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Apologie eines umherirrenden Volkes

Apologie eines umherirrenden Volkes

Entgegen Elbogens Behauptung war allerdings Mendelssohns Beharren auf dem nationalen Charakter des Judentums bei gleichzeitiger Ablehnung seiner politi-schen Implikationen typisch für jene Zeit des Übergangs, die zwipoliti-schen der weit-hin unweit-hinterfragten Existenz eines am jisrael im traditionellen Judentum und dem lautstarken Versuch von Seiten des Staates und einer bestimmten Fraktion innerhalb des Judentums lag, es in eine »Glaubensgemeinschaft« zu verwan-deln. Das zeigt sich auch bei dem ursprünglich aus Polen stammenden Juden Zalkind Hourwitz, der etwa vierzig Jahre lang in Paris lebte und dort energisch für die Sache der Juden eintrat.40 In seiner preisgekrönten Schrift Apologie des Juifs, die er unmittelbar vor Ausbruch der Revolution veröffentlichte, kritisierte er zwar genau wie Mendelssohn den »Despotismus« der Rabbiner und erklärte die politische Einheit des Judentums in der Diaspora für ungültig. Gleichzei-tig aber verteidigte er emphatisch die Partikularität der Juden und sogar ihre besondere Beziehung zu Palästina.41 Dabei fällt besonders auf, dass er biswei-len sogar den Talmud als Quelle heranzog, seine Kritik an den Rabbinern sich also offensichtlich – genau wie bei Mendelssohn – nicht gegen die rabbinische Literatur und das Gesetz als solche, sondern gegen ihren Missbrauch richtete.

Prinzipiell jedoch hielt Hourwitz in seiner Apologie in gewissen Grenzen am traditionellen Judentum fest und wendete dessen geschichtliches Wesen gegen die Feinde der Emanzipation – allen voran Johann David Michaelis, der schon Mendelssohn attackiert hatte.42

Dabei bediente sich Hourwitz der neu aufgekommenen wissenschaftlichen Methode der Fußnote.43 Im Fließtext verteidigte er die Worte und Taten Mosis, bei dem er davon ausgehen konnte, dass auch Christen ihn verehrten; in den Fußnoten zog er Parallelen zur Situation der »modernen Juden«. Er fasste die Angriffe, welche die Bösartigkeit der Juden und ihre Abkapselung von den nichtjüdischen Völkern – zwischen religiösen und ethnischen Kollektiven un-terschied er genauso wenig wie seine Gegner – beweisen sollten, in drei Punkten

40 Hourwitz war 1740 in Lublin geboren, ging als Jugendlicher nach Berlin, wo er Men-delssohn und seinen Kreis kennenlernte. Von dort reiste er weiter nach Nancy, Straßburg und Metz (wo er bei Arjeh Leib ben Asher Ginsburg den Talmud studierte), um sich 1774 schließ-lich in Paris niederzulassen. Dort fand er eine Anstellung in der Bibliothèque royale. Vgl. Ber-kovitz: The Shaping 61.

41 Vgl. Malino, Frances: A Jew in the French Revolution. The Life of Zalkind Hourwitz.

Cambridge 1996, 36, 49, 53.

42 Vgl. Ruth-Löwenbrück, Anna: Johann David Michaelis und Moses Mendelssohn. Ju-denfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. In: Albrecht, Michael u. a. (Hg.): Moses Mendels-sohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Berlin 1994, 315–332.

43 Zur Entstehung der Fußnote in Frankreich vgl. Grafton, Anthony: Die tragischen Ur-sprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995, 189–220.

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zusammen: 1. Die Juden zögen ihre eigene Nation den anderen Nationen vor.

2. Die Juden dürften nicht gemeinsam mit Nichtjuden speisen und keine Ange-hörigen anderer Nationen heiraten. 3. Die Juden hätten Palästina erobert und dort ein Massaker an den Nichtjuden angerichtet.

