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Die Entstehung zivilisatorischer Differenz

Während die mittelalterliche Literatur »anscheinend keine abwertenden Vor-urteile gegen Schwarze und Gelbe« kannte, wurde in der kolonialen Litera-tur, insbesondere in Reiseberichten, die privilegierte Stellung des Europäers geschichtlich begründet und biologisiert.1 Vor der Entdeckung Amerikas

1 Poliakov, Léon u. a.: Über den Rassismus. Sechzehn Kapitel zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns. Stuttgart 1984, 63.

Die Entstehung zivilisatorischer Differenz 81 den biologische Differenzen nicht als Makel wahrgenommen, als Ausdruck eines primitiven Wesens, sondern als faszinierendes Kuriosum: »Im Mittelalter mit seiner Vorliebe für das Unwirkliche und Wunderbare nahm man alle phan-tastischen Erzählungen begierig auf«, so der Historiker Patrick Girard resü-mierend.2 Ganz anders die Schriften, die nach der Landnahme verfasst wur-den und insbesondere der Rechtfertigung der Ausbeutung und Versklavung dienten. Auch an diese Reiseberichte heftete sich zwar das Interesse der Le-ser, aber die bloße Unterhaltung wurde überlagert von einer Bedeutungskonsti-tution des Biologischen. Der Soziologe Robert Miles schreibt: »Die Konstruk-tion von ›Rasse‹ ist ein dialektischer Prozeß der BedeutungskonstituKonstruk-tion. Wenn man ein reales oder vorgestelltes biologisches Merkmal zum Bedeutungsträger macht, um den Anderen zu definieren, unterwirft man das eigene Selbst not-wendigerweise der Definition durch das gleiche Kriterium. Als die Griechen und Römer und später die europäischen Entdecker und Kaufleute die Afri-kaner als ›schwarz‹ definierten, definierten sie sich implizit als das entgegen-gesetzte Ende einer gemeinsamen Dichotomie oder eines Kontinuums, nämlich der Hautfarbe.«3 Der frühneuzeitliche Reisebericht war dementsprechend ein ständeübergreifendes Identifikationsangebot, das zwar nach wie vor auf dem Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen des Einzelnen beruhte, aber darüber hinaus die Konstitution eines weißen und europäischen Gemeinschaftsgefühls beförderte.4

Theoretisch stand dieser Protorassismus im Widerspruch zur universalis-tischen Lehre der Kirche, die prinzipiell jeden Menschen zum Christen ma-chen wollte und damit auch das Versprema-chen der eschatologisma-chen Gleichheit vor Gott verknüpfte. Doch das Zivilisierungsparadigma verband sich mit der christlichen Missionierungspolitik, so dass die afrikanischen und amerika-nischen Bevölkerungen als bemitleidenswerte Objekte wahrgenommen wur-den, die man trotz ihres scheinbar niedrigen kulturellen Status an der Gnade des Herrn teilhaben lassen müsse – auch gegen ihren Willen. Hinzu kam, dass der Protestantismus und später die entstehende Aufklärungsbewegung, die beide in unterschiedlicher Weise mit dem Aufstieg eines selbstbewussten und nach Unabhängigkeit strebenden Bürgertums verbunden waren, zunehmend Lehren der Kirche in Zweifel zogen: so auch den biblischen Monogenismus, die Annahme also, dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen.

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet ein Hugenotte mit marranischem Hintergrund, Isaac de La Peyrère aus Bordeaux, als wohl erster

2 Ebd.

3 Vgl. Miles, Robert: Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 175/3 (Mai/Juni 1989) 353–368, hier 357.

4 Vgl. Fredrickson, George M.: Rassismus. Ein historischer Abriss. Hamburg 2004, 51 f.

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Theologe in der Frühen Neuzeit den Monogenismus grundlegend infrage stellte.5 Schließlich hatten seine Vorfahren, als Kryptojuden verfolgte Conversos aus Spanien, am eigenen Leib spüren müssen, was es bedeutete, die Menschheit in zwei biologisch scheinbar fundamental verschiedene Gruppen aufzuspalten, so dass sich diese Erfahrung tief ins »marranische« Gedächtnis einschrieb. Der Priester Alfonso Martínez aus Toledo hatte 1438 erstmals den Ausdruck »rraça«

