• Keine Ergebnisse gefunden

Französische und jüdische Nation

doch noch durchsetzte? Würde die Rache nicht blutig sein und würde sie sich nicht, wie so oft, zuallererst gegen die Juden richten? Auf der anderen Seite: Ver-sprachen nicht die Ideen der Revolutionäre die lang ersehnte Befreiung von Son-derabgaben, Residenzpflicht und stark reglementierter Aufenthaltserlaubnis?

Nur: Was war der Preis für diese Freiheit? Und konnte man den revolutionären Klassen trauen? Den Bauern etwa, die doch in der Vergangenheit immer wie-der ihre Feindseligkeit durch Pogrome zum Ausdruck gebracht hatten, owie-der den Bürgern, die noch 1787 von Metz aus auf den König eingewirkt hatten, um die Juden explizit vom Toleranzedikt auszuschließen?

Diese und andere Fragen stellten sich die französischen Juden genauso wie ihre Brüder und Schwestern östlich des Rheins und sie waren begierig zu hö-ren, was die Revolutionäre ihnen zu sagen hatten. Das bedeutet indes nicht, dass sie einfach passiv abgewartet hätten: Angesehene jüdische Persönlichkeiten wie der den Girondisten nahestehende sephardische Immobilienhändler Abraham Furtado, der »portugiesische« Kaufmann David Gradis oder der aschkenasische Hofjude Cerf Berr auf der französischen, David Friedländer und Marcus Herz auf der deutschen Seite stritten für die Gleichberechtigung der Juden und ihre volle Anerkennung als Staatsbürger.33 Doch die jüdischen Fürsprecher, welche allesamt einer gebildeten, wohlhabenden und akkulturierten Elite angehörten, mussten sich auf die aufgeklärte Philosophie und ihre Begrifflichkeiten einlas-sen, wenn sie ernst genommen werden wollten – sie mussten »aufgeklärt«, fran-zösisch, argumentieren. Ihre Apologien und Streitschriften sind deshalb nur aus dem spezifischen Kontext heraus zu verstehen, innerhalb dessen sie ihre Wir-kung entfalten sollten. Dieser Kontext aber war nicht nur laizistisch – was nicht einmal für die traditionellsten Juden ein Problem darstellte, schließlich hatten sie kein Interesse an einem christlichen Staat –, sondern auch nationalistisch.

Französische und jüdische Nation

David A. Bell hat in seiner aufschlussreichen Studie über die Entstehung des Nationalismus in Frankreich gezeigt, dass innerhalb weniger Jahrzehnte die Vokabeln »nation« und »patrie« plötzlich in aller Munde waren, obwohl sie vorher nur eine marginale Rolle gespielt hatten.34 Ähnliches lässt sich für die

33 Vgl. Malino, Frances: Abraham Furtado and the Sephardi Jews of France. A Study of Emancipation during the French Revolution and Napoleonic Era. Philosophical Dissertation.

Brandeis 1971; Hertzberg: The French Enlightenment 341; Szajkowski: Jews and Revolution 262, 900; O’Leary, Margaret R.: Forging Freedom. The Life of Cerf Berr of Médelsheim. Bloo-mington 2012; Davies, Martin L.: Identity or History? Marcus Herz and the End of Enlighten-ment. Detroit 1995, 10–25.

34 Bell: Cult of the Nation, besonders pointiert auf 11–19. Vgl. auch Fritz, Gérard: L’idée de peuple en France du XVIIè au XIXè siècle. Straßburg 1988, 19–49.

