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Forschungsstand: Jüdische Ethnizität in der Moderne

in den deutschen Ländern. Im sechsten Kapitel werden wir sehen, wie stark die unterschiedliche religionsgeschichtliche Entwicklung seit dem Dreißigjäh-rigen Krieg mit dem jeweiligen Verständnis von »Nationalität« und »Volkstum«

verknüpft war. Dementsprechend wurde in der Forschung auch immer wieder deutlich auf die Differenz von französischem und deutschem Nationalismus hingewiesen. Diese Unterschiede sollen dann auch in der vorliegenden Arbeit keineswegs unterschlagen werden, ganz im Gegenteil: Vielmehr ist zu fragen, warum insbesondere die geistesgeschichtlichen Entwicklungen im deutschen und französischen Judentum in vielerlei Hinsicht trotz der so unterschiedlichen politischen Entwicklungen so erstaunlich ähnlich verliefen? Eine befriedigende Antwort kann nur eine verschränkte Analyse finden, die den synchronen Ver-knüpfungspunkten und Überschneidungen ebenso Raum gibt wie den diachro-nen Absetzbewegungen.

Forschungsstand: Jüdische Ethnizität in der Moderne

Nimmt man die Publikationslage zu ethnischen Konzeptionen des Judentums in der Zeit zwischen der Auflösung der jüdischen Gemeindeautonomie und dem

»Wendepunkt«28 1848 in Augenschein, so ist das Ergebnis eher ernüchternd. Die vorhandene Forschung bezieht sich vornehmlich auf den französischen, seltener auf den deutschen Raum: Phyllis Cohen Albert steht mit ihrem Hinweis darauf, dass die französischen Juden nach 1791 nicht ausnahmslos »assimilationistisch«

gewesen seien, sondern sich auch nach der Emanzipation wenig mit der nicht-jüdischen Bevölkerung gemischt hätten – und zwar weder in politischer, noch in geographischer und ethnologischer Hinsicht –, ziemlich isoliert da. Vor allem der grassierende Antisemitismus, so Cohen Albert, sei ein Grund dafür, dass sich die französischen Juden auch nach der politischen und rechtlichen Gleich-stellung in einem Verhältnis »nationaler« und »internationaler Solidarität« be-funden hätten.29 Eine mit dem französischen Patriotismus kompatible jüdische Solidarität betont auch Patrick Girard, der allerdings, anders als Cohen Albert, ebenfalls die Absage an ethnische Konzeptionen des Judentums hervorhebt.30

28 Vgl. Toury, Jacob: Die Revolution von 1848 als innerjüdischer Wendepunkt. In: Liebe-schütz, Hans/Paucker, Arnold (Hg.): Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850. Tü-bingen 1977, 359–376; Elon, Amos: Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epo-che 1743–1933. MünEpo-chen 2005, 182.

29 Vgl. Cohen Albert, Phyllis: Ethnicity and Jewish Solidarity in Nineteenth-Century France. In: Troen, Selwyn Ilan/Pinkus, Benjamin (Hg.): Organizing Rescue. National Jewish Solidarity in the Modern Period. London, Portland 1992, 50–76; Cohen Albert, Phyllis: The Modernization of French Jewry. Consistory and Community in the Nineteenth Century.

Brandeis 2002.

30 Vgl. Girard, Patrick: Les Juifs de France 1789 à 1860. De l’émancipation à l’égalité.

Paris 1976, 138–152.

34 Auf- und Umbrüche

Jay R. Berkovitz rückt vor allem die »Flucht vor der traditionellen Identität«

und diejenigen Modernisierungsprozesse ins Zentrum, die auf eine Ablösung jüdischer Ethnizität abzielten.31 Ähnliches gilt für die Standardwerke Paula E. Hymans32 und Arthur Hertzbergs33. Ein differenzierteres Bild bietet Simon Schwarzfuchs.34 Zwar deutet er den Wandel der Selbstbezeichnung von »Jude«