zur Bezeichnung unveränderlicher Wesenszüge einer Abstammungsgemein-schaft verwendet.6 Damit hatte er eine Idee in die Welt gesetzt, die sich nur zwei Generationen später gegen die Juden (und die in Spanien verbliebenen Mus-lime) richten sollte. Nach heftigen antijüdischen Ausschreitungen wurde, um den Volkszorn der Altchristen einzuhegen und zugleich zu institutionalisie-ren, die Politik der limpieza de sangre verkündet, also der »Blutsreinheit«. Diese Politik, die erstmals ebenfalls in Toledo statuarisch festgehalten wurde, richtete sich gegen getaufte Juden, von denen es etliche zu Wohlstand und Ansehen ge-bracht hatten und die den Neid vieler Altchristen auf sich zogen.7 Conversos, so lautete der Vorwurf, seien dem Blut nach immer noch Juden und dürften des-halb nicht die gleichen Rechte haben wie die Christen. Obwohl hier eindeutig schon biologistisch argumentiert wurde8 – man berief sich vor allem auf Ga-lens Säftetheorie9 –, ist es wichtig zu beachten, dass Natur hier noch als un-mittelbar von Gott gemachte Ordnung galt, sich also religiöse und biolo gische Aspekte überlagerten. Die Bezüge auf das jüdische Blut sind in den entsprechen-den Texten vor allem mythischen Charakters und stellen eine Verbindung zwi-schen dem Anti-Christ und den vermeintlichen Gottesmördern her. Resultat des limpieza de sangre-Theorems war nicht nur die Verbrennung, Verfolgung

5 Zum Polygenismus La Peyrères vgl. Pietsch, Andreas Nikolaus: Isaac de La Peyrère:

Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts.

Berlin, Boston 2012, 94 f.

6 Vgl. Hering Torres, Max Sebastián: Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006, 219. Die etymologische Her-kunft des Wortes bleibt unklar. Einleuchtend ist die These Imanuel Geiss’, das Wort stamme vom arabischen ras ab, was genau wie das hebräische rosh sowohl »Kopf« als auch »Ursprung«

und »Anfang« bedeutet und laut Geiss im Kontext arabischer Genealogien auftaucht. Dass das Wort »Rasse« 1438 erstmals ausgerechnet im teilweise noch immer von den Muslimen beherrschten Spanien auftaucht, könnte Geiss’ Theorie bestätigen. Vgl. Geiss, Imanuel: Ras-sismus. In: Fischer, Gero/Wölflingseder, Maria (Hg.): Biologismus – Rassismus – Nationa-lismus. Rechte Ideologien im Vormarsch. Wien 1995, 91–107, hier 92.

7 Vgl. Fredrickson: Rassismus 35–52; Poliakov, Léon: Geschichte des Antisemitismus.

Bd. IV: Die Marranen im Schatten der Inquisition. Worms 1981, 82–97.

8 Vgl. Yerushalmi, Yosef Hayim: Assimilation and Racial Anti-Semitism: The Iberian and the German Models. New York 1982; Netanjahu, Benzion: The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain. 2. Aufl. New York 2001.

9 Vgl. Hering Torres: Rassismus 172–176.

Die Entstehung zivilisatorischer Differenz 83 und Ausgrenzung sogenannter Kryptojuden, sondern ein Klima der permanen-ten Verdächtigungen und Bespitzelungen, das allein schon Tausende zur Flucht bewegte.10

Das Bewusstsein, als »Marrane« verfolgt worden zu sein, blieb auch in den folgenden Generationen lebendig. Selbst für Familien, die bereits in dritter oder vierter Generation Christen waren, konnte dieser Hintergrund Teil  der eige-nen Identität bleiben.11 Für Isaac de La Peyrère traf dies mit Sicherheit zu. Sein Leben lang beschäftigte er sich überaus empathisch mit der Not der Juden – freilich von einem eindeutig christlichen Standpunkt aus. So nahm er die Idee auf, dass es zwei Sorten Menschen gebe, und wendete sie ins Positive: Die Ju-den sollten nun nicht etwa Abkömmlinge Satans sein, sondern besonders hei-lige, von Gott auserwählte Menschen. Bereits 1643 hatte La Peyrère seine Schrift Du Rappel des Juifs veröffentlicht, in der er darlegte, dass die Absonderung der Juden Teil eines göttlichen Heilsplanes sei. Am Ende der Zeiten träten die Ju-den kollektiv zum Christentum über und leiteten damit das messianische Zeit-alter ein.12 Soweit stimmte La Peyrère durchaus mit der offiziellen Kirchenlinie überein, allerdings verband er die religiöse Rechtfertigung der Ausgrenzung mit einem dezidierten Philosemitismus.13 Dieser drückte sich im Titel des Wer-kes unmissverständlich aus: Es warb – auch unter dem Eindruck des Toleranz-patents von Nantes, das ihn als Calvinisten ganz persönlich betraf14 – dafür, die Juden nach Jahrhunderten des Ausschlusses wieder nach Frankreich »zurück-zurufen«. Dementsprechend war das Buch auch dem französischen König ge-widmet. In seinen Schriften Prae Adamitae und Systema Theologicum, die 1655 in Amsterdam in einem Band veröffentlicht wurden, arbeitete La Peyrère seine messianische Theorie zum System aus. Beeinflusst von der protestantischen Gelehrtenkultur seiner Zeit15 stellte er die hermeneutische Frage, weshalb Gott Kain ein Zeichen auf die Stirn setze, wenn es doch keine anderen Menschen gab, die ihn hätten erschlagen können. Woher kam die Ehefrau Kains, wenn Adam doch laut biblischem Bericht keine Töchter hatte? Und wozu hütete Abel Schafe,

10 Vgl. Edwards, John: Die spanische Inquisition. Düsseldorf 2008, 74 f.

11 Vgl. Yovel, Yirmiyahu: The Other Within. The Marranos. Split Identity and Emerging Modernity. Princeton, Oxford 2009, 290 f.