Dem ersten Anwurf begegnete er zunächst mit der rhetorischen Frage, wel-che »antike oder moderne Nation sich denn nicht in irgendeiner Weise reli-giöse oder politische Überlegenheit gegenüber allen anderen zuschreibt«44, und verwies damit auf den Umstand, dass jedes Kollektiv auf dem Glauben an die eigene Einzigartigkeit basiert. Beginnend mit den Griechen und ihrer Unter-scheidung von den sogenannten Barbaren arbeitete er sich in einer zweiseitigen Ausführung bis zur Gegenwart vor, bis zu den Vorurteilen der Franzosen gegen-über den Deutschen und dem Absolutheitsanspruch von Christentum und Is-lam. Damit hatte er gewissermaßen Gleichstand geschaffen: Auch die Franzo-sen waren von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt – woher also nahmen sie sich das Recht, genau dies den Juden vorzuwerfen? Das Argument war mutig, doch Hourwitz ging in seiner Kühnheit sogar noch einen Schritt weiter, indem er Gründe dafür anführte, warum die antiken Juden zurecht davon ausgegan-gen seien, dass ihre Nation respektive Religion – ganz traditionalistisch waren diese beiden Pole für ihn, ebenso wie für Mendelssohn, untrennbar miteinander verknüpft – den anderen überlegen war: Moses habe die anderen Nationen ver-achtet, weil diese Idolatrie betrieben, Menschenopfer dargebracht und in inzes-tuösen Verbindungen gelebt hätten.45 Er führte an dieser Stelle nicht weiter aus, was das für die Beziehungen der modernen Juden zu den anderen Völkern be-deute, aber er machte klar, dass die Juden die ersten gewesen seien, die sich von diesen heidnisch-barbarischen Praktiken abgekehrt hätten und insofern allen Grund hätten, auf ihre Geschichte stolz zu sein.

Mit dem zweiten Vorwurf tat er sich schwerer, musste er doch einräumen, dass den Juden zahlreiche Speisen verboten sind. Trotzdem gebe es kein Ver-bot, mit Christen zusammen zu speisen, solange der Jude nur koscher zuberei-tete Nahrung zu sich nehme; und auch Vermählungen mit »fremden Frauen«46 seien ursprünglich nicht verboten gewesen, schließlich hätten David und viele andere »fromme Könige« Frauen aus umliegenden Völkerschaften geheiratet.

Allerdings – so schränkte er in einer zugehörigen Fußnote ein – versagten sich die modernen Juden aus Angst vor den Beschwerlichkeiten, die aus einer solchen Be-ziehung resultieren, die Hochzeit mit allen Fremden, wegen ihrer [der Juden] Absti-nenz bezüglich bestimmter Lebensmittel und auch bezüglich ihrer menstruierenden Frauen47.

44 Hourwitz: Apologie 50.

45 Vgl. ebd. 51.

46 Ebd. 53.

47 Ebd. 52 f, Fußnote 2.

Apologie eines umherirrenden Volkes 129 Der Hinweis auf die weibliche Regelblutung erfolgte völlig unvermittelt und Hourwitz erklärte auch nicht, wieso diese ein Problem für die Ehe mit Nicht-juden darstellen sollte. Es scheint naheliegend, diese Bemerkung auf die hala-chischen Bestimmungen der toharot ha-mishpachah (»Familienreinheit«) zu beziehen48, allerdings schließen diese – entgegen Hourwitz’ Aussage – ohnehin eine Ehe mit Nichtjuden aus.49 Es bleibt ein nicht weiter erörterter Verweis auf rituelle Reinheitsvorschriften, die eine Ehe mit Nichtjuden beschwerlich mach-ten. So sehr also Hourwitz vordergründig auch dem zweiten Vorwurf wider-sprach, so sehr gab er implizit dessen Berechtigung zu – und rechtfertigte damit die bestehenden Trennlinien zwischen Juden und Nichtjuden.

Dasselbe gilt für den dritten Vorwurf, der seit d’Holbachs aufsehenerregen-der Schrift Le christianisme dévoilé aus dem Jahr 1766 zum Standardrepertoire der aufklärerischen Judenfeindschaft gehörte.50 Auf die Anklage, die Juden hätten bei der Landnahme in Kanaan ein Massaker angerichtet, antwortete Hourwitz, Moses sei nicht der erste gewesen, der Palästina erobert habe.51 Aller-dings sei er der einzige Eroberer gewesen, dessen Tat wirklich gerechtfertigt sei, weil er die Pflicht gehabt habe, »sein umherirrendes Volk in irgendeinem Win-kel der Erde anzusiedeln«52 – und schließlich seien die anderen Völkerschaften in Palästina ebenfalls fremde Eroberer gewesen. Zudem sei Moses – abgesehen von dem ursprünglichen Massaker bei der Landnahme, das Hourwitz freimütig einräumte – »gegenüber dem Rest der menschlichen Gattung der toleranteste und wohltätigste aller Gesetzgeber«53 gewesen. Die Niederlassung des jüdischen Volkes in Palästina sei also, folgt man Hourwitz, eine Wohltat für die Mensch-heit gewesen, das dazu erforderliche Massaker durch den Zweck gerechtfertigt.