zu »Israelit« ebenfalls als bewusste Abkehr von ethnischen Identitätsformen, arbeitet aber zugleich heraus, dass die Emanzipationsphase zugleich von einer Modernisierung der Vorstellung vom »jüdischen Volk« begleitet war. Anhand der Auflösung der bis ins 19.  Jahrhundert hineinreichenden Unterscheidung zwischen der »Nation der Deutschen«, i. e. der Aschkenasen, und der »portugie-sischen Nation«, i. e. der Sepharden, lasse sich studieren, wie mit der Frage der staatsbürgerlichen Integration langsam und nicht ohne Widerstände die Idee eines französischen Judentums entstanden sei. Ähnlich argumentiert auch Mi-chael Graetz, der ebenfalls die Zentralisierungstendenz und damit Paris in den Vordergrund rückt, was ihn dazu führt, die Doktrin des Konsistoriums allzu stark zu machen.35 Ronald Schechter, der die Beziehungen der Juden gegenüber dem König bzw. der Republik untersucht, kommt zu dem Schluss, die franzö-sischen Juden seien bereits vor der Revolution glühende Patrioten gewesen.36 Die naheliegende Folgerung, dieses neue gesamtfranzösische Judentum sei aus-schließlich als religiöses Kollektiv gedacht worden, wird interessanterweise ge-rade von den Ergebnissen derjenigen Autoren infrage gestellt, die methodisch einer histoire croisée folgen oder eine vergleichende Perspektive einnehmen und deshalb die Sicht der elsässischen und lothringischen Juden stärker in den Fokus rücken. So weist besonders Michel Espagne auf die starken ethnizistischen Un-tertöne im jüdischen Identitätsdiskurs hin.37 Er zeigt, dass Jüdischkeit gerade in linksintellektuellen Kreisen im Einklang mit nationalistischen Ideologieformen keineswegs als rein religiöses Phänomen interpretiert wurde. Sein Hinweis auf

31 Vgl. Berkovitz, Jay R.: The Shaping of Jewish Identity in Nineteenth-century France.

Detroit 1989. In seinem zweiten Buch Rites and Passages nimmt Berkovitz die Erkenntnisse Cohen Alberts auf, allerdings ohne mit der Grundtendenz seines früheren Werkes zu bre-chen. Berkovitz, Jay R.: Rites and Passages. The Beginnings of Modern Jewish Culture in France, 1650–1860. Philadelphia 2004.

32 Hyman, Paula E.: The Jews of Modern France. Berkeley u. a. 1998.

33 Hertzberg: The French Enlightenment.

34 Schwarzfuchs, Simon: Du Juif à l’Israélite. Histoire d’une mutation, 1770–1870. Paris 1989.

35 Graetz, Michael: Les Juifs en France au XIXe siècle. De la révolution française à l’Alli-ance israélite universelle. Paris 1989.

36 Schechter, Ronald: Obstinate Hebrews. Representations of Jews in France, 1715–1815.

Berkeley 2003.

37 Espagne: Les Juifs allemands. Vgl. auch, allerdings vor allem für die Zeit nach 1848, Neumann, Jens: Un agenda commun? Les conceptions de l’identité juive dans le Allgemeine Zeitung des Judenthums et les Archives Israélites de France (1840–1881). In: Knörzer: Expé-riences croisées 44–67.

Forschungsstand: Jüdische Ethnizität in der Moderne 35 die jüdischen Saint-Simonisten, die sogar mit der Idee der »Rasse« hantierten, wurde von Lisa Moses Leff aufgegriffen.38 Leider sind die Arbeiten von Espa-gne und Moses Leff bislang nicht zum Anlass genommen worden, sich diesem Thema intensiv und systematisch zuzuwenden – diese Forschungslücke schließt die vorliegende Arbeit.

Für den deutschen Sprachraum sind bislang fast ausnahmslos Werke vor-gelegt worden, die den Wandel des Judentums von einer ethno-religiösen zur religiösen Gemeinschaft nachvollziehen.39 An erster Stelle sind hier sicherlich die höchst verdienstvollen Arbeiten Michael A. Meyers zu nennen.40 Insbeson-dere in seinem Buch über die Entstehung der jüdischen Reformbewegung zeigt Meyer, dass die Konfessionalisierung des Judentums nicht ohne Widerstände vonstatten ging. Allerdings bleibt es bezüglich ethnischer Neuentwürfe des Ju-dentums bei Andeutungen. David Sorkins Arbeit über die Transformation des deutschen Judentums verwendet den Begriff der »subculture« explizit als Ge-genmodell zum ethnischen Selbstbewusstsein, dessen Existenz er für das deut-sche Judentum verneint.41 Michael Brenner hat in einem wichtigen Aufsatz einen Überblick über den Wandel jüdischer Identität in Deutschland gegeben und dabei das Motiv des »Suchens« stark gemacht.42 In seinem Band über die jüdische Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts geht er zudem aus-führlicher auf den Streit ein, ob das Judentum eine Nation oder eine Religion

