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Der Niedergang des traditionellen Judentums, der ein direktes Resultat der Ab-schaffung rabbinischer Gerichtsbarkeit war, sollte, wenn es nach dem Willen des Staates ging, dazu führen, dass aus den halachischen Gelehrten »Geistliche«

wurden. Das eng mit der politischen Verfassung der kehillot verbundene Rab-bineramt sollte in eine kirchliche Struktur eingebunden werden, das Judentum mithin nach christlichem Vorbild formatiert werden. Die Religionisierungs-bestrebungen Friedländers, Terquems oder Holdheims waren die ideologische Entsprechung dieser Politik und stellten insofern eine sehr radikale Variante der Umgestaltung des Judentums dar. Friedländers Sendschreiben und Terquems Lettres, die beide weitreichende Vorschläge zur Amalgamierung von Christen- und Judentum beinhalteten, hatten allerdings nicht nur in orthodoxen Kreisen die Befürchtung ausgelöst, dieser Weg könne zur völligen Aufgabe des Juden-tums führen.1 Auch Liberale mahnten an, man dürfe Reform und Destruktion nicht verwechseln. Ein allzu heftiger Bruch mit den Kernbestandteilen der Tra-dition könne dazu verleiten, dem Judentum ganz den Rücken zuzukehren, wes-halb es wichtig sei, die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum auch weiterhin scharf zu konturieren. Und tatsächlich gab es immer wieder reforme-risch gestimmte Juden, die das Modernisierungsprogramm als Aufruf interpre-tierten, dem Judentum den Rücken zuzukehren. Bei einigen von ihnen spiel-ten auch pragmatische Gründe eine Rolle – gerade in Deutschland, wo mit dem Übertritt auch rechtliche Schranken hinter sich gelassen werden konnten –, aber viele Konvertiten wechselten auch aus religiöser Überzeugung den Glauben.

Dass die Bekehrung aber nicht im Widerspruch zur fortgesetzten Identi-fikation mit einem ethnisch verstandenen Judentum stand, zeigen zahlreiche Fälle von Konvertiten, die die Aufspaltung in einen ethnischen und einen re-ligiösen Begriff von Jüdischkeit aufnahmen und auf durchaus originelle Weise für sich nutzbar machten. Zwar war es nach rabbinischer Lehre umstritten, ob es möglich war, aus dem jüdischen Volk auszutreten, dennoch wurde der zum Christentum Übergetretene faktisch zumeist nicht mehr als Teil  der eigenen

1 Vgl. Ellenson, David: The Orthodox Rabbinate and Apostasy in Nineteenth-Century Germany and Hungary. In: Ders.: Tradition in Transition. Orthodoxy, Halakhah, and the Boundaries of Modern Jewish Identity. Boston, London 1989, 161–184, hier 165.

Christliche Religion, jüdischer Stamm 173 Gemeinschaft wahrgenommen.2 Freilich gab es immer Grenzfälle, abhängig da-von, wie stark die Verbindungen des Konvertierten zum Judentum blieben. Be-kannten Konvertiten des Mittelalters, die zu antijüdischen Kronzeugen wurden, deren Hetzpropaganda mitunter gar gewalttätige Ausschreitungen provozier-ten – am prominentesten ist wohl Johannes Pfefferkorn3 –, standen viele andere gegenüber, die ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum einnahmen: Zwar fühlte man sich der Religion nicht mehr verbunden, der Familie und den Freun-den aber sehr wohl; man glaubte innig an die Botschaft Jesu, teilte aber weiter-hin Erinnerungen und geschichtliche Erfahrungen mit den ehemaligen Glau-bensbrüdern.4 Und genau wie die im Prozess der Aufklärung entstehenden atheistischen »nichtjüdischen Juden«5 empfanden auch viele Konvertiten wei-terhin große Loyalität gegenüber den Juden. Was der Mathematiker und Mit-begründer des Frankfurter Reformvereins, Moritz Abraham Stern, im Dezem-ber 1842 an Gabriel Rießer schrieb, lässt sich deshalb vom Grundimpuls her durchaus auf manchen Konvertiten übertragen:

Wenn ich frage, was mich verpflichtet, für das Judentum und dessen Verbesserung zu wirken, so muß ich mir sagen, daß dies keineswegs in einer religiösen Seelenver-wandtschaft mit der großen Menge seiner Bekenner liegt, da ich sicher und seit lan-ger Zeit ebenso entfernt von ihm bin wie vom Christentum. Ich kann nicht einmal, wie Du und andere, sagen, daß ich durch den Glauben an einen reinen Monotheismus mit demselben zusammenhänge. […] Was mich an das Judentum fesselt, ist das reine Pflichtgefühl der Pietät. Wie an die Mutter, wie an die Familie, wie an das Vaterland bin ich an die Religionspartei gewiesen, in der ich geboren, in deren Lehren ich erzo-gen bin. Solche Gefühle soll man nicht mit dem anatomischen Messer zerleerzo-gen, man soll ihren tiefen Gründen nicht nachgraben, man wird dabei nicht besser. […] Es ist meine Pflicht, die Interessen der Juden zu wahren; das ist mir Grundsatz.6

Wie atheistische Juden sich für das Los ihrer »Religionspartei« engagierten, so gab es auch unter den Getauften jene, die sich auch weiterhin mit dem Ju-dentum identifizierten und sich für dessen Bekenner einsetzten. Zur Am-bivalenz der Konversion gehörte allerdings auch die andere Seite: Der Ver-such, die Juden vom »wahren Glauben« zu überzeugen, oder sie gar, sollten sie sich der erwünschten Einsicht verschließen, mit den Mitteln der Staatsgewalt

2 Vgl. Maier, Johann/Schäfer, Peter: Apostasie. In: Dies.: Kleines Lexikon des Judentums.

Stuttgart, Konstanz 1981, 28 f. Der shulchan aruch, orach chajim 385, 5 sagt, dass der Apostat wie ein Heide zu behandeln ist. Dem steht eine Stelle im Babylonischen Talmud gegenüber, die besagt, dass ein Jude immer ein Jude bleibt. Vgl. bSanhedrin 44a.

3 Vgl. Martin, Ellen: Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn. Zum Problem des Judenhasses und der Intoleranz in der Zeit der Vorreformation. Göppingen 1994.

4 Zu den Folgen in den Familien vgl. Meyer: Jüdische Gemeinden 110.

5 Der Begriff stammt von Deutscher, Isaac: Der nichtjüdische Jude. Essays. Berlin 1988, 59–74.

6 Stern, Moritz Abraham an Gabriel Rießer. Brief vom Dezember 1842. In: Kobler: Jü-dische Geschichte 60 f.

174 Christliche Religion, jüdischer Stamm

dazu zwingen. Die beiden Pole  – Solidarität und Aggression  – kennzeichne-ten zwei Typen des jüdischen Konvertikennzeichne-ten in der hier untersuchkennzeichne-ten Epoche, wo-bei durchaus auch Mischformen dieser emotionalen Typen vorkamen und die nichtjüdisch-jüdische Identität des Konvertiten alles andere als eindeutig und unkompliziert war. Für diejenigen, die aus religiöser Überzeugung zum Chris-tentum übergetreten waren, stellte die ethnische Bestimmung des Judentums eine Möglichkeit dar, sich trotz des Glaubenswechsels weiterhin als Jude zu de-finieren. Deshalb sollen im vorliegenden Kapitel auch Personen in die Analyse einbezogen werden, die aus der Kategorie Jüdischkeit herausfielen, legte man einen ausschließlich konfessionellen Maßstab an.7 Ebenso wie unter jüdischen Atheisten gab es auch zahlreiche Christen jüdischer Herkunft, die sich auch wei-terhin explizit als Juden bezeichneten.

Judenchristen

Da das Christentum einst als jüdisches Schisma entstanden war, ist es evident, dass »jüdische Christen« prinzipiell kein modernes Phänomen darstellten.8 Und auch die Problematik, das Judentum als Volk, das Christentum aber als univer-selle Religion zu charakterisieren, begegnet bereits in den Schriften des Pau-lus von Tarsus.9 Wie aber dieses Verhältnis konkret gedacht wurde, wandelte sich in den zwei Jahrtausenden der Existenz des Christentums sehr wohl. Er-hielt der Begriff des Gläubigen gegenüber der jüdischen Zentrierung auf das

»Volk«, die etwa in der repräsentativen Konzeption des minjan ihren zeremo-niellen Ausdruck findet, im Christentum zunehmend Vorrang, so war doch die theologische Doktrin, dass das jüdische Volk um des Heils der Mensch-heit willen kollektiv zum Christentum übertreten und durch die Taufe sein se-parates Volkstum aufgeben müsse, für die Politik der Kirche jahrhundertelang konstitutiv.10 Daraus folgte der Imperativ der Judenmission, für deren propa-gandistische Strahlkraft der Erfolg bei möglichst namhaften Juden von beson-derer Bedeutung war. Einer der erfolgreichsten Judenmissionare im Frank-reich des frühen 19. Jahrhunderts war der Orientalist und katholische Priester Jean Labouderie (1776–1849), der zahlreiche seiner Taufpredigten drucken und

7 Vgl. dazu auch Graetz: Les Juifs 19.

8 Zu den Anfängen vgl. Frankemölle, Hubert: Frühjudentum und Urchristentum. Vor-geschichte  – Verkauf  – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4.  Jahrhundert n. Chr.).

Stuttgart 2006, 262–267 und 330–337, dessen Begriff des »Reformjudentums« allerdings äußerst irreführend ist.

9 Vgl. etwa Galater 3, 28–29.

10 Vgl. Czermak, Gerhard: Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung. Von der Antike bis zum Holocaust, von 1945 bis heute. Reinbek bei Hamburg 1997, 77.

Judenchristen 175 verbreiten ließ.11 In seinen Reden betonte er stets, dass die Getauften den wah-ren Inhalt der Religion ihrer Väter nun endlich erkannt hätten und nicht etwa einen Bruch mit dem Bund Abrahams und Mosis vollzogen hätten, sondern die-sen im Gegenteil durch ihren Glauben an die Messianität Jesu bekräftigten. Und selbst Verteidiger der Juden gegen katholische Apologeten, wie etwa der franzö-sische Orientalist Étienne Fourmont, konnten bisweilen nicht umhin, den Kon-vertiten dem traditionellen Juden als scheinbar geläutertes Ideal gegenüber-zustellen.12 Unter dem merkwürdigen Pseudonym »R. Ismael ben Abraham, juif converti« veröffentlichte Fourmont 1722 einen offenen Brief an den Pries-ter Claude-François Houteville, in dem er diesem seine Unkenntnis bezüglich des Talmud nachwies. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass er die Wahrheit des Christentums erkannt habe. Er sei »Jude durch das Unglück meiner Geburt«

und folge dem »Beispiel des heiligen Paulus, der immer für meine Nation ge-eifert«13 habe. Fourmonts Kunstfigur war also – ungeachtet ihres Namens14 – als gebürtiger Jude konzipiert, der aus der Tradition des rabbinischen Juden-tums kommend zum Christentum gefunden habe und insofern christlichen Fanatikern unendlich überlegen sei, die von den theologischen und historischen Grundlagen ihrer Religion keine Ahnung hätten.

Aber auch die Getauften selbst betonten oft ihre jüdische Herkunft. 1825 veröffentlichte David-Paul-Louis-Bernard Drach, ein jüdischer Konvertit aus Straßburg, seinen Lettre d’un rabbi converti aux Israélites, ses fréres.15 Drach war der Sohn eines bekannten elsässischen Talmudisten, hatte eine traditio-nelle rabbinische Ausbildung in den etablierten elsässischen Jeschiwot in Etten-dorf, Bischeim und Westhoffen erhalten und 1818 die Tochter des Großrabbiners im Pariser Konsistorium, Emmanuel Deutz, geheiratet. Nach einigen Jahren als Direktor einer jüdischen Grundschule konvertierte er 1823 plötzlich zum

11 Vgl. etwa Labouderie, Jean: Discours pour le baptême de Joseph-Marie-Louis-Jean Wolf, Juif converti, à Saint Eustache, le 23 Mai 1818. Paris 1818; Ders.: Discours pour le bap-tême de M. D. J. B. Lévy, Juif converti, à la Métropole de Paris, le 14 Juin 1815. Paris 1815;

Ders.: Discours pour le baptême d’Ange-Alexandre-Bernard-Jean Mayer, Juif converti, pro-noncé à Saint-Nicolas du Chardonnet, le 23 Avril 1818. Paris 1818.

12 Vgl. Leung, Cécile: Etienne Fourmont, 1683–1745. Oriental and Chinese Languages in Eighteenth-Century France. Leuven 2002, 111–113.

13 Abraham, R. Ismael ben: Lettre à M. l’abbé Houteville. Paris 1722, 3.

14 Der Kunstname »Ismael ben Abraham« ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens verweist der Vorname »Ismael« auf eine nichtjüdische, muslimische Herkunft, zweitens war der Beiname »ben Abraham« eine Formel, mit der Konvertiten zum Judentum bezeichnet wurden. Der vermeintliche »juif converti« war also seinem Namen nach selbst ein zuvor zum Judentum konvertierter Muslim. Inwieweit Fourmont, der sich sehr gut in der rabbinischen Literatur auskannte, dieses Spiel mit den Namen bewusst eingesetzt hat, ist nicht abschlie-ßend zu klären.

15 Drach, David-Paul-Louis-Bernard: Lettre d’un rabbi converti aux Israélites, ses fréres, sur les motifs de sa conversion. Paris 1825.

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Christentum, das er zuvor jahrelang ausgiebig studiert hatte.16 In seiner Kon-versionsschrift schrieb er an »seine Brüder« gerichtet, er habe sich vom »pha-risäischen Kult« ab- und der »heiligen und wahrhaften Religion Israels« zuge-wendet.17 Die »katholische, apostolische und römische Religion« sei die »unserer Vorfahren« und Jesus der Messias, der »unserer Nation« angekündigt worden sei.18 Drach legte großen Wert darauf, dass er immer noch der jüdischen Nation angehöre, aber anders als die meisten seiner Brüder eingesehen habe, dass die Rabbinen sich bei ihrer Ablehnung Jesu getäuscht hätten. Drach hatte sich inten-siv sowohl mit dem rabbinischen als auch mit dem christlichen Schrifttum aus-einandergesetzt und keine ad hoc-Entscheidung aus opportunistischen Grün-den gefällt, sondern war aus religiöser Überzeugung konvertiert. Um so größer war der Schock in der jüdischen Gemeinschaft, als ein gelehrter Mann aus dem Pariser Establishment der jüdischen Religion öffentlich den Rücken zukehrte.

1841 erschien eine deutsche Übersetzung des Drachschen Werks von Luitpold Baumblatt unter dem Titel Der Katholizismus und der Judäismus. Auch Baum-blatt, 1806 als Jakob Baumblatt in Unterfranken geboren, hatte eine rabbinische Ausbildung hinter sich und war 1840 zum Katholizismus übergetreten. Anders als Drach, der im Auftrag der Römischen Kurie arbeitete, verdingte sich Baum-blatt als Lehrer und Schuldirektor, war aber ein ebenso entschiedener Verfechter des Katholizismus.19 In seiner Einleitung zu Drachs Buch schrieb er, ihn habe nichts anderes angetrieben als der Wille, »meinen Brüdern, den Israeliten, zu nützen und sie für das Reich Gottes zu gewinnen«20. Drachs Buch versuchte ge-nau dies: Die Juden davon zu überzeugen, dass Jesus vor allem ihr Erlöser sei.21 Einem dem tiefen Glauben fernstehenden Beobachter mag dieses Motiv suspekt erscheinen, aber aus der Perspektive Drachs und Baumblatts stellte der Missio-nierungsversuch keinen feindlichen Übergriff dar, sondern ein freundliches Angebot, das nur zum Besten der Juden sei. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Drach und Baumblatt die Juden tatsächlich vor dem Strafgericht Gottes be-wahren wollten, ihr Ansinnen also durchaus ernst meinten.

Auch Wolfgang Bernhard Fränkel behauptete in seiner Schrift Die Unmög-lichkeit der Emanzipation der Juden im christlichen Staate, seinen »Brüdern« nur Gutes tun zu wollen.22 An seinem Fall zeigt sich jedoch, wie fließend der

16 Vgl. Berkovitz: The Shaping 115 f.

17 Drach: Lettre 1.

18 Ebd. 2.

19 Vgl. Lemma ›Baumblatt, Luitpold‹. In: Killy, Walther/Vierhaus, Rudolf (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Bd. 1. München 1995, 339.

20 Drach, David-Paul-Louis-Bernard: Der Katholicismus und der Judäismus. Übersetzt von Luitpold Baumblatt. Frankenthal 1841, II.

21 Vgl. ebd. 3.

22 Fränkel, Wolfgang Bernhard: Die Unmöglichkeit der Emanzipation der Juden im christlichen Staate. Elberfeld 1842.

Judenchristen 177 gang vom christlichen Paternalismus zur Feindseligkeit war. Der aus Bonn ge-bürtige Fränkel hatte 1812 erst auf Seiten Napoleons, dann auf deutscher Seite in der Armee gedient und nach seiner Rückkehr nach Deutschland von 1819–

1824 in seiner Heimatstadt Medizin studiert. Nach seinem Studium ließ er sich in Elberfeld als Arzt nieder und publizierte einige medizinische Schriften. Die größte Bekanntheit erzielte er allerdings durch seine antijüdischen Propagan-dabroschüren, die auch auf jüdischer Seite rezipiert wurden und gehörigen Pro-test erregten.23 Seine besondere Berufung, den Juden die Wahrheit zu verkün-den, bezog Fränkel ausgerechnet aus seiner vermeintlich edlen Abstammung:

Mein Vater war ein Levite und diente nach uraltem Brauch und Recht in der Syn-agoge, wenn der Priestersegen gesprochen wurde, mit dem Wasserbecken um den Priestern, Kohanim, die Hände zu waschen. Mein Großvater war ebenfalls ein Levite und versah dasselbe Amt; dessen Vater war auch ein Levite, und dessen Vater eben-falls einer, und so weiß ich, und Niemand wird mir das abstreiten wollen, daß ich zum Stamme Levi gehöre.24

Er brauche sich seiner jüdischen Abstammung nicht zu schämen, sondern könne im Gegenteil sogar stolz auf sie sein. Fränkel betonte, eigentlich wolle er seinen »Stammesgenossen einmal wahrhaft nützlich«25 sein, aber anders als bei Baumblatt hatte seine Schrift den bitteren Beigeschmack, dass sie die Juden zu ihrem Glück zwingen wollte. Als Menschen, so hatte Fränkel bereits in seiner ein Jahr zuvor erschienen Schrift Das Bekenntniss des Proselyten ausgeführt, könn-ten die Juden selbstverständlich emanzipiert werden, als Juden hingegen nicht.

Denn der »Mosaismus« enthalte »Prinzipien, welche mit den Grundsätzen des Staatsrechts nicht harmoniren«26. Er ließ offen, wie er mit diesem Widerspruch umgehen wollte. Einerseits bejahte er durchaus das rein negative »Recht« der Ju-den auf Militärdienst und Steuerabgaben, andererseits beabsichtigte er sie von der vollen Teilhabe an der Nation auszuschließen, weil diese sich entsprechend ihrem Wesen als »christlicher Staat« formiert habe. Es kann nicht verwundern, dass sich Bruno Bauer zwei Jahre später in seiner berühmten Schrift Die Juden-frage ausführlich auf Fränkels Buch bezog.27

23 Vgl. Löwenstein, Lippmann Hirsch: Überzeugungen eines Israeliten, gegenüber dem Proselytenthum. Erwiederung auf die Schrift des Herrn Dr. W. B. Fränkel. Rödelheim 1842;

Philippson, Ludwig: Literarische Nachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 33 (14. August 1841) 469–472.

24 Fränkel: Die Unmöglichkeit III. 25 Ebd. XI.

26 Fränkel, Wolfgang Bernhard: Das Bekenntniss des Proselyten. Das Unglück der Juden und ihre Emancipation in Deutschland. Elberfeld 1841, 11.