12 La Peyrère, Isaac de: Du Rappel des Juifs. O. O. 1643. Vgl. Römer 11, 25–27.

13 Vgl. Parente, Fausto: »Du tort qu’ont les Chrestiens de persécuter les Juifs«. Quelques observations à propos du »philosemitisme« d’Isaac de La Peyrère. In: Tollet, Daniel (Hg.): Les textes judéophobes et judéophiles dans l’Europe chrétienne à l’époque moderne. Paris 2000, 51–62.

14 Vgl. allgemein zu dem Edikt Garrisson, Janine: L’Édit de Nantes. Chronique d’une paix attendue. Paris 1998.

15 Ob ihm auch Giordano Brunos Äußerungen über den mutmaßlichen präadamitischen Ursprung der Afrikaner geläufig waren, ist nicht bekannt. Vgl. dazu Graves, Joseph L.: The Emperor’s New Clothes. Biological Theories of Race at the Millennium. Newark 2003, 25.

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wenn er keine Diebe fürchten musste?16 Die einfache Antwort lautete: Nicht alle Menschen stammten von Adam und Eva ab, sondern nur die Juden. Geboren war die sogenannte präadamitische Theorie, nach der die Juden einen anderen Stammvater hätten als alle übrigen Völker.17 Doch dabei beließ es La Peyrère nicht. Vielmehr behauptete er, dass nur die Juden von Gott aus Lehm geschaffen worden seien, wie es der zweite Schöpfungsbericht erzähle18 – die Nichtjuden seien zusammen mit den Tieren nur durch das Wort auf die Welt gekommen.19 Daraus ergab sich seiner Ansicht nach, dass die Juden besonders perfekte, gött-liche Wesen seien, die alleine das Heil bringen können. Ludwig XIV. kam dabei die Aufgabe zu, als messianischer König die Juden ins gelobte Land Frankreich zu rufen, um damit den Heilszustand herbeizuführen, von dem die Propheten kündeten. So absurd diese Theorie klingen mag – und für Vertreter der Kirche tat sie das –, das anonym veröffentlichte Buch fand mit fünf Auflagen in kür-zester Zeit reißenden Absatz und stellte damit eine Gefahr für die herrschende Ordnung dar.20 Es wurde noch im November desselben Jahres verboten, und La Peyrère wurde solange unter Druck gesetzt, bis er 1657 abschwor und zum Katholizismus konvertierte.21 Als Beweis der Ernsthaftigkeit seines Übertritts widmete er seinen Rappel des Juifs um: Es war nun nicht mehr für den König, sondern für den Papst bestimmt.

Mit La Peyrères Konversion war die Angelegenheit offiziell bereinigt  – schließlich hatte er öffentlich kundgetan, dass er sich geirrt hatte. Doch wie es so oft mit revolutionären Ideen ist: Sie verschwinden nicht einfach. Die prä-adamitische Theorie wurde von La Peyrères Nachfolgern aufgegriffen, weiter ausgearbeitet und sollte in den folgenden Jahrhunderten eine wichtige Quelle der entstehenden Menschenrassentheorien darstellen.22 Wenn nicht alle Men-schen von einem Stammvater abstammten, dann war es nur folgerichtig, dass es verschiedene Menschentypen gab, die sich in biologischer und geistiger Hin-sicht qualitativ voneinander unterschieden.23

16 Vgl. Schoeps, Hans-Joachim: Philosemitismus im Barock. Religions- und geistes-geschichtliche Untersuchungen. Tübingen 1952, 4.

17 In seinen Untersuchungen über die Geschichte Islands (1644) und Grönlands (1647) hatte La Peyrère ebenfalls schon nach voradamitischen Völkern gesucht.

18 Genesis 2, 7.

19 Vgl. La Peyrère, Isaac de: Systema Theologica ex praeadamitarum hypothesi pars prima. Amsterdam 1655, 2.–4. Buch.

20 Vgl. Schoeps: Philosemitismus 3.

21 Vgl. Pietsch: Peyrère 20.

22 Vgl. Kidd, Colin: The Forging of Races. Race and Scripture in the Protestant Atlantic World, 1600–2000. Cambridge 2006, besonders 62–68; vgl. auch Fredrickson: Rassismus 54;

Poliakov: Rassismus 71 f.

23 Besonders heftig – und mit antijüdischer Schlagseite – verfocht Ende des 19. Jahrhun-derts der jüdische Sozialdarwinist Ludwig Gumplowicz den Polygenismus. Vgl. Lenhard, Philipp: Assimilation als Untergang. Ludwig Gumplowicz’ Judentum und die Frage des Anti-semitismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64/2 (2012) 105–116.