38 Vgl. Moses Leff, Lisa: Self-Definition and Self-Defense. Jewish Racial Identity in Nine-teenth-Century France. In: Jewish History 19/1 (2005) 7–28. Zu den jüdischen Saint-Simo-nisten vgl. auch Szajkowski, Zosa: The Jewish Saint-Simonians and Socialist Antisemites in France. In: Ders. (Hg.): Jews and the French Revolutions of 1789, 1830 and 1848. New York 1970, 1091–1118; Rodrigue, Aron: Léon Halévy and Modern French Jewish Historiography.

In: Carlebach, Elisheva u. a. (Hg.): History and Jewish Memory. Essays in Honor auf Yosef Hayim Yerushalmi. Hanover 1998, 413–427; Ratcliffe, Barrie M.: Crisis and Identity. Gustave d’Eichthal and Judaism in the Emancipation Period. In: Jewish Social Studies 37/2 (Frühjahr 1975) 122–140; Graetz, Michael: Une initiative saint-simonienne pour l’émancipation des Juifs. Lettres de Gustave D’Eichthal sur son voyage en Autriche. In: Revue des Études Juives 129/1 (1970) 67–84.

39 Eine exemplarische Zusammenfassung gibt Endelman, Todd: Jewish Self-Identifica-tion and West European Categories of Belonging. From the Enlightenment to World War II. In: Gitelman, Zvi (Hg.): Religion or Ethnicity? Jewish Identities in Evolution. Piscataway 2009, 104–130.

40 Meyer, Michael A.: Die Anfänge des modernen Judentums. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. München 2011 (zuerst als: The Origins of the Modern Jew. Jewish Identity and European Culture in Germany, 1749–1824. Detroit 1967); Ders.: Response to Modernity: A History of the Reform Movement in Judaism. New York, Oxford 1988; Ders.:

Jüdische Identität in der Moderne. Berlin 1996.

41 Sorkin, David: The Transformation of German Jewry, 1780–1840. Detroit 1999, 181, Fußnote 7.

42 Brenner, Michael: Religion, Nation oder Stamm: zum Wandel der Selbstdefinition un-ter deutschen Juden. In: Haupt, Heinz-Gerhard/Langewiesche, Dieun-ter (Hg.): Nation und Reli-gion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a. M., New York, 587–601.

36 Auf- und Umbrüche

sei.43 Auch Shulamit Volkov hebt in einem leider wenig beachteten Essay her-vor, dass die Idee eines jüdischen Nationalismus nicht von den Zionisten erfun-den worerfun-den ist und weist auf die nachhaltigen Bemühungen der Religionsrefor-mer um eine Verabschiedung des Nationalgedankens hin:

Über Jahrhunderte hinweg waren die Juden in aschkenasische und sephardische Ge-meinden geteilt, und besonders in den ersteren hatten religiöse Fraktionen oft in bit-terem Kampf miteinander gelegen. Trotzdem hatte sich unzweifelhaft auch im späten 18. Jahrhundert noch ein grundsätzliches Gefühl der Einheit und gemeinsamen Iden-tität erhalten. Jahrzehntelang war es ein Hauptanliegen des Reformjudentums gewe-sen, diese Identität zugunsten einer neuen Identifikation mit den jeweiligen National-staaten und Gesellschaften zu schwächen.44