27 Vgl. Bauer, Bruno: Die Judenfrage. Braunschweig 1843, 50–55. Zu Bauer vgl. auch Ka-pitel 14.

178 Christliche Religion, jüdischer Stamm

Unübersehbar sind jedoch auch die Parallelen von Fränkels Sprachduk-tus und Denken mit dem jüdischer Reformer. So beklagte er, von der wahren Religion Mosis sei nichts als »ein armseliges Schnörkelwesen des Rabbinis-mus«28 übrig geblieben und hob besonders – gegen Mendelssohn – die Bedeu-tung des »Glaubens« für den wahren »Mosaismus« hervor.29 Statt sich dem ech-ten Glauben zuzuwenden, hätech-ten sich die Juden entweder im toech-ten Buchstaben des Gesetzes oder im blutleeren Rationalismus verfangen. Viele der Klagen re-formerisch gestimmter Juden teilte Fränkel, worin er sich jedoch von ihnen un-terschied, war die Einschätzung des Reformjudentums selbst, das er für eine indifferente Mischung aus überkommenem Rabbinismus und chimärischem Deismus hielt. Die jüdische Religion, so deklamierte er, sei nicht zu reformieren:

Ja, ich sage noch mehr, wenn ich auch dadurch Oel in’s Feuer gießen, und die Flamme des Zornes helllodernd anfachen sollte, daß ich die ganze Verfassung des Judent-hums, und namentlich seine Religion für so obsolet, morsch und wurmstichig halte, daß der Übertritt der Juden zum Christenthum überall eine Nothwendigkeit ist […].30 Die von einigen Reformern forcierte Unterscheidung zwischen der veralteten jü-dischen Nationalität und der ehrwürdigen jüjü-dischen Religion wurde von Frän-kel zwar übernommen, die Bewertung aber umgekehrt: Gerade wer von so ed-ler levitischer Abstammung wie er selbst sei, müsse die jüdische Religion als historische Verirrung erkennen. Die Taufe sah er folglich nicht nur als einen rein formellen Akt, der »den Nachfolger[n] des Proselyten eine geebnete Bahn zu allen Zweigen der Industrie, Kunst und Wissenschaft« eröffne und das »ein-zige Mittel der Assimilation in und mit der großen menschlichen Gesellschaft«

sei, sondern »in ihrer edlern, höhern Bedeutung« zugleich als ein »geheimnis-volle[s] Weihe-Zeichen«.31

Erstaunlicherweise schwankte Fränkel zwischen der ethnischen und der re-ligiösen Definition der Juden hin und her, manchmal die eigene Abstammung verdrängend, manchmal genau diese hervorhebend. Immer wieder kam er auf das Problem zurück, dass er einerseits das Judentum als »Bekenntnis« fasste, das sich auch durch ein christliches ersetzen lasse, andererseits aber die Juden ein eigenes Volk mit bestimmten unveränderlichen Eigenschaften bildeten. Der Widerspruch wurde nicht aufgelöst, sondern durchzieht Fränkels Schriften von Anfang bis Ende. Zwar trage »der Jude ein Empfänglichkeitsvermögen für Edles und Großes in gleichem Maße in sich […] wie die Bekenner jeder andern Glau-benslehre«, schrieb er, aber nicht ohne sofort anzufügen:

28 Fränkel: Das Bekenntniss 13.

29 Vgl. ebd. 99–102.

30 Ebd. 80 (Hervorhebung vom Verfasser).

31 Ebd. 81.

Judenchristen 179 Aber täuschen wir uns nicht! Der Jude ist einmal providenziel bestimmt, der Paria der Gesellschaft zu sein […], und weder seine Armuth noch sein Reichthum an ir-dischen Gütern, weder seine Bildung noch seine Vaterlandsliebe, weder das tiefste Elend noch der Besitz der reinsten Sittlichkeit, werden im Stande sein, vom Namen des Judenthums einen Fluch zu entfernen, der auf demselben unter allen Himmels-strichen und unter allen Völkern haftet, entweder als Haß oder als Neid oder als Mit-leid oder als Verachtung sich kundtut, und zu allen Zeiten die rohesten Ausbrüche der entfesselten Leidenschaften und Greuelthaten hervorgerufen hat, welche sogar dem Kannibalen fremd sind.32

Der Fluch, der auf dem Judentum laste, wurde von Fränkel theologisch unter

Der Fluch, der auf dem Judentum laste, wurde von Fränkel theologisch unter