Wieder trat Hourwitz den Feinden der vermeintlich »perversen und abscheu-lichen Rasse«54 selbstbewusst entgegen, nicht im Entferntesten zu Demut und Unterwürfigkeit bereit.

Wie wenig er sich davor scheute, mit offenen Karten zu spielen, zeigt sich auch in einem wenig später angefügten Anhang, in dem Hourwitz noch ein-mal auf Palästina einging. Entgegen den patriotischen Beteuerungen der real-politisch unter massivem Druck stehenden Gemeindeführer, dass die Juden

48 Vgl. dazu Meacham, Tirzah: An Abbreviated History of the Development of the Jewish Menstrual Laws. In: Wasserfall, Rahel R. (Hg.): Women and Water. Menstruation in Jewish Life and Law. Hanover 1999, 23–39, hier 32–36.

49 Vgl. etwa bKiddushin 68b.

50 Vgl. Holbach, Paul Henri Thiry de: Le christianisme dévoilé, ou examen des principes et des effets de la religion chrétienne. London 1766, 19 f.

51 Es ist unklar, warum hier Moses, nicht Josua als Eroberer auftritt.

52 Hourwitz: Apologie 53.

53 Ebd. 54.

54 Ebd. 58.

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Palästina nicht mehr als Heimatland ansähen und sich auch nicht danach sehn-ten, ins Heilige Land zurückzukehren, schrieb Hourwitz ganz offen:

Es stimmt, dass sie [die Juden] nicht glauben, dass sie für immer in den Ländern blei-ben werden, in denen sie jetzt leblei-ben, und dass sie auf die Ankunft eines Messias war-ten, der sie zurück nach Palästina bringt.55

Aber war das ein Grund, ihnen deshalb im Hier und Jetzt die Gleichberechti-gung zu verweigern? Hourwitz’ Apologie war in ihrem Gespür für die exklu-dierende Dynamik des entstehenden Nationalstaates und seiner Logik überaus hellsichtig. Er sah genau, dass den Juden ein Bekenntnis zum französischen Va-terland und eine Abgrenzung von der eigenen ethnischen Identität abverlangt wurde, aber er war nicht bereit, diesen Weg mitzugehen, weil Menschenrechte seiner Ansicht nach universell waren. In dieser Anschauung erwies er sich als Kind der Aufklärung und es ist erklärlich, warum dieser selbstbewusste pol-nisch-französische Jude sich kurze Zeit später an der großen Revolution betei-ligte.56 Seine Verteidigungsschrift bezog Partei für die Juden als Religionsnation und – parallel dazu – für jedes einzelne Individuum, dem sein natürliches Recht auf Gleichheit vorenthalten wurde. Er forderte keine Gleichberechtigung für das Judentum als Gemeinschaft, weil ein solcher, im Grunde noch ständisch gepräg-ter Rechtsbegriff seinem aufgeklärten Bewusstsein fundamental widersprach;

vielmehr war es ihm um die Gleichheit jedes Menschen – ob Jude oder nicht – zu tun. Aber diese egalité schloss für Hourwitz, anders als für den bereits zitier-ten Clermont-Tonnerre, die Möglichkeit ein, französischer Staatsbürger und Angehöriger der jüdischen Nation gleichzeitig zu sein. Niemand musste, so Hourwitz’ Vorstellung, seine Zugehörigkeit zu seiner ethnisch-religiösen Ge-meinschaft verleugnen, um von einem Staat, der über den Bürgern thronte und sie nur als Exemplare eines abstrakten Gattungswesens Mensch betrachtete, mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet zu werden.

Die gefährliche, weil schon im Ansatz repressive Frage, wer denn zur Nation gehöre und wer nicht, war, wie wir schon bei Sieyès gesehen haben, von Beginn an mit der Vorstellung einer völkisch-naturhaften Substanz verbunden, die als ebenso willkürliches wie scheinbar evidentes Kriterium fungierte. Dies galt nicht nur für den so oft als völkisch herausgestellten deutschen Nationalismus im Gefolge der napoleonischen Besatzung. Auch das revolutionäre Frankreich definierte Staatsbürgerschaft, trotz aller voluntaristischen Bekenntnisse, nicht nur über den Geburtsort (ius soli), sondern gleicherweise über die Abstammung (ius sanguinis). Der Artikel 2 der Französischen Verfassung von 1791 statuierte, Staatsbürger seien

55 Ebd. 77.

56 Vgl. Malino: A Jew 60–85.

Apologie eines umherirrenden Volkes 131 diejenigen, welche in Frankreich von einem französischen Vater gezeugt sind; die-jenigen, welche in Frankreich von einem ausländischen Vater gezeugt sind und ih-ren Wohnsitz in Frankreich aufgeschlagen haben; diejenigen, welche im Ausland von einem französischen Vater gezeugt sind, aber nach Frankreich gekommen sind und sich hier niedergelassen und den Bürgereid geleistet haben; endlich diejenigen, welche in der Fremde geboren sind und, in welchem Grade es auch sei, von einem Franzo-sen oder einer Französin abstammen, die um ihrer Religion willen vertrieben wurden und nach Frankreich zurückkehren, um hier zu wohnen und den Bürgereid leisten.57 Es ist kein Zufall, dass alle diese Bestimmungen auf Geburt und Abstammung rekurrieren, auch wenn nur drei der vier Definitionen sich nebulös auf eine wie-derum undefinierte »französische« Abstammung beziehen und die zweite De-finition selbst dann zur Anerkennung der Mehrheit der in Frankreich lebenden Juden als Staatsbürger hätte führen müssen, wenn diese als Angehörige eines fremden Volkes betrachtet worden wären.58 Gleichwohl blieb die Nation eine exklusive Gemeinschaft, die eindeutig zu definieren versuchte, wer ihr ange-hörte und wer nicht. Und die Tatsache, dass diese Angehörigkeit primär über Abstammungsverhältnisse legitimiert wurde, setzte all jene, die wiederum auf ihrer Partikularität bestanden, dem Verdacht aus, sie bildeten einen »Staat im Staate«, eine fremdartige »Kolonie«. Zalkind Hourwitz stand keineswegs allein in dem Bemühen, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte noch mehr zu kon-fundieren, als es die revolutionäre Verfassung ohnehin schon tat, und damit den Bruch zwischen diesen beiden Abstrakta zu kitten.59 Freiheit, Gleichheit, Brü-derlichkeit sollte den Individuen nicht aufgrund ihrer Vorfahren, sondern bloß ob ihres Menschseins zukommen. Was sie im Einzelnen glaubten, mit wem sie

57 Französische Verfassung vom 3. September 1791. Entnommen von: http://www.verfas sungen.eu/f/fverf91-i.htm (letzter Zugriff: 15. März 2014).

58 Hourwitz dagegen wurde aufgrund dieser Bestimmungen die Staatsbürgerschaft ver-weigert, obwohl er, wie er sarkastisch erklärte, »in direkter Linie ein Abkömmling Adams«

sei. Hourwitz, Zalkind: Paris, le 9 janvier 1791. In: Chronique de Paris 12 (12. Januar 1791) 45 f, hier 45. Vgl. dazu auch Girard: La révolution 182 f.

59 Der kategoriale Bruch zwischen Mensch- und Staatsbürgersein kommt auch in der Er-klärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 zum Ausdruck, welche die merkwürdig paradox klingende Formulierung »droit de l’homme et du citoyen« verwendet und bereits in der Präambel zwar von »natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechten der Menschen« spricht, den justiziablen Anspruch auf Durchsetzung dieser Rechte aber dem

»Bürger« vorbehält (Artikel 6 und 7; Hervorhebungen vom Verfasser). Die Konzeption geht auf Rousseau zurück. Vgl. Ehlers, Niels: Der Widerspruch zwischen Mensch und Bürger bei Rousseau. Göttingen 2004. Noch deutlicher, allerdings in eine wesentlich ständisch geprägte Verfassung eingespannt, wird die Unterscheidung im Preußischen Landrecht von 1794, das in Teilen zugleich eine Reaktion auf die französische Erklärung darstellte. Vgl. Schwennicke, Andreas: Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794.

Frankfurt a. M. 1993, 51 f. § 1 lautet: »Der Mensch wird, in so fern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt.« Ein Mensch sei also, so die Tautolo-gie, nur ein Rechtssubjekt (eine Person), wenn er über Rechte verfüge.

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verwandt waren, welche Bräuche sie pflegten, welche Sprache sie sprachen und welche Erinnerungen sie pflegten, das war für die Frage der Gleichberechtigung aus Hourwitz’ naturrechtlicher Sicht vollkommen irrelevant.