Volkov plädiert dafür, den jüdischen Protonationalismus als Forschungsfeld einzubeziehen und positioniert sich damit gegen eine Interpretation des Zio-nismus, wonach dieser die »jüdische Nation« aus dem Nichts erfunden habe.45 Till van Rahdens Aufsatz über die jüdische Selbstbezeichnung als »Stamm« in den Jahren 1860 bis 1933 sei deshalb an dieser Stelle auch angeführt, obwohl sein Untersuchungszeitraum jenseits unseres Gegenstandsbereichs liegt.46 An van Rahdens Untersuchung anschließend und dem vorliegenden Buch thema-tisch – wenn auch nicht methodologisch – am ähnlichsten ist Jens Neumann-Schliskis komparatistische Studie über die Identitätskonzeptionen insgesamt fünf jüdischer Zeitungsredakteure in Deutschland, Frankreich, England und Österreich.47 In Deutschland analysiert Neumann-Schilski detailliert die Äuße-rungen Ludwig Philippsons (Allgemeine Zeitung des Judenthums), in Österreich nimmt er sich Simon Szánto vor (Österreichisches Central-Organ) und in Frank-reich fokussiert er sich auf die Sicht Samuel und Isidor Cahens (Archives israéli-tes). Sein Befund über die Jahre 1840 bis 1849 lautet, dass Samuel Cahen »stark von den deutschen Reformern inspiriert« gewesen sei und eine radikal assimi-latorische Haltung formuliert habe, die auf einen klaren Bruch mit der nationa-len Vergangenheit setzte und von den Juden einen französischen Patriotismus

43 Brenner: Propheten des Vergangenen, besonders 19–24; 67–77.

44 Volkov, Shulamit: Reflexionen zum »modernen« und zum »uralten« jüdischen Natio-nalismus. In: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. München 2001, 32–48, hier 39. Vgl.

auch Gotzmann, Andreas: Zwischen Nation und Religion: Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität. In: Ders. u. a. (Hg.): Juden – Bürger – Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Tübingen 2001, 241–261.

45 Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Graf, Friedrich Wilhelm: Die Nation – von Gott

»erfunden«? In: Ders.: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. Mün-chen 2007, 102–132, hier 116 f.

46 Van Rahden, Till: Germans of the Jewish Stamm. Visions of Community between Na-tionalism and Particularism, 1850 to 1933. In: Gregor, Neil u. a. (Hg.): German History from the Margins. Bloomington 2006, 27–46.

47 Neumann-Schliski: Konfession oder Stamm.

Forschungsstand: Jüdische Ethnizität in der Moderne 37 forderte.48 Der Sohn, Isidor Cahen, habe zwar grundsätzlich ähnlich argu-mentiert, aber durchaus mit ethnischen Konzeptionen des Jüdischen hantiert und die internationale jüdische Solidarität in den Vordergrund gerückt. Lud-wig Philippson, so Neumann-Schliski, habe als Hegelianer viel Wert auf die ge-meinsame Geschichte der Juden gelegt, diese aber in verschiedene Stufen des Weltgeistes unterteilt, wonach die Revolution von 1848 tatsächlich als »Wende-punkt« fungiert habe, nämlich als endgültige Aufhebung der jüdischen Natio-nalität. Allerdings sei Philippsons Begrifflichkeit durchaus widersprüchlich ge-wesen. So habe er zwar wie die Cahens den Begriff »Israelit« bevorzugt, aber im Gegensatz zu diesen durchaus auch die Bezeichnung »Jude« weiter verwendet.

Zudem habe er sich des Stammesbegriffs in verschiedenen Kontexten bedient, wobei er diesem im Vormärz eine positivere Konnotation habe angedeihen las-sen als im Revolutionsjahr selbst, als es darum ging, jeden Zweifel an der natio-nalen Zuverlässigkeit der Juden auszuräumen. Simon Szánto schließlich habe zwar häufig das Wort »Nation« für die Juden verwendet, aber dennoch einen unmissverständlichen »Mosaismus« vertreten, der das Judentum ausschließ-lich als Glaubensgemeinschaft zu fassen gesucht habe. Insgesamt lässt sich kon-statieren, dass Neumann-Schliski einen Personenkreis untersucht, der in jenen Jahren bemüht war, aus dem Judentum eine Religion und deren Angehörige zu loyalen Staatsbürgern jüdischen Glaubens zu machen. Seine Studie vermag durchaus zu überzeugen, wenn man ihren angesichts der relativ fokussierten Auswahl beschränkten Aussagewert berücksichtigt. Insofern fließen ihre Er-gebnisse über die genannten Akteure in die vorliegende Arbeit ein, werden aber als Teil eines breiteren Panoramas integriert.

48 Ebd. 208.

3. Blickpunkte: