformen haben kein besonderes Bedürfnis mehr nach starren Prinzipien, sie können kognitive Dissonanz und Zweideutigkeit eher vertragen, deshalb gibt es kein ständiges Hin und Her zwischen dem Rückzug traditioneller Symbole und dem Versuch neue Prinzipien durchzusetzen. Sie sind sind bereit, eine neue flexible Ordnung zu entwickeln.

(Eisenstadt 1976: 348) Besonders gut ist das auch bei neu entstandenen Kirchenchor zu sehen, dessen Mitglieder sich nur noch sporadisch treffen. Anders geht es nicht mehr, sonst würde sich der Verein auflösen.

Soziale Systeme können sich nur bilden, wenn sich bereits psychische Systeme konstituiert haben. Hier tritt zusätzlich der Mechanismus der Interpenetration als Evolutionsverstärker auf. Das heißt, die Grenzen sozialer Systeme fallen ins Bewusstsein psychischer Systeme und die Grenzen der psychischen Systeme fallen

in den Kommunikationsbereich sozialer Systeme. (Luhmann 1984: 290) Psychische Systeme tasten bei diesem Vorgang die Umwelt in Beziehung auf sich selber ab und übernehmen das Ergebnis in ihre autopoetische Reproduktion. Nun stellen beim Vorgang der Interpenetration die psychischen Systeme ihre Komplexität sozialen Systemen zur Verfügung. So wird über Kommunikation Bewusstssein und über Bewusstsein Kommunikation, das heißt soziale Systeme aufgebaut. Festzustellen ist dabei eine zunehmende Orientierung am Primat der Ökonomie. (Luhmann 1981: 45) Das System Wirtschaft ist zwar über seine binären Codierungen geschlossen, öffnet sich aber auf Ebene der Programme. Dabei wird Komplexiät vor allem in Form von Konsumprogrammen aufgebaut und zur Verfügung gestellt. Das heißt, dass sich Vereine gründen, die den Konsum in den Vordergrund stellen wie der Motorradverein, der Modellfliegerverein und der Jugendtreff, Organisationen, in denen Kapital (Motorrad, Modellflugzeug, Eintritt bei Veranstaltungen) Voraussetzung ist; oder in denen nur noch konsumiert wird (Jugendtreff). Die Strukturen, die die Organisationen aufbauen, können, weil sie auf komplexe psychische Systeme zurückgreifen können, können höhere Instabilitäten und rascheren Strukturwechsel besser verkraften. Sie können sich Zufällen besser aussetzen und sich dadurch entlasten. (Luhmann 1984: 295) Auf diese Weise wird auch Interpenetration zum selektiven Mechanismus, der Strukturen schafft, die in der sozio-kulturellen Evolution besser bestehen.

Andere moderne Vereinsformen entstehen wieder aus der Selbstbeobachtung der Gesellschaft über sich selbst wie zum Beispiel der Bund, die Bauwagenkultur und die Landfrauen. Gerade diese zwei Themen wie Ungleichheit und ökologische Gefährdung, eignen sich für Protestkommunikationen besonders. (Schimank 2000:

140) Diese Vereine sind soziale Bewegungen, die sich den Protest gegen die Folgen der funktionalen Differenzierungen auf ihre Fahne geschrieben haben. Doch fehlt ihnen die Möglichkeit, die Beobachtungen, gegen die sie protestieren, in ihr eigenes Konzept aufzunehmen und es bleibt beim Widerstand auf Grund abgelehnter Wertsetzungen. Mehr als Empörung über Ungleichheit und ökologische Gefährdung können sie nicht erzeugen. (Luhmann 1984: 236) Hier hat sich die Fähigkeit der politischen Clubs aus dem 19. Jahrhundert fortgesetzt, über gesellschaftliche Probleme zu reden. Aber im Gegensatz zu der gesellschaftsbildenden Kraft der früheren Vereine erzeugen diese sozialen Bewegungen „kommunikativen Lärm“, der von den anderen Systemen nur noch als Störung wahrgenommen wird. (Luhmann 1990, 1984)

Auf den Verein Kunst und Kultur muss näher eingegangen werden: er stellt eine Besonderheit dar, weil er vom Bürgermeister M. selbst gegründet worden ist. Zu beobachten ist, dass M. die Konflikte, die sich aus den sozialen Differenzierungen ergeben, mit dem Gebilde regeln will. Das soll dadurch geschehen, indem er einen Brennpunkt kollektiver Identität schafft, die Tradtion und Modernität in einem bestimmten Ausmaß verbindet. (Eisenstadt 1979: 7) Diese Organisation soll ein Bindeglied zwischen den Vereinen in der Gemeinde darstellen; man muss aber sehen, dass dieser Verein ein künstlich ins Leben gerufenes Gebilde ist und sich nicht auf natürlichem Wege gefunden hat; also nicht der Volksseele entspringt, sondern ein politischer Wunsch ist und trotz seines Namens mit wirklicher Kultur nichts gemein hat, die immer vom Volke, genau genommen von der Individualität ausgehen muss. Es ist mehr ein Wille seiner Macht, den M. mit dem Verein für Kunst und Kultur geschaffen hat. Damit versucht er eine kollektive Identität zu stiften, die Tradition nicht verneint, aber gleichzeitig den Fortschritt anerkennt. (Eisenstadt 1979:

100) Der Verein ist sozusagen ein Symbol, das den sozialen Wandel legitimiert. Das hat seinen Sinn, denn Gesellschaften können sich nicht schlagartig von der Tradition entfernen, sie brauchen einen Bezugspunkt in der Vergangenheit. Der Verein Kunst und Kultur trägt dazu bei, die grundlegende traditonelle Orientierung aufrecht zu erhalten; öffnet aber gleichzeitig die Sichtweise auf die Folgen der Evolution. Das hat seinen guten Grund, denn die Kraft der Tradition mildert die Auswirkungen des Wandels. (Eisenstadt 1979: 194) Bürgermeister M. versucht, die grundlegenden traditionellen Orientierungen zu halten, nur gibt er ihnen neue Inhalte und Ziele.

Damit löst er die Tradition langsam und behutsam aus ihrem Kontext und gibt ihr eine neue Identität. Er erfindet sozusagen die Tradition neu, um unbekannte Neuerungen glaubhaft einführen zu können. Das hat seinen Grund: soziale Wirklichkeit ist extrem konservativ eingestellt, Unbekanntes muss langsam eingeführt werden, beziehungsweise Bewährtes muss langsam selektiert werden.

Der Umbau der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung revoltioniert die Grundsemantik der Gesellschaft. (Luhmann 1980: 40) Das heißt, das Bezugsproblem der semantischen Entwicklung wird stärker auf die Erkenntnisfunktion zugeschnitten und damit funktional spezifiziert. Auf diese Weise werden Leistungen abverlangt, die nur als System-Errungenschaften erzeugt werden können. (Luhmann 1980: 52) Alle gesellschaftlich relevanten Sinngehalte werden jetzt auf Funktionssysteme bezogen und funktionsübergreifende Inhalte tendieren zur Wertform. (Luhmann 1980: 56ff.) Auf diese Weise haben die neuen Vereine eine Identität entwickelt, die sich nicht mehr an der Tradition, sondern vielmehr an Differenzen binärer Codierungen orientiert. Damit ist ihre Identität zur Funktion oder ihre Funktion zur Identität geworden. Dabei zerstört die Evolution, wir wir am Schützen- und am Gesangverein gesehen haben, nicht alle Formen, sondern gibt ihnen Gelegenheit, ihre Melodie in gewissen Sinne weiterzuspielen; das heißt, dass sie den Organisationen die Gelegenheit gibt, ihre Elemente, also ihre Kommunikationen dem Rhythmus funktionaler Differenzierung anpassen. Die neuen Vereinsformen und die Formen, die in der sozio-kulturellen Evolution bestehen, zeigen, dass sie gewillt sind, sich unter dem Selektionsdruck zu bewähren und ihre interne Struktur neu zu formieren, beziehungsweise unter diesem Druck entsprechend zu konstruieren.

Wir stellen abschließend fest, dass sich Tradition als Identität von freiwilligen Organisationen nicht mehr oder nur unter Schwierigkeiten evolutionär übersetzen lässt. Die Identität der neuen Organisationssysteme im Vereinswesen konstruiert sich stärker an den binären Codierungen der Systeme, die in der gesellschaftlichen Umwelt dominieren und in Form von Programmen und Medien ihre Komplexität zur Verfügung stellen. Selektion bedeutet auf der Ebene der freiwilligen Organisationen damit Selektion der Tradition. Wichtige Systeme wie Wirtschaft und Politik bemächtigen sich in der funktional differenzierten Gesellschaft dieser Organisationssysteme und benützen sie ihn ihrem Sinne. Sie werden sozusagen zu Teilsystemen der wichtigen Funktionssysteme. So kann man die Ausdifferenzierung des Vereinswesen auch als eine Revolution von Teilsystemen im Auftrag wichtiger Funktionssysteme betrachten.

Säkularisierung und gesellschaftliche

Im Dokument Der Verein in der Spätmoderne (Seite 113-117)