102 Echte und unechte Nationen

deutschen Länder sagen: Zwar existierte das Wort »Nation« schon im Mittel-alter, etwa für die verschiedenen nach der Herkunft organisierten studentischen Korporationen an Universitäten,35 aber die Idee, die gesamte Bevölkerung eines Landes als »Nation« zu bezeichnen, ist ein Produkt des ausgehenden 18. Jahr-hunderts.36 Entstanden ist sie, wie schon Michel Foucault gezeigt hat, als anti-feudaler Gegendiskurs.37 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich »eine ganze Galaxie von adligen Historikern«38 daran gemacht, die eigenen Machtansprü-che gegenüber dem absolut und damit in gewisser Hinsicht auch willkürlich herrschenden König dadurch zu unterstreichen, dass die vermeintlich noble Herkunft der Aristokratie hervorgehoben wurde. Insbesondere Henri de Bou-lainvilliers, der aus dem mittleren Blutadel der Normandie stammte, hatte eine Genealogie der französischen Nobilität konstruiert, die ihr angeblich histori-sches Recht auf die Herrschaft über Frankreich untermauern sollte.39 In seiner posthum erschienenen Histoire de l’ancien gouvernement de la France von 1727 schrieb er über die historische Eroberung Frankreichs durch die Franken, die der germanischen »Race« angehörten.40 Sie hätten die »Race« der »Gallier«, aus deren Nachfahren sich der Dritte Stand zusammensetze, unterworfen und da-mit das natürliche Recht erworben, Frankreich zu beherrschen.41 Nun ging es Boulainvilliers zwar auch darum, die Macht über den aufstrebenden Dritten Stand zu legitimieren, aber in einer Übergangsperiode, die durch die Regent-schaft Herzog Philipps II. von Orléans geprägt war, stand dennoch der Versuch im Zentrum, die Illegitimität der Bourbonendynastie nachzuweisen, welche die Ansprüche der Aristokratie im Zuge der sich verschärfenden Fiskalkrise

35 Vgl. Schumann, Sabine: Die »nationes« an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien.

Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte. Berlin 1974; Wehler: Nationalismus 36.

36 Zum mittelalterlichen Nationsbegriff vgl. Schumann: Die »nationes« 43–71; Quillet, Jeannine: État et nation aux XIVè et XVè siècles. Remarques doctrinales. In: Dies.: D’une cité l’autre. Problèmes de philosophie politique médiévale. Paris 2001, 115–127. Ausführlich vgl.

Koselleck, Reinhart u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Brunner, Otto u. a. (Hg.):

Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 7. Stuttgart 1972, 141–431.

37 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Frankfurt a. M. 2001, 255–281.

38 Ebd. 172.

39 Vgl. Tholozan, Olivier: Henri de Boulainvilliers: L’Anti-absolutisme aristocratique lé-gitimé par l’histoire. Aix-en-Provence, Marseille 1999, 225–230; Ellis, Harold A.: Boulain-villiers and the French Monarchy. Aristocratic Politics in Early Eighteenth-Century France.

Ithaca 1988, 18–20.

40 Boulainvilliers, Henri de: Histoire de l’ancien gouvernement de la France. Avec XIV Lettres Historiques sur les Parlemens ou Etats-Generaux. Band 1. La Haye, Amsterdam 1727, 129, 331. Vgl. auch Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. An-tisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 12. Aufl. München 2008, 358–362, die aller-dings im Einklang mit der These ihres Buches den »antinationalen« Charakter Boulainvil-liers unangemessen hervorhebt und seinen Konflikt mit dem König vollkommen ausblendet.

41 Boulainvilliers: Histoire 67, 108, 255.

Französische und jüdische Nation 103 mer weiter beschnitt. Sein Kunstgriff bestand darin, die Dynastie der Kapetin-ger, aus der das Haus der Bourbonen hervorgegangen war, der rassischen »Ver-mischung« mit den Unterworfenen zu bezichtigen.42 Damit hätten sie ihren Anspruch auf Herrschaft verwirkt und sollten sich gefälligst in den Dienst der Aristokratie stellen.

Schon zeitgenössische Autoren hatten Boulainvilliers’ Konzeption kritisiert, etwa der Kunsttheoretiker und Theologe Jean-Baptiste Dubos.43 Doch wirk-liche Kraft sollten erst die nationalen Gegenkonzepte der Revolutionäre entfal-ten. Im Kampf gegen den Adel konstituierte sich erstmals eine »Nation«, deren gemeinsamer Nenner, trotz der manifesten Klassenunterschiede, die Feind-schaft gegen die HerrFeind-schaft des Adels und des Klerus (sowie die diese Herr-schaft garantierenden Bourbonen) war. So schrieb Emmanuel Joseph Sieyès am Vorabend der Revolution in seiner berühmten Schrift Qu’est-ce que le Tiers État?: »Der Dritte Stand umfasst also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation an-sehen. Was also ist der Dritte Stand? Alles.«44 Die Nation war für Sieyès syno-nym mit dem Tiers État; Adel und Klerus stellten ein »imperium in im perio«45 dar. Er beließ es aber nicht dabei, den Dritten Stand als »vollständige Nation«

zu bezeichnen, sondern stellte den Adel – wie um die letzten Zweifler zu über-zeugen – auch noch als geldgierig, faul, sexuell promiskuitiv und ausschwei-fend dar. Dies war keineswegs ein reines Hirngespinst, aber die Verdichtung zum Ressentiment, die Sieyès betrieb, zielte darauf ab, den Adel als minder-wertige Menschengruppe zu kennzeichnen. Und so nahm er auch explizit auf Boulainvilliers’ Konzeption Bezug (ohne dessen Namen zu nennen) und drehte sie um:

Aber wenn die Rassen ganz vermischt sind, wenn das Blut der Franken, das für sich allein nicht besser wäre, mit dem der Gallier sich in den Adern mischt, wenn die Vor-fahren des Dritten Standes die Väter der ganzen Nation sind, darf man da nicht hof-fen, eines Tages das Ende dieses langen Vatermordes zu erleben, den eine Klasse tag-täglich an allen anderen begeht und sich noch zur Ehre anrechnet?46

42 Boulainvilliers, Henri de: Essais sur la noblesse de France, contenans une dissertation sur son origine et abaissement. Amsterdam 1732, 66.

43 Vgl. Dubos, Jean-Baptiste: Histoire critique de l’établissement de la monarchie fran-çaise dans les Gaules. 2 Bände. Amsterdam 1735. Vgl. dazu auch Foucault: Verteidigung 238–240.

44 Sieyès, Emmanuel Joseph: Was ist der Dritte Stand? In: Ders.: Was ist der Dritte Stand?

Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Oliver W. Lembcke und Florian Weber. Berlin 2010, 115.

45 Ebd.

46 Ebd. 116.

104 Echte und unechte Nationen

Man müsse, so Sieyès weiter, den Adel »nötigen, wieder auf die andere Seite [des Rheins] zurückzukehren; der Dritte Stand wird dann wieder Adel wer-den, indem er seinerseits Eroberer wird.«47 Was in diesem Grundlagentext des französischen Nationalismus formuliert wird, ist nichts weniger als die Kon-struktion der Nation gegen die Anti-Nation, die Propaganda für eine Gemein-schaft, die sich durch den Ausschluss der Nichtdazugehörigen konstituiert.48 Und ganz in dieser Logik schlug Sieyès dann auch vor, diesen »Stamm der Er-oberer« in seine »fränkischen Wälder« zurückzuschicken.49 Auch wenn Sieyès’

Anspielung von Ironie und Sarkasmus geprägt war und er sich vor allem über die Selbststilisierung des Adels als höhere Spezies lustig machte, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass das Bild, das er vom Adel zeichnete, durch-aus einer Biologisierung des Sozialen Vorschub leistete. Der Adel, so Sieyès, sei

eine Klasse Menschen, die, ohne Funktion wie ohne Nutzen, bloß deswegen, weil sie existieren, die an ihre Person geknüpften Privilegien genießen. […] [Der Adel] bildet wahrhaftig ein Volk für sich, aber kein echtes Volk, da er aus Mangel an nützlichen Organen nicht durch sich selbst existieren kann, sich vielmehr einer wirklichen Na-tion wie jene Schmarotzerpflanzen anhängt, welche nur vom Saft der Bäume leben können, die sie krank machen und austrocknen.50

Die biologischen Metaphern, die Unterscheidung zwischen dem künstlichen Pseudo-Volk und der wirklichen Nation, das Ressentiment gegen das mühelose Einkommen, die Nützlichkeitserwägungen – hier sind, auch wenn sich Sieyès persönlich für die Emanzipation der Juden ausgesprochen hat und die Händ-ler explizit zu den produktiven Klassen rechnete, strukturell alle Stereotype des modernen Antisemitismus bereits versammelt und prägen die neue Ge-sellschaft, die doch, der Idee nach, ganz rational auf einem Sozialvertrag be-ruhen sollte.51 Die »Nation« war insofern von vornherein eine ambivalente Er-scheinung: Sie schuf formale Gleichheit nach innen, aber nur um den Preis des Ausschlusses der Nichtdazugehörigen; ein Ausschluss, der bereits in der Fran-zösischen Revolution antihumane Züge trug und in der Terrorherrschaft der Jakobiner vollends seine hässliche Fratze zeigte. Die Nation war seit ihrem Be-stehen eine repressive Vergesellschaftungsform, die ihre Mitglieder permanent mit dem Ausschluss bedrohte. Am deutlichsten sprachen das die radikalen Ja-kobiner, die sogenannten »Enragés« um Jacques Roux aus, wenn sie ihrem Zorn

47 Ebd.

48 Vgl. die luzide Analyse von Bruhn, Joachim: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg i. B. 1994, 36–45.

49 Sieyès: Dritter Stand 116.

50 Ebd. 114.

51 Vgl. Karp, Jonathan: The Politics of Jewish Commerce. Economic Thought and Eman-cipation in Europe, 1638–1848. Cambridge 2008, 135–169.

Französische und jüdische Nation 105 auf »Schmarotzer«, »Vampire«, Blutsauger«, »Spekulanten« und »Wucherer«

freien Lauf ließen.52 An die biologischen Metaphern hefteten sich unverhoh-len Vernichtungsfantasien: »Reinigen wir die Erde von den Ungeheuern, die sie besudeln!«53

Auch wenn Roux ebenso wenig wie Sieyès gegen die Juden, sondern gegen das Ancien Régime feuerte, so verband sich seine Polemik nahezu schlafwandlerisch mit der bäuerlich-antifeudalen Stimmungsmache gegen die Juden im Elsass, die im Sommer 1789 in pogromartigen Ausschreitungen gegipfelt war.54 Schließ-lich sprach er nicht nur dieselbe sozialrevolutionäre Sprache, sondern unter-legte seine Drohgebärden auch noch mit allerlei Verschwörungstheorien.55 Auf drei verschiedenen Ebenen äußerten sich während der revolutionären Ereig-nisse antijüdische Vorbehalte: Erstens im allgemeinen antireligiösen Furor der Jakobiner56, zweitens in der Opposition gegen die Emanzipation der elsässi-schen Juden, die in der Nationalversammlung am vehementesten von Jean-François Reubell vertreten wurde, und drittens in gewalttätigen Übergriffen ge-gen jüdische »Schmarotzer«, »Vampire«, »Spekulanten« und »Wucherer« auf dem Land, besonders im Elsass, wo ja mit Abstand die meisten französischen Juden lebten.57 So harmonisch sich die Geschichte der französischen Judene-manzipation also im Vergleich zu ihrem deutschen Gegenstück auf den ersten Blick darbietet, so wichtig ist es auch, sich klarzumachen, dass sie in der Realität für die Juden ein zweischneidiges Schwert war. Jede spontane Regung der Mas-sen und jede Krise der Ordnung war potenziell gefährlich für die Juden, die ja nicht nur aufgrund ihrer Religion als fremd erschienen, sondern darüber hinaus aufgrund ihrer traditionellen Stellung als Vermittler – sei es als Steuereintreiber,

52 Vgl. Roux, Jacques: Verfolgung der Spekulanten, der Wucherer und Verräter [1793]. In:

Ders.: Freiheit wird die Welt erobern. Reden und Schriften. Leipzig 1985, 95–105, hier 95, 99, 102–104; Ders.: Rede über die Ursachen der Mißgeschicke der Französischen Republik [1793].

in: Ders.: Freiheit 106–146, hier 108 f, 111, 115, 122–126, 128 f, 133 f, 138, 140.

53 Roux: Verfolgung 102.

54 Vgl. Gerson, Daniel: Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778–1848. Essen 2006, 76–86.

55 Vgl. Roux: Rede 111, 113, 116, 130 f, 133, 135–137. Vgl. zum »aristokratischen Kom-plott« Vovelle, Michelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten. München 1982, 88–98.

56 Es kann nicht verwundern, dass zwar zahlreiche Juden in der Revolution auf Seiten der Girondisten, kaum einer aber in den Reihen der Jakobiner gekämpft hat. Eine Ausnahme stellte Jacob Berr dar, das einzige jüdische Mitglied der Jakobiner in Metz. Vgl. Szajkowski, Zosa: Marriages, Mixed Marriages and Conversions Among French Jews During the Revo-lution of 1789. In: Ders.: Jews and the French RevoRevo-lutions 826–847, hier 835. Vgl. auch Ders.:

The Attitude of French Jacobins toward Jewish Religion. In: Ders.: Jews and the French Revo-lutions 399–412.

57 Zu Reubells Biographie vgl. Badinter, Robert: Libres et égaux… L’émancipation des Juifs (1789–1791). Paris 1989, 130, Fußnote 1; Berkovitz: The Shaping 33; zum »jüdischen Wu-cher« vgl. Szajkowski: Jews and the French Revolutions 506–508.

106 Echte und unechte Nationen

als Kreditgeber oder schlicht als Händler – den Hass derer auf sich zogen, die sich vor der direkten Konfrontation mit den herrschenden Mächten scheuten.

Sowohl die Umbruchsphase in den 1780er Jahren als auch die Revolutionen von 1830 und 1848 sollten dann auch von antijüdischer Agitation und Gewalt be-gleitet